Veröffentlicht am: 04.11.2024 um 12:38 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zum Auftakt eines Runden Tisches zu politisch motivierter Gewalt

Z um Auftakt eines Runden Tisches zu politisch motivierter Gewalt am 23. September 2024 hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier in Berlin folgende Rede gehalten

» Rostock-Lichtenhagen, die Keupstraße in Köln, der Breitscheidplatz, Hanau, Halle, Mannheim und zuletzt Solingen, zum zweiten Mal Solingen – die Namen dieser Orte haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Sie sind zu Chiffren für politische Gewalt geworden. Und das sind nur einige der bekanntesten Orte. Hinzu kommen viele andere Taten, die oft gar nicht die Titelseiten erreichen oder erreicht haben: Angriffe auf Wahlkämpfer oder Kommunalpolitikerinnen, Hasstaten gegen Jüdinnen und Juden, gegen Musliminnen und Muslime oder Sinti und Roma, Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten, auf Rettungssanitäter und Polizisten. Die Liste dieser Taten ist lang, viel zu lang. Und für all jene, die davon direkt betroffen waren, sind es keine Chiffren, ist es nicht abstrakt. Es sind Ereignisse, die ihr ganzes Leben verändert haben.

Liebe Gäste, Sie alle haben politische Gewalt unterschiedlichster Art erlebt. Wir möchten heute darüber sprechen, über die Folgen für Sie persönlich zuallererst, aber auch für unsere Gesellschaft, für unser Zusammenleben, für unsere Demokratie. Mir ist sehr bewusst, wie schwer solche Gespräche sind für Hinterbliebene und für an Leib und Seele verletzte Überlebende. Zuletzt habe ich in Mannheim und danach in Solingen mit einigen Menschen gesprochen, die bei dem islamistischen Terroranschlag ihre Liebsten verloren haben oder selbst schwerstens verletzt worden sind.

Ich bin mir bewusst: Einigen von Ihnen ist der Weg hierher nicht leichtgefallen. Und sicher fällt es manchem von Ihnen sehr schwer, öffentlich darüber zu sprechen, was Ihnen widerfahren ist und wie sehr sich Ihr Leben verändert hat. Umso dankbarer bin ich Ihnen allen, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie das auf sich nehmen. Seien Sie alle herzlich willkommen hier in Schloss Bellevue!

Bei manchen von Ihnen liegt die Gewalt, die Ihnen oder Ihren engsten Angehörigen angetan wurde, schon länger zurück. Manche von Ihnen haben sich ihre Erfahrungen und ihren Schmerz in Büchern vielleicht auch von der Seele geschrieben oder sie auch in Interviews öffentlich geteilt. Manche haben in der Öffentlichkeit bisher wenig darüber gesprochen, weil es noch zu schmerzhaft ist. Einige von Ihnen haben terroristische Gewalt erlebt und erlitten und Angehörige verloren. Andere wurden angegriffen und selbst verletzt. Und wohl jede und jeder von Ihnen wurde oder wird bedroht und angefeindet – oft direkt, mindestens über die sozialen Medien.

Die Unterschiede Ihrer Erfahrungen wollen wir mit diesem Runden Tisch heute nicht ausblenden. Ja, es gibt verschiedene Formen politischer Gewalt. Aber über eines sind wir uns hier in diesem Raum einig: Egal in welcher Form, egal von wem sie ausgeht, egal gegen wen sie sich richtet, politische Gewalt ist in der Demokratie niemals ein legitimes Mittel. Das muss Konsens in unserer Gesellschaft sein! Es ist notwendig, dass wir diesen Konsens neu bekräftigen, denn politisch motivierte Gewalt ist alltäglicher in Deutschland geworden. Und – ebenso schlimm, finde ich – auch die Akzeptanz von politischer Gewalt nimmt zu. 2023 stieg die politisch motivierte Kriminalität auf ein Rekordniveau – von Hakenkreuzschmierereien über Beleidigungen, Volksverhetzung und Bedrohungen bis hin zu körperlichen Angriffen und Mord.

