Veröffentlicht am: 12.06.2024 um 18:16 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei einem Abendessen mit den Mitgliedern des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste
» Sie alle haben den Großteil des heutigen Tages gemeinsam im Konzerthaus am Gendarmenmarkt verbracht, bei der jährlichen Frühjahrstagung des Ordens Pour le mérite. Und es ist Tradition, dass der Bundespräsident als Protektor des Ordens an dieser Sitzung teilnimmt, und es ist tatsächlich noch nicht so oft vorgekommen, dass der Stuhl des Protektors freigeblieben ist.
Heute allerdings ist ein solcher seltener Fall eingetreten, und das hat leider einen ernsten und traurigen Hintergrund. Ich bin erst am Freitag aus Mannheim zurückgekommen – nach Gesprächen mit den Angehörigen des ermordeten Polizisten und einer Gedenkfeier. Am vergangenen Sonntag habe ich zum Gedenken an den ermordeten Walter Lübcke bei einer großen Veranstaltung in Kassel erinnert; jetzt eben vor einer Stunde bin ich aus Köln zurückgekommen, wo ich an der Gedenkfeier für Opfer eines rechtsextremistischen Terroranschlags in der Keupstraße teilgenommen habe. Das ist in der Tat schon 20 Jahre her, dass dort, mitten in einer Einkaufsstraße mit vielen türkischen Geschäften, eine Nagelbombe detonierte, die Terroristen des selbsternannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) vor einem Friseursalon deponiert hatten. 22 Menschen wurden damals verletzt, viele von ihnen auch schwer. Sie alle, aber auch Angehörige und Nachbarn leiden, das war heute sichtbar in den Gesprächen, bis heute unter den Folgen des Anschlags – so wie natürlich all jene, die um die zehn Menschen trauern, die von den NSU-Terroristen in ganz Deutschland ermordet wurden.
Es war wichtig, oder ich könnte auch sagen: Es war notwendig, heute in Köln zu sein, nicht nur, um den Opfern des Anschlags und den Angehörigen der Opfer Anteilnahme auszusprechen; auch nicht nur, um den Bewohnern des Viertels in Köln zu zeigen, dass sie mit ihrer Trauer, mit ihrem Schmerz nicht allein sind; sondern eben auch, um gerade in dieser Zeit die Botschaft zu hinterlassen, dass wir der Verrohung der politischen Umgangsformen in unserem Lande entgegentreten müssen, dass wir uns an Gewalt in der politischen Auseinandersetzung niemals gewöhnen dürfen. Ich bin und bleibe davon überzeugt: Gewalt zerstört Demokratie. Und deshalb müssen wir, gerade bei solchen Gelegenheiten, bei solchen Erinnerungen und Gedenken, versuchen, deutlich zu sagen, dass wir Gewalt ächten müssen, ganz gleich, aus welcher politischen Motivation heraus sie sich speist, ob der Rechts- oder Linksextremismus ist oder religiöser Fundamentalismus, am Ende kommt es nicht darauf an. Wenn Gewalt die politische Auseinandersetzung beherrscht, dann wird die Demokratie degenerieren.
Diese Vorrede nur, weil meine beiden Termine heute nicht unterschiedlicher hätten sein können: vorhin die Erinnerung an den menschenverachtenden Terror und nun die Würdigung von Wissenschaften und Künsten. Und das ist – wenn Sie so wollen, etwas pathetisch – der schroffe Kontrast zwischen Gewalt und Kultur, zwischen Barbarei und Zivilisation, der meinen heutigen Tag bestimmt.
Das ist natürlich nur ein Zufall, dass die Gedenkfeier heute am frühen Nachmittag und dieses Abendessen auf dasselbe Datum gefallen sind. Aber ich finde trotzdem, dass dieser Zufall uns etwas vielleicht Grundsätzliches über unsere Zeit erzählt. Denn die Gleichzeitigkeit, das Nebeneinander, vielleicht sogar das Gegeneinander von zerstörerischer Gewalt und schöpferischer Kultur können wir gerade vielerorts und nicht nur in Deutschland beobachten.
