Veröffentlicht am: 14.09.2024 um 12:41 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Gedenken an die Opfer des Anschlags vom 23. August in Solingen

Beim Gedenken an die Opfer des Anschlags vom 23. August hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier folgende Rede am 1. September 2024 in Solingen gehalten...

» So viel Schmerz. So viel Trauer. So viel Entsetzen. Die Worte fallen mir heute schwer – jedes Wort zu viel und doch zu wenig. Der Schmerz, das Entsetzen über das, was vor einer Woche hier in Solingen geschehen ist, gehen tief. Sie sind kaum zu ertragen.

Wir sind heute hier zusammengekommen, um gemeinsam zu trauern. Ich kann kaum ermessen, wir alle können kaum ermessen, was Sie, liebe Angehörige, liebe Freunde der Opfer, durchmachen, was Sie durchleiden müssen, durch welche Hölle Sie gehen. Sie haben vor einer Woche Ihre Liebsten auf die denkbar grausamste und brutalste Weise verloren – Eltern, Geschwister, Partnerinnen und Partner, Kollegen, Freunde. Drei Menschen ermordete der Täter kaltblütig und hinterrücks – drei Menschen, die, wie so viele andere auch, am vergangenen Wochenende hier auf dem „Festival der Vielfalt“ den 650. Geburtstag Ihrer Stadt Solingen feiern wollten, die meisten mit Freunden, Familie, die Musik hören, Begegnung suchen und ein paar unbeschwerte Stunden verbringen wollten. Diese drei Menschen wurden Opfer eines blutigen Terroranschlags eines Islamisten. Acht weitere verletzte er schwer. Ich bin erleichtert und dankbar, dass keiner von ihnen mehr in ernster Gefahr schwebt, und wünsche ihnen eine rasche und vollständige Genesung.

Es ist ein grauenvolles Verbrechen, das uns heute zusammenführt, begangen von einem Mann, der – nach allem, was wir wissen – bei uns Schutz suchte und fand und diesen Schutz so furchtbar missbraucht hat. Auch das ist unerträglich. In Ihrem Leben, liebe Angehörige, ist nichts mehr, wie es war. Lebenspläne, Träume, Wünsche, Gewissheiten sind zerstört worden – von einer Sekunde auf die andere. Es bleibt eine große Leere. Es bleibt der Schmerz, die Trauer, das Entsetzen. Und auch diejenigen unter Ihnen, die der Täter verletzt hat, werden den Schmerz, die Trauer und das Trauma mit sich herumtragen, manche vielleicht ein Leben lang. Ich habe gerade mit einigen von Ihnen sprechen können. Ich versichere Ihnen, Ihr Leid bewegt mich zutiefst. Und ich weiß, so geht es vielen hier in Solingen, in Ihrer Stadt, die schon einmal von einem mörderischen Anschlag so tief ins Mark getroffen wurde. Erst im vergangenen Jahr haben wir hier in diesem Konzerthaus gemeinsam getrauert und des grausamen Brandanschlags von 1993 gedacht, dem damals fünf Menschen zum Opfer fielen.

Liebe Angehörige, für Sie gibt es heute keinen Trost. Aber Sie sind mit Ihrem Schmerz nicht allein. Heute trauern wir gemeinsam und mit uns Menschen überall in Deutschland. Die Bluttat von Solingen galt uns allen. Sie trifft unser Land – ein freundliches, ein offenes, vielfältiges Land. Sie trifft unser Land im Innersten, in seinem Kern. Sie trifft uns in unserem Selbstverständnis als Nation, in der die Menschen trotz aller Unterschiede friedlich zusammenleben und zusammenleben wollen – Menschen, die schon seit Generationen hier leben, genauso wie diejenigen, die später hinzugekommen sind.

Genau darauf, genau auf diesen Kern zielte der Täter von Solingen in seinem Hass – wie schon Täter vor ihm, unter anderem der Täter vom Breitscheidplatz. Fanatische Islamisten wollen zerstören, was wir lieben: unsere offene Gesellschaft, unsere Art zu leben, unsere Gemeinschaft, unsere Freiheit. Es ist dasselbe zynische Kalkül, das auch die Mörder von Walter Lübcke und schon die Täter von Solingen vor 30 Jahren antrieb. So unterschiedlich die Ideologien sind, die hinter diesen Taten stehen, eines verbindet sie: Sie zielen auf unser Herz, unsere Freiheit, auf das, was uns ausmacht.

Fassungslos sind wir auch neun Tage nach der Bluttat dieses jungen radikalisierten Islamisten. Nach diesem so grausamen Verbrechen sind wir aufgewühlt, wütend, auch verzweifelt. Wir trauern und nehmen Anteil, aber ein Stück unseres Grundvertrauens ist erschüttert. Wir wollen stark sein und gefasst, aber viele fragen sich: Woher soll ich die Kraft jetzt nehmen? Wir wollen uns nicht von Extremisten aufhetzen lassen, aber der Schmerz, die Trauer und ja, auch die Wut sind so groß, dass sie uns mitunter überwältigen. Wir wollen nicht, dass das Kalkül von Terroristen aufgeht, dass ihre schreckliche Saat Früchte trägt, aber wir spüren Angst und Verunsicherung. Und beide haben ihren Grund.