Manchmal bleiben die Namen der Opfer in Erinnerung – wie der von Walter Lübcke, der Regierungspräsident von Kassel, der unbeugsam für Humanität und Menschenwürde eingetreten ist. Häufig aber konzentriert sich die öffentliche Aufmerksamkeit allzu sehr auf die Täter. Und häufig ist ein Anschlag noch gar nicht aufgeklärt, da zieht schon eine nächste Tat alle Aufmerksamkeit auf sich. Die Folge – wer wüsste das besser als Sie –: Die Opfer werden von der großen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen oder schnell wieder vergessen. Aber es ist wichtig – wie ich kürzlich bei der Gedenkfeier für Walter Lübcke gesagt habe –, dass die Opfer politischer Gewalt einen Ort in unserer Erinnerung haben und behalten. Das schulden wir ihnen.

Auch deshalb bin ich dankbar, dass Sie heute hier sind, denn bei Ihnen und all jenen, die alles direkt erlebt haben, schwindet die Erinnerung nicht. Einige tragen sichtbare Narben für den Rest ihres Lebens davon, sind körperlich eingeschränkt, können vielleicht ihren Beruf nicht mehr ausüben. Und manche tragen unsichtbare Narben, Narben auf der Seele, Narben, die schwer oder nie heilen. Deshalb soll es heute an diesem Runden Tisch vor allem um Sie gehen, um Ihre Erfahrungen mit politischer Gewalt. Und ich weiß, nicht nur mir ist es ein Bedürfnis, auch Sie wollen darüber sprechen, was politische Gewalt für uns als Gesellschaft bedeutet. Was können, was müssen wir dagegen tun?

Eins steht fest: Politische Gewalt trifft nicht jeden, aber sie betrifft uns alle. Sie bedroht unsere Art zu leben. Sie bedroht unsere Freiheit. Demokratie lebt davon, dass Auseinandersetzungen mit Respekt vor dem anderen geführt werden. Sie kennt den politischen Gegner, sieht in ihm aber nicht den Feind. Sie schützt die Minderheit, anerkennt aber die Mehrheit. Und beides geht nicht ohne die Bereitschaft zum Kompromiss. Und diese Grundregeln der Demokratie, die löscht politische Gewalt aus. Politische Gewalt zerstört die Demokratie.

Das passiert nicht über Nacht, sondern der Weg dahin ist schleichend: Wo wir unsere Sprache verrohen lassen, wo die Hemmschwelle sinkt, Hass zu verbreiten und ihn im Netz millionenfach zu teilen und zu liken, wo nur noch Schwarz und Weiß regiert, wo Unversöhnlichkeit einzieht in die Auseinandersetzungen, wo Menschen oder bestimmte Gruppen abgewertet und entwürdigt, die Institutionen der Demokratie verächtlich gemacht werden, dort beginnt die Erosion der Demokratie. Und wenn die großen Digitalunternehmen ihrer Verantwortung nicht nachkommen, schneller und entschiedener gegen Beleidigungen, Bedrohungen, gegen die Billigung von Straftaten vorzugehen, dann erodiert unsere Demokratie schon dort.

Mein Plädoyer: Bewahren wir eine demokratische Debattenkultur! Vor allem: Bewahren wir ein gesellschaftliches Klima, in dem Menschen keine Angst davor haben, politische Verantwortung zu übernehmen. Das gilt gerade auch in Städten und Gemeinden. Was im Netz gilt, gilt erst recht auf der Straße. Wenn wir schweigen und wegschauen, wenn jemand antisemitische Hetze betreibt, die Frau mit Kopftuch beleidigt, Politiker an den Galgen wünscht, Politikerinnen mit unerträglichen sexuellen Anfeindungen überzieht, dann befeuert das genau die, die beleidigen, bedrohen und zu Schlimmerem bereit sind. Erst wird gehatet – wie es heute heißt –, dann wird zugeschlagen. Aber eine Gesellschaft, in der sich politische Gewalt ausbreitet und die dabei schweigend zuschaut, ist bald keine demokratische mehr. Deshalb dürfen wir nicht zuschauen. Deshalb müssen wir die demokratische Debatte verteidigen. Deshalb müssen wir uns einmischen. Und deshalb rufe ich dazu auf: Ächten wir jede Form von politischer Gewalt!