Verstörende Ausbrüche von Gewalt werden in diesen Zeiten zu einem prägenden Merkmal unserer Gegenwart. Und ich denke da nicht nur an den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, auch nicht nur an den Terroranschlag der Hamas auf Israel, auch nicht nur an den Krieg im Nahen Osten. Sondern ich denke auch an rechtsextremistisch oder islamistisch motivierten Terror. Ich denke an den beinahe schon alltäglich gewordenen Hass, der unsere Gesellschaft durchzieht, sowieso im digitalen Raum, aber mehr und mehr auch auf Straßen und Plätzen. Und ich denke an Beleidigungen und Herabwürdigungen, an körperliche Angriffe auf Andersdenkende, Andersgläubige, Anderslebende, aber mehr und mehr auch auf Repräsentanten des demokratischen Staates, aber – ich hoffe, Sie haben es nicht selbst erlebt – auch Angriffe auf Wissenschaft und Kultur, zusammengefasst: Angriffe auf all jene, die das verkörpern und verteidigen, was wir die Zivilisation nennen.
Die Faszination der Gewalt, die Lust an der Enthemmung und am Überschreiten von Grenzen, die wir heute an so vielen Orten der Welt beobachten – all das wirkt auf mich manchmal geradezu wie eine Aufwallung gegen das zivilisatorische Prinzip, dass es überhaupt Regeln für unser Zusammenleben gibt. Diese gegenwärtige, ja fast allgegenwärtige Gewalt macht uns heute wieder sehr bewusst, dass die Zivilisation, wie Bärbel Bohley vor langer Zeit einmal gesagt hat, eine dünne Haut ist, die jederzeit zerreißen kann.
Und einmal mehr stehen wir vor der großen Frage, wie wir diese dünne Haut schützen und pflegen können, wie es möglich ist, die Zivilisation zu bewahren und zu stärken. Das Gewaltverbot durchzusetzen, die Gewalttäter zur Rechenschaft zu ziehen, das ist Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates. Aber das allein, Sie alle wissen das, reicht nicht aus. Ich sage das hier, weil es nicht zuletzt auch Wissenschaften und Künste sind, die nach meiner festen Überzeugung den Boden dafür bereiten, dass Zivilisation wachsen und gedeihen kann.
Sie sind eben auf dem Weg hierher im Parterre am Salon Voltaire vorbeigegangen. Den gibt es noch nicht sehr lange. Ich habe die Umwidmung und Neubenennung dieses Raumes vor knapp drei Jahren vorgenommen, um der Zeit der Aufklärung, auch der preußischen Aufklärung, auch hier einen sichtbaren Ort am Amtssitz des Bundespräsidenten zu geben. Seit ein paar Wochen stellen wir dort ein kostbares Manuskript aus der Feder von Immanuel Kant aus, dessen 300. Geburtstag wir gerade gefeiert haben. Es handelt sich um die ersten Seiten seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“, in der Kant, Sie wissen das, ein zentrales Ziel formulierte: Alle Staaten sollen republikanisch verfasst sein und sich zu einem weltweiten Völkerbund zusammenschließen.
Auch wenn uns das nicht jeden Tag bewusst ist: Diesem Ideal am allernächsten kommt am ehesten die Europäische Union – als gemeinsames Projekt europäischer demokratischer Staaten, das Millionen Menschen jetzt schon seit mehreren Generationen Frieden und wachsenden Wohlstand gesichert hat. Und auch wenn diese Europäische Union ganz sicher – je näher man dran ist, umso mehr weiß man es – nicht perfekt ist, auch wenn wir wissen, dass sie weiterentwickelt werden muss: Wir dürfen nicht zulassen, dass sie stirbt, dafür hat sich Staatspräsident Macron bei seinem Staatsbesuch erst ganz kürzlich in Deutschland sehr, sehr stark gemacht. Ob sich die Hoffnung erfüllt, dass die Wählerinnen und Wähler sich heute mit Mehrheit für das Europa des Friedens, der Freiheit und Demokratie entscheiden, das werden wir später, im Verlaufe des Abends erfahren, wenn dann alle Wahllokale europaweit geschlossen haben und wir die Ergebnisse kennen.