Dennoch: Wir dürfen uns von der Angst nicht lähmen lassen. Denn genau das ist es, was islamistische Terroristen beabsichtigen. Sie löschen mit ihrem Terror Menschenleben aus. Aber terroristische Gewalt will uns auf Dauer in Panik halten, Hass in der Gesellschaft säen, die Vernunft erschüttern, auf der die Demokratie gründet. Sie setzt auf eine Eskalation der Gewalt. Terroristische Gewalt will uns als Gesellschaft entzweien. Mein inständiger Wunsch ist, gerade an diesem Tag der Trauer: Lassen wir das nicht zu! Lassen wir uns nicht auseinandertreiben und nicht gegeneinander aufhetzen. Stehen wir zusammen. Auch wenn unser Herz schwer ist, wenn wir verunsichert und verzweifelt sind: Seien wir stark und besinnen wir uns auf das, was uns ausmacht.

Bewahren können wir unsere Lebensweise, unser Leben in einer freiheitlichen Demokratie, unsere Offenheit dann, wenn der Staat sie wirksam schützt, wenn er Menschen vor Gewalt schützt. Dafür brauchen wir einen Staat, der gut funktioniert, der für unsere Sicherheit sorgt – wissend, dass es keine absolute Sicherheit geben kann. Aber wir müssen uns eingestehen: Hier in Solingen hat der Staat sein Versprechen auf Schutz und Sicherheit nicht einhalten können. Er steht deshalb in der Pflicht, dieses Verbrechen, auch Fehler und Versäumnisse, die dazu beigetragen haben könnten, dass diese heimtückische Tat nicht verhindert werden konnte, umfassend aufzuarbeiten.

Aber das reicht nicht. Es geht um viel mehr. Wir sind aus gutem Grund ein Land, das Menschen aufnimmt, die Schutz vor politischer Verfolgung und Krieg suchen. Wir vergessen nicht, dass im letzten Jahrhundert viele Deutsche die Zeit des Nationalsozialismus nur überlebt haben, weil andere Länder ihre Türen offen gehalten und Humanität gezeigt haben. Mit gutem Grund haben die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes, dessen 75. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, das festgeschrieben: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Wir wollen dieses Land bleiben und können es am Ende doch nur bleiben, wenn uns die Zahl derer, die ohne Anspruch auf diesen besonderen Schutz zu uns kommen, nicht überfordert. Und wir werden dieses Land nur bleiben, wenn Schutzsuchende sich an Recht und Gesetz unseres Landes halten. Nur dann werden wir die Akzeptanz in der Bevölkerung wahren können.

Auf eines kommt es jetzt an: Wir müssen jede Anstrengung unternehmen, um die Zugangsregeln, die es gibt und die, die wir gerade zusätzlich schaffen, umzusetzen. Das ist eine Riesenaufgabe. Und sie muss Priorität haben in den nächsten Jahren. Es bedarf – und darauf kommt es mir an – einer gesamtstaatlichen Kraftanstrengung. Das erwarte ich, das erwarten die Menschen in Deutschland, und zwar über parteipolitische Grenzen und staatliche Ebenen hinweg. Dafür stehen alle demokratischen Kräfte in unserem Land in der Verantwortung. Diese Kraftanstrengung ist auch deshalb notwendig, weil wir die Last für das Gelingen von Zuwanderung nicht bei den Menschen abladen dürfen, die schon jetzt alles dafür tun, um diese gewaltige Aufgabe zu schultern – die Mitarbeiter in den Städten und Gemeinden, die freiwilligen Helferinnen und Helfer, die Polizistinnen und Polizisten und alle, die schon länger an ihre Grenzen gekommen sind. Wir dürfen die Gutwilligen nicht überfordern.

Ich weiß, und das macht mir Mut: Die Mehrheit der Menschen in unserem Land will friedlich zusammenleben in einer Gesellschaft, die sich von Humanität leiten lässt und nicht von Hass und Menschenfeindlichkeit. Unsere Humanität zu wahren, aber gleichzeitig politische Gewalt zu ächten, das ist der Auftrag, den uns dieser Tag heute aufgibt. Seien wir wachsam. Handeln wir, wo Handeln geboten ist, aber bleiben wir einander zugewandt. Das sind wir den Opfern von Solingen schuldig. Heute ist ein Tag der Trauer – hier in Solingen und im ganzen Land. Wir stehen in Trauer vereint an der Seite der Menschen, die so Furchtbares erlitten haben. Ihr Schmerz ist unser Schmerz. Sie sind nicht allein! Solingen ist nicht allein! «


Quelle: Bulletin 76-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 4. September 2024

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