Ich bin dankbar, dass Sie heute hier sind. Ehe wir unser Gespräch beginnen, möchte ich Sie alle kurz vorstellen. Zuerst möchte ich Sie, verehrte Frau Braun-Lübcke, begrüßen. Ihr Mann Walter Lübcke wurde vor fünf Jahren auf Ihrer Terrasse von einem Rechtsextremisten erschossen. Auslöser dieser kaltblütigen Tat war sein Engagement für die Aufnahme von Geflüchteten, sein Eintreten für die Werte unserer Verfassung. Sie, liebe Frau Braun-Lübcke, und Ihre Söhne haben immer wieder öffentlich appelliert, demokratische Werte zu leben und zu verteidigen, sich nicht zurückzuziehen. Seien Sie ganz herzlich willkommen!

Und ich begrüße Sie, sehr geehrte Frau Passin. Sie sprechen für die Hinterbliebenen der Opfer des islamistischen Anschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz. Wir sehen uns nicht zum ersten Mal. Wir haben darüber gesprochen, dass Ihr Vater Klaus Jacob getötet wurde und was das für Ihre Familie und Sie persönlich bedeutet hat. Danke, dass Sie gekommen sind!

Ebenso begrüße ich Sie, lieber Herr Hashemi! Wir sind uns auch schon begegnet. Sie haben 2020 schwer verletzt den rassistischen Anschlag von Hanau überlebt, bei dem Sie Ihren jüngeren Bruder Said Nesar und mehrere Freunde verloren haben. Seitdem setzen Sie sich für die Hinterbliebenen ein und haben gerade in einem Buch den Anschlag mit seinen Folgen zu verarbeiten versucht. Ob das gelingt, darüber werden Sie uns Auskunft geben. Herzlich willkommen!

Ein herzliches Willkommen auch Ihnen, lieber Herr Shapira! Sie stammen aus einer jüdischen Familie und studieren an der Freien Universität Berlin fürs Lehramt. Im Februar dieses Jahres wurden Sie von einem Kommilitonen krankenhausreif geprügelt. Auslöser der antisemitischen Tat waren jüngste Entwicklungen im Nahostkonflikt.

Ich begrüße herzlich Katrin Habenschaden aus München. Sie waren für Bündnis 90/Die Grünen im Stadtrat und zweite Bürgermeisterin der bayerischen Landeshauptstadt. Vor knapp einem Jahr legten Sie Ihr Amt nieder. Ein Grund für Ihren Rücktritt war auch der rauer werdende Umgang mit Politikerinnen und Politikern auf kommunaler Ebene. Wir haben viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen zu Gast gehabt in den letzten Jahren, die das auch bestätigen. Heute werden Sie von diesen Umständen und Ihren Erfahrungen berichten.

Und ich heiße Franziska Klemenz willkommen. Sie sind als Journalistin bei Table.Media tätig. Zuvor haben Sie für die Sächsische Zeitung über sogenannte Querdenkerdemos und die AfD berichtet. Sie erhielten immer wieder sexualisierte Gewaltandrohungen, vor allem über die sozialen Medien. Danke, dass Sie gekommen sind.

Herzlich willkommen heiße ich auch Andreas Schumann aus Magdeburg. Sie waren jahrelang für die CDU in der Kommunalpolitik tätig und sind seit 2016 Abgeordneter im Landtag von Sachsen-Anhalt. Ihr Wahlkreisbüro wurde mehrmals angegriffen. 2023 wurde sogar darauf geschossen.

Bei uns ist auch Kim Pfuhl. Sie sind Polizistin in Köln und wurden bei einem Einsatz bei den Demonstrationen gegen den AfD-Parteitag in Essen verletzt. Seien auch Sie herzlich willkommen!

Und schließlich begrüße ich den SPD-Europaparlamentarier Matthias Ecke aus Sachsen. Sie wurden im Europawahlkampf in diesem Jahr von vier Männern angegriffen und schwer am Kopf verletzt. Ich begrüße auch Sie sehr herzlich.

Ihnen allen noch einmal meinen großen Dank, dass Sie – trotz aller Verschiedenheit von Tathintergrund und Tätern – gemeinsam an diesem Tisch Platz nehmen und gemeinsam ein Zeichen setzen: gegen politische Gewalt und für unsere Demokratie!

Ich freue mich, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen! «


Quelle: Bulletin 85-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 25. September 2024

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