Von einer weltweiten Friedensordnung jedenfalls, wie Kant sie sich vorstellte, sind wir heute weiter entfernt, als die meisten von uns, ich zähle mich dazu, sich das nach dem Ende des Kalten Krieges noch haben vorstellen können. Aber gerade jetzt, in Zeiten des Krieges, dürfen wir große Leitideen wie die von Kant nicht aus den Augen verlieren. Eine Weltordnung, die den Krieg wirksam ächtet, die universelle Menschenrechte schützt, eine Weltgemeinschaft, die den Kampf gegen die Klimakrise entschieden voranbringt, das muss unser Ziel bleiben, trotz aller Schwierigkeiten. Das muss unser Ziel bleiben, wenn Menschen, Flora und Fauna auf diesem Planeten eine Zukunft haben sollen!
Wenn wir Zivilisation bewahren und eine friedlichere, gerechtere, bessere Zukunft mitgestalten wollen, dann sollten wir uns immer wieder auch den berühmten kantischen Fragen zuwenden: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Und es sind eben insbesondere Sie, die Wissenschaften und Künste, auf denen die Hoffnung für tragfähige Antworten auf diese Fragen ruht. Sie sind es, Sie alle miteinander, die uns vor Augen führen, wozu Menschen fähig sind – und was es braucht, damit ein gutes Miteinander gelingen kann. Sie sind es, die uns die Welt mit anderen Augen sehen lassen, die uns Empathie lehren und uns zeigen, dass wir alle aufeinander angewiesen sind.
Sie sind es aber auch, die das widersprüchliche Verhältnis des Menschen zur Natur aufdecken – und uns Ideen und Lösungen für ein klimafreundlicheres Leben liefern. Sie sind es, die uns zum Nachdenken bringen, zum Umsteuern bewegen, gegen Menschenfeindlichkeit, Ungerechtigkeit und Gewalt aufbegehren lassen. Und Sie sind es, die die unterschiedlichen Menschen miteinander ins Gespräch bringen, in unserer Gesellschaft und darüber hinaus.
Und, nicht zuletzt, auch das will ich ohne Übertreibung sagen: Sie sind es, Wissenschaft und Künste, die mit ihrem Werk Halt geben und auch Mut machen. Und das auch, weil Sie uns immer wieder vor Augen führen, was Kant so formuliert hat: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ Ich finde, das ist einer der vielleicht schönsten Sätze von Kant, weil er uns daran erinnert, dass wir alles Menschliche und Menschengemachte, auch uns selbst, immer wieder kritisch prüfen müssen, und weil er uns zugleich vom lähmenden Perfektionismus entlastet und dadurch auch zum Handeln ermutigt.
Für die humane Kraft der Kunst und der Wissenschaft stehen auch die beiden neuen Mitglieder des Ordens Pour le mérite – natürlich auf ihre ganz eigene, herausragende Art: Lieber John Neumeier, lieber Heinrich Detering, wir freuen uns sehr, Sie heute Abend hier in diesem Kreis begrüßen zu dürfen – schön, dass Sie mit dabei sind!
Der heutige Tag mit den Ereignissen, die ich Ihnen ganz kurz geschildert habe, liegt hinter mir und auch hinter uns. Ich freue mich jedenfalls auf ein spannendes Abendessen mit Ihnen allen, und ich verspreche, bei der nächsten Frühjahrstagung werde ich wieder dabei sein. «
Quelle: Bulletin 54-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 11. Juni 2024