Veröffentlicht am: 06.08.2024 um 06:10 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung der Ausstellung mit dem Titel „Hand in Hand“ in der Galerie von Schloss Bellevue

Am 16. Juli 2024 in Berlin hielt Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Eröffnung der Ausstellung mit dem Titel „Hand in Hand“ in der Galerie von Schloss Bellevue folgende Rede...

» Drei Menschen und ein Schwein: Das soll der gegenständliche Inhalt der bis jetzt ältesten Szene der Kunstgeschichte sein, mindestens 51.200 Jahre alt – und damit mindestens 20.000 Jahre älter als Kunstwerke, die man lange Zeit für die ältesten der Menschheit gehalten hatte. Es ist erst wenige Tage her, dass diese aufregende Nachricht aus der Zeitschrift „Nature“ auch in einer deutschsprachigen Zeitung veröffentlicht wurde.

In Indonesien findet sich diese Höhlenmalerei auf der Insel Sulawesi. In welcher Beziehung zueinander das Sulawesi-Warzenschwein und die drei humanoiden Gestalten, wie sich der Artikel präzise ausdrückt, nun genau zueinander stehen, muss offenbleiben. Handelt es sich um eine Jagdszene oder im Gegenteil um die Darstellung einer Bedrohung durch das Tier?

Man kann aber wohl ohne Zweifel sagen, wie es auch in dem Zeitungsbericht steht: Dies ist nicht nur eine gegenständliche Darstellung, sondern eine ganze Szene in einem kunsthistorischen Sinne. Der Betrachter kann allein aus dem Bild auf eine Geschichte schließen, eine mögliche Handlung, die zwischen den Akteuren abläuft.

Sehr frühe Spuren dessen, was man als menschliche Kultur bezeichnen kann, sind wohl einerseits Spuren von offenbar rituellen Bestattungen. Und andererseits sind sehr frühe kulturelle Spuren in dem zu finden, was wir als Kunstwerke lesen können: Malereien in Höhlen, die Aspekte menschlichen Lebens und menschlicher Umwelt im Bild bannen – vielleicht, wenn auch nicht immer, ebenfalls mit rituellem Hintergrund. Der Mensch, wo er sich zu sich selber in ein Verhältnis zu setzen lernt, stellt sich selber, stellt seine Welt dar. Er stellt sich und seine Welt vor sich hin.

Wir werden nie erfahren, was im Inneren dieser so frühen Künstler und Gestalter wirklich vorgegangen ist, was dieses Gestalten ursprünglich initiiert und was das Gestaltete, was diese Malereien mit den Einzelnen und mit ihren Gemeinschaften gemacht hat. Aber durch die Kunst, dadurch, dass sie hinterlassen haben, was wir als Kunst lesen können, dadurch fühlen wir uns ihnen auf eine deutliche Weise nahe, ja sogar verwandt.

Seit mindestens 51.000 Jahren gilt also: Wo Menschen sind, da ist Kunst – da wird Kunst gemacht, da wird Kunst angeschaut. Kunst wird geschätzt, verehrt, bewundert, aber Kunst wird auch gebraucht und benutzt. Das Letztere klingt in manchen Ohren vielleicht nicht vornehm genug, aber es ist doch die Wahrheit: Kunst wird, auf welche Weise auch immer, gebraucht und benutzt. Und das tut ihr wahrscheinlich auch nicht weh. Denn es ist Teil der Wahrnehmung, um die sie ringt.

Und Kunst wird befragt, erprobt, es wird mit ihr experimentiert. Und andersherum: Wir lassen uns von Kunst infrage stellen. Gelegentlich kann sie auch tief verstören und zu einem neuen Blick auf die Welt ermutigen. Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész hat es einmal so ausgedrückt: „Die Kunst vermittelt Erleben, das Erleben der Welt und dessen ethische Konsequenzen. Kunst vermittelt der Existenz die Existenz. […] Mit weniger dürfen wir uns nicht zufriedengeben.“

Anders gesagt: Ohne Kunst können wir uns unser Menschsein, unser menschliches Leben gar nicht vorstellen. Darum gehört Kunst auch hierher, ins Schloss Bellevue, den Sitz des Staatsoberhauptes – nicht als offizielle oder offiziöse Staatskunst, nicht als Herrscherlob. Das alles war Kunst auch an und in Gebäuden der staatlichen Repräsentanz. Und das ist sie vielerorts nach wie vor. Aber auch nicht als schöne Zierde oder reine Dekoration zur Erhöhung der Feierlichkeit oder Ehrwürdigkeit oder zum Erzeugen eines schönen Scheins.

Nein, hier ist Kunst aus anderem Grund und mit anderem Ziel zu Gast: Kunst, und zwar zeitgenössische Kunst, hat hier in der Galerie immer wieder neu ihren Platz als Zeugin der Gegenwart, als gegenwartsbezogene Deutung der Wirklichkeit. Kunst soll hier verstanden werden als eigenständige Ausdrucksform, als Zeugnis eines individuellen Bezugs zur Welt, als Frage und Anfrage an die Besucherinnen und Besucher des Schlosses, als etwas, das vielleicht zu denken gibt.

Das kann ärgern oder provozieren, das kann aber auch trösten und ermutigen. Diesmal, so haben wir uns gedacht – gerade in den gegenwärtigen Krisen und Bedrohungen –, diesmal sollten die Gäste im Schloss von Arbeiten begrüßt werden, die möglicherweise Trost, möglicherweise Zuversicht, möglicherweise Ermutigung zum Ausdruck bringen, eine Einladung zu Solidarität und zur Suche nach Zusammenhalt, nach Verknüpfung und Gemeinschaftlichkeit.

In dem anfangs zitierten Artikel über die erste bekannte figürliche Kunst hieß es: Der Betrachter kann allein aus dem Bild auf eine Geschichte schließen. Bei der Kunst, die hier in Schloss Bellevue zu sehen ist, kann der Betrachter vielleicht eher in eine Geschichte verwickelt werden, indem er sich einlässt auf Assoziationen und Gedanken, zu denen diese Arbeiten einladen.

Mehr möchte ich jetzt selber nicht sagen. Ich bin nämlich dieser Kunst gegenüber auch nur Betrachter und nicht der Interpret, der die eine oder gar die gültige Bedeutung wüsste und erklären könnte oder sollte.

Ich möchte mich vielmehr bedanken, in erster Linie bei den beiden Kuratorinnen, Inka Gressel und Susanne Weiß, die uns jetzt auch ihre Auswahl erläutern werden und warum das Ensemble, wie es jetzt hier zu sehen ist, „Hand in Hand“ heißt.

Mein Dank gilt sehr herzlich den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern, einige sind ja hier: Heike Bollig, Andrea Büttner, Lenia Hauser, Olaf Holzapfel sowie René Heyer als Leihgeber von Hans Salentins „Handkasten“.

Und auch Ihnen allen, liebe Gäste, danke ich, dass Sie gekommen sind. Herzlich willkommen! «


Quelle: Bulletin 70-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 26. Juli 2024

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