Veröffentlicht am: 30.10.2024 um 20:01 Uhr:
Köln: 70 neue Stolpersteine
» Am Montag, 4. November, und Dienstag, 5. November 2024, verlegt der Künstler Gunter Demnig an 20 Orten in Köln insgesamt 43 neue Stolpersteine. Darüber hinaus werden am Freitag, 8. November 2024, an sieben Orten 27 weitere Stolpersteine ohne Beteiligung Gunter Demnigs verlegt, darunter neun Steine, die vor dem Gebäude der Königin-Luise-Schule an ehemalige jüdische Schüler*innen des Gymnasiums erinnern. Die Verlegung resultiert aus den Ergebnissen biographischer Recherchen zu den Lebensgeschichten der Jugendlichen und ihrer Familien, die engagierte Schüler*innen der Schule seit vielen Jahren in Projektkursen mit ihrem Geschichtslehrer durchführen. Die Verlegung der neuen Steine vor dem Schulgebäude ist gleichzeitig dem Gedenken an den 85. Jahrestag des Novemberpogroms 1938 einen Tag später gewidmet.
Stolpersteine erinnern an Menschen, die durch das nationalsozialistische Regime verfolgt wurden. Die Mehrheit der kleinen Denkmale wird in Gedenken an Personen verlegt, die als jüdisch verfolgt und entweder in die Flucht getrieben oder in der Schoa ermordet wurden. Weitere Steine erinnern an einen Mann, der als homosexuell verfolgt wurde sowie eine Person, die wegen ihrer Suchterkrankung sowie angeblicher Bettelei und kleinerer Delikte von den Nationalsozialisten als "Asozialer" verfolgt wurde.
Die kleinen Mahnmale werden in der Regel vor den letzten freiwillig gewählten Wohnorten verlegt, in denen die Verfolgten vor ihrer Flucht oder Verhaftung lebten. Sie erinnern damit an das individuelle Schicksal der Menschen und werfen gleichzeitig Fragen nach Täter- und Mittäterschaft auf. Um einen Stolperstein verlegen zu können, braucht es engagierte Bürger*innen, die sich bereit erklären, eine kostenpflichtige Patenschaft für die Steine zu übernehmen. Auch in diesem Jahr haben sich wieder zahlreiche Einzelpersonen, Schulen und Vereine bereit erklärt, eine Patenschaft zu übernehmen. Die Initiative, einen Stolperstein verlegen zu lassen, geht in vielen Fällen von den Nachfahren der Verfolgten aus, die sich häufig bereits seit längerem mit ihrer Familiengeschichte befasst haben und mit den Steinen die Erinnerung an ihre Vorfahren als ehemalige Bürger*innen Kölns wachhalten möchten. Viele stehen darüber bereits seit langem in Kontakt zum NS-DOK, das sie bei ihren Recherchen unterstützt hat. Einige von ihnen werden auch in diesem Jahr eigens zu den Verlegungen nach Köln kommen.
Ulrich-Zell-Straße 2
Gedenkstein für Heinrich Bergers
Heinrich Bergers wurde 1890 im Kreis Neuss in eine kinderreiche Familie geboren. Nach der Volksschule half er zunächst in der elterlichen Landwirtschaft. 1913 nahm er eine Stelle bei der Reichspost in Köln an. Während des Ersten Weltkriegs war er an der Front eingesetzt und erlitt eine Kriegsverwundung. 1920 heiratete er die Witwe eines verstorbenen "Kriegskameraden". Die NS-Machtübernahme scheint zunächst keinen Bruch in Bergers Biografie herbeigeführt zu haben. Im Laufe der 1930er-Jahre wurde er jedoch von den Verfolgungskampagnen des Regimes gegen Homosexuelle erfasst. Ende der 1930er-Jahre geriet er zum ersten Mal in den Blick der Verfolgungsbehörden. Ihm wurde vorgeworfen, er habe während der Arbeit auf dem Postamt jüngere Arbeitskollegen angesprochen und "unsittlich berührt". Obgleich Bergers die Vorwürfe bestritt, verurteilte ihn das Kölner Landgericht im September 1939 wegen "Verführung männlicher Personen unter 21 Jahren" zu einem Jahr Gefängnis. Von einer härteren Strafe sahen die Richter zunächst ab, neben der angeordneten Haft war Bergers allerdings auch mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes bei der Post und von Pensionsansprüchen konfrontiert.
