Veröffentlicht am: 03.11.2024 um 11:56 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung des Jazzfestivals „Störenfriede: Jazz, Protest + Revolution“

Zur Eröffnung des Jazzfestivals „Störenfriede: Jazz, Protest + Revolution“ hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier in Leipzig am 20. September 2024 nachfolgende Rede als Videogrußwort gesandt

» Liebe Freundinnen und Freunde des Jazz, ein Staatsoberhaupt ist nicht das Erste, was man auf einem Jazzfestival erwartet. Damit Sie mich jetzt nicht etwa als Störenfried wahrnehmen, will ich eines gleich sagen: Ich spreche heute Abend auch als begeisterter Jazzfan zu Ihnen. Es ist kein Zufall, dass hier an meinem Amtssitz in Berlin öfter mal eine Jamsession stattfindet. In diesem Sommer waren großartige Jazzfrauen bei uns zu Gast.

Als klassische Jazzlocation würde man Schloss Bellevue wohl trotzdem nicht bezeichnen. Und dasselbe gilt auch für die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig. Aber Sie alle, liebe Musikerinnen und Musiker, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Sie alle machen diesen Ort des freien Wortes an diesem Wochenende zu einem Ort der freien Töne. Ich freue mich sehr, dass Ihr Festival in diesem Herbst, in dem sich die Friedliche Revolution zum 35. Mal jährt, an die vielfältige und renommierte Freejazzszene in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) erinnert – an eine Szene, die seit Anfang der 70er Jahre in der Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) einen ganz eigenen Sound der Freiheit verbreitete, einen Sound, der vielen Menschen Hoffnung auf ein anderes, ein freies und selbstbestimmtes Leben machte.

Die Freejazzkonzerte in Peitz, die Ulli Blobel und Peter Metag ins Leben riefen, prägten dieses Lebensgefühl in besonderer Weise. Menschen aus der gesamten DDR erlebten im Spreewald ein Happening – ein Happening, das nicht nur musikalische Grenzen überwand. Bei den Jamsessions traten Musiker aus der DDR und aus der Bundesrepublik auf. Manchmal standen sie sogar gemeinsam auf der Bühne. Stars wie Günter Baby Sommer, Ernst-Ludwig Petrowsky, Peter Brötzmann und Albert Mangelsdorff spielten mit Musikern aus Polen, der Tschechoslowakei, den USA, Italien oder sogar Japan zusammen.

Die improvisierte Musik, die im „Woodstock am Karpfenteich“ dort zu hören war, stand für Eigensinn und Unangepasstheit, für Offenheit und ein gleichberechtigtes Miteinander, für Begeisterung und Humor. Freejazz in Peitz, das war so etwas wie ein musikalischer Gegenentwurf zum Alltag im SED-Regime. Das war ein Aufspielen gegen die Enge, die Eintönigkeit der Diktatur, gegen Bevormundung und Gängelung, aber auch gegen Duckmäusertum und Gleichgültigkeit. Obwohl es keine konkreten politischen Botschaften gab, lagen Protest und Aufbruch in der Luft. Manche Musiker machten klar, dass sie Jazz als widerständige Musik verstanden. Manche führten die SED mit ironischen Anspielungen geradezu vor. Auch Anhänger der kirchlichen Friedensbewegung pilgerten nach Peitz. Und als das Regime die Konzerte de facto verbot, erhob sich Protest.

Die Geschichte des Kulturlebens in der DDR hat aber auch noch eine andere Seite. Wer in der SED-Diktatur künstlerische Freiräume öffnen und größere Konzerte veranstalten wollte, der musste notgedrungen mit dem Regime und der Stasi verhandeln. Manch ein Musiker, manch eine Künstlerin ließ sich als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) anwerben in der Hoffnung, sich dadurch Freiheit für die künstlerische Arbeit erkaufen zu können. Ob da im Einzelfall auch nicht so hehre Motive eine Rolle spielten, ob es mitunter zu unheilvollen Verstrickungen kam, das ist eine wichtige Frage. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie an diesem Wochenende genau hinschauen und historische Aufklärungsarbeit leisten wollen!

Die Jazzpolitik der SED changierte ständig zwischen Repression, Duldung und Förderung. Eines aber änderte sich bis zum Fall der Mauer nicht: Der Sound der Freiheit, der gerade den Freejazz auszeichnete, blieb dem Regime immer suspekt – und das zu Recht. Die spontane musikalische Begegnung, die freie Improvisation, das gleichberechtigte Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Musiker, all das prägte und bewegte viele Menschen. In Peitz und an vielen anderen Orten der DDR entsprangen damals viele kleine Rinnsale, die schließlich im großen Strom der Friedlichen Revolution zusammenflossen.

Das Freiheitspathos jener Zeit ist heute weitgehend verklungen. Aber ich finde, gerade jetzt, in einer Zeit, in der Freiheit und Demokratie in unserem vereinten Land wieder angegriffen werden, gerade jetzt sollten wir ein offenes Ohr für den Freejazz und das Lebensgefühl von Peitz haben. Denn dieses Kapitel der ostdeutschen Freiheitsgeschichte, das macht uns bewusst, dass wir auch heute Orte der Kultur brauchen, an denen wir selbstbewusste Individualität erleben können, aber auch das respektvolle Miteinander der Verschiedenen.

Deshalb freue ich mich, dass die Deutsche Nationalbibliothek das Archiv der Jazzwerkstatt Peitz in seine Bestände aufgenommen hat. Und ich wünsche mir, dass die Geschichte des Jazzfestivals gerade auch junge Menschen dazu inspiriert, neue Orte der Begegnung, des freien Wortes und der freien Töne zu schaffen – in Peitz, in Leipzig und an vielen anderen Orten unserer vereinten Republik.

Ich wünsche Ihnen allen einen wundervollen Jazzabend. Vielen Dank und herzliche Grüße nach Leipzig! «


Quelle: Bulletin 85-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 25. September 2024

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