1942 erhielt Heinrich Bergers erneut eine siebenmonatige Gefängnisstrafe, nachdem er in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt angeblich einen Matrosengefreiten angesprochen und angefasst hatte. Nach Verbüßung der Strafe im Kölner Gefängnis "Klingelpütz" wurde Heinrich Bergers nicht mehr freigelassen, sondern im Januar 1943 an die örtliche Kriminalpolizei überstellt. Diese ordnete an, dass der Betroffene als "Homosexueller (Jugendverderber)" für unbestimmte Zeit in "Vorbeugungshaft" eingewiesen, also in ein KZ verschleppt werden sollte. Dass Bergers alle ihm vorgeworfenen Taten abstritt, änderte nichts an der Entscheidung. Er wurde noch im Frühjahr 1943 ins Lager Sachsenhausen eingewiesen. Seine Ehefrau beantragte zweimal die Freilassung, da sie Not leide und die Unterstützung ihres Mannes bräuchte. Dies wurde jedoch aus "sicherheitspolizeilichen Gründen" abgelehnt. Nach der Befreiung im April 1945 zog Bergers zurück an den Niederrhein. Er wurde zunächst als politisch Verfolgter anerkannt und erhielt als früherer KZ-Häftling finanzielle Unterstützung. Während er als Angehöriger eines Entnazifizierungsausschusses am Neuaufbau der Gesellschaft mitwirkte, versuchte er, mithilfe eines Wiederaufnahmeverfahrens gegen seine Verurteilungen in der NS-Zeit vorzugehen. Eine Rehabilitierung blieb ihm jedoch verwehrt, vielmehr war er erneuter Stigmatisierung ausgesetzt. Nachdem bekannt wurde, dass Bergers im NS-Regime "nur" wegen homosexueller "Verfehlungen" verfolgt worden war, wurde ihm der Status als politisch Verfolgter Ende 1949 wieder aberkannt. Von einer Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht war er ausgeschlossen.
Ehrenstraße 69
Gedenksteine für Herbert Spiegel, Margarethe Spiegel, geb. Frank, Leopold Spiegel, Rolf Richard Spiegel und Klaus Spiegel
Patin von zwei Steinen ist das Irmgardis-Gymnasium Köln.
Die jüdische Familie Spiegel lebte mehr als 30 Jahre in Köln, ehe sie Mitte der 1930er Jahre vor dem Terror der Nationalsozialisten nach Afrika floh. Ihr Lebensmittelpunkt war die Ehrenstraße 69. Dort eröffnete Herbert Spiegel, am 31. Mai 1881 in Kirchhörde bei Dortmund geboren, 1905/1906 eine Großschlächterei. Im Nachbarhaus Nummer 71 betrieb er eine Butterhandlung. Die Großschlächterei überstand die Wirren des Ersten Weltkriegs und die politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen der Nachkriegsjahre. In den 1930er Jahren beschäftigte Herbert Spiegel bis zu 100 Mitarbeiter*innen und betrieb mehrere Zweigstellen in Köln.
Verheiratet war er mit Margarete Frank, der ältesten Tochter von Ella und Leopold Frank. Sie wurde am 11. März 1888 in Hildesheim geboren und hatte drei jüngere Geschwister. Ihr Vater war Viehhändler und hatte in Hildesheim ein Geschäft. Margarete und Herbert Spiegel bekamen drei Kinder: Leopold, am 15. Juli 1911 in Köln geboren und benannt nach seinem Onkel Leopold Spiegel, Rolf Richard, geboren am 30. Juni 1914, und Klaus, am 22. Dezember 1919 geboren. Die Lebenswege der drei Söhne verliefen sehr unterschiedlich. Leopold begann 1931 nach seinem Schulabschluss im väterlichen Betrieb eine Metzgerlehre. Vermutlich sollte er als ältester Sohn das Unternehmen später übernehmen. Dazu sollte es jedoch nicht kommen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten geriet Herbert Spiegels Schlachtbetrieb zunehmend unter Druck, und 1935 flohen Leopold und Rolf Richard nach Südafrika. Rolf Richard Spiegel hatte in Köln das Schillergymnasium besucht und nach seinem Abitur ein Jahr in Berlin studiert.
Die übrige Familie verließ Deutschland 1936. Das Haus in der Ehrenstraße 69 war verkauft, die Metzgerei Spiegel geschlossen. Herbert, Margarete und Klaus Spiegel flohen zunächst nach Belgien, Klaus zog weiter in die Niederlande. Anfang 1939 emigrierten sie gemeinsam nach Mozambik. Während Klaus 1944 nach Palästina ging, ließen sich Herbert und Margarete Spiegel 1946 in Südafrika nieder. Dort starb Margarete Spiegel am 1. April 1961, Herbert Spiegel am 18. Januar 1972. Über das weitere Schicksal ihrer Söhne ist wenig bekannt.
Zur Verlegung reist eine größere Gruppe Angehöriger der Familie aus unterschiedlichen Generationen aus Kanada an.
Lindenstraße 21
Gedenkstein für Natalie Kraul, geb. Wertmann
Patin ist eine Kölner Bürgerin
Natalie Kraul überlebte dank einer Kölner Familie, die sie in ihrem Haus in der Eifel versteckte. Geboren wurde sie am 3. August 1881 in Bochum als Tochter von Siegmund und Emma Wertheim. Sie hatte fünf ältere Brüder und zwei Schwestern. Ihr Vater war Kaufmann. Als Natalie ein Jahr alt war, verlor sie ihre Mutter. Emma Wertheim hatte innerhalb von sieben Jahren ebenso viele Kinder zur Welt gebracht und starb vermutlich kurz nach der Geburt ihrer jüngsten Tochter Paula Emma. Wenig später heiratete der Vater ein zweites Mal, und 1883 wurde Natalies Halbschwester Maria geboren. Mitte der 1890er Jahre zog die Familie nach Köln und wechselte mehrmals die Adresse, ehe sie sich in der Cäciliengasse 46 niederließ.
Natalie Kraul wurde Modistin. Am 28. November 1907 heiratete sie den zwei Jahre jüngeren protestantischen Kaufmann Alfred Kraul aus Witten und zog mit ihm nach Netphen, eine Kleinstadt im Kreis Siegen-Wittgenstein. Dort führte das kinderlose Ehepaar viele Jahre gemeinsam mit Alfred Krauls Mutter Anna das Hotel "Jägerhof". 1931 überschrieb Anna Kraul den Betrieb und das dazugehörige Grundstück ihrer Schwiegertochter.
Sieben Jahre später musste Natalie Kraul den "Jägerhof" verkaufen. Neuer "arischer" Besitzer wurde der bisherige Pächter August Schubert, der 26.000 Reichsmark dafür bezahlte. Das Ehepaar hatte Netphen bereits im November 1937 verlassen und war nach Köln in die Lindenstraße 21 gezogen.Vermutlich hoffte Natalie Kraul, in der Anonymität der Großstadt weniger antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt zu sein als in einer Kleinstadt wie Netphen. Ihre Ehe mit einem Nicht-Juden schützte sie zunächst vor staatlichen Zwangsmaßnahmen. Doch am 2. Oktober 1940 starb Alfred Kraul, und Natalie Kraul musste zunehmend um ihre Sicherheit fürchten. Bis Ende 1943 lebte sie in der Lindenstraße. Dann floh sie zu Bekannten nach Gillenberg bei Kall in der Eifel. Natalie Kraul hatte das Ehepaar während eines Bombenangriffs auf Köln in einem Schutzbunker kennengelernt, und Clemens und Maria Ehlen hatten ihr angeboten, sie bei sich in der Eifel zu verstecken.
Mehr als ein Jahr lebte Natalie Kraul versteckt im Haus der Familie Ehlen. Nach dem Krieg blieb sie in Gillenberg wohnen. Dort starb sie am 5. September 1946 im Alter von 65 Jahren.
Der Stolperstein wird auf Wunsch einer Tochter der Familie Ehlen verlegt. Der Verlegung sind Recherchen der Synagogen-Gemeinde Köln in Zusammenarbeit mit dem NS-DOK zur Lebensgesichte Natalie Krauls vorausgegangen. «
Quelle: Pressemitteilung der Stadt Köln - Amt für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit - vom 30. Oktober 2024