Veröffentlicht am: 15.11.2024 um 23:41 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Staatsbankett zu Ehren des Präsidenten der Italienischen Republik, Sergio Mattarella

Am 27. September 2024 hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier in Berlin zu Ehren des Präsidenten der Italienischen Republik, Sergio Mattarella, nachfolgende Rede gehalten

» Im Februar 1787 reiste ein junger Mann nach Neapel und von dort aus weiter nach Sizilien. Seinen Papieren zufolge trug er den Namen Milleroff. Als er vier Monate später nach Rom zurückkehrte, ließ er den Reisepass auf seinen echten Namen ausstellen: Giovanni de Goethe di Weimar.

Ich glaube, dieses kleine Detail war kein Zufall, im Gegenteil. Auf seiner italienischen Reise fand Johann Wolfgang von Goethe aus einer künstlerischen Krise. Und er fand wieder zu sich selbst. Er steht damit vielleicht als Erster in einer langen Reihe von Deutschen, die von sich sagen würden: Erst durch die Begegnung mit Italien bin ich zu dem geworden, was ich bin.

Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Sergio, ich freue mich, dass ich Ihnen heute zu Beginn Ihres Staatsbesuchs die Faksimiles der beiden italienischen Reisepässe von Goethe als kleines Gastgeschenk überreichen konnte. Sie sind, finde ich, ein ganz besonderes Symbol für die Jahrhunderte währende Anziehungskraft und Verwobenheit unserer beiden Länder. Kaum ein anderes Land hat Deutschland, unsere Kultur, unsere Lebensart so sehr beeinflusst wie Italien.

Unsere tiefe Freundschaft hat uns geprägt. Das gilt für viele meiner Landsleute – und auch für mich persönlich. Ich bin besonders dir, lieber Sergio, zutiefst dankbar für unsere Freundschaft, für deine Offenheit, unseren regelmäßigen Austausch. Du beeindruckst mich immer wieder mit der Unbestechlichkeit deiner Analysen, der Klarheit deiner Positionen und einem Kompass, der immer und unbeirrt nach Europa weist. Wir freuen uns riesig, dass Sie hier sind. Herzlich willkommen zu diesem Staatsbesuch, herzlich willkommen in Schloss Bellevue!

Auch Sie, lieber Herr Präsident, sind Deutschland schon lange verbunden. Ihre, unsere gemeinsame Leidenschaft für das Verfassungsrecht führte Sie schon Ende der 1970er Jahre erstmals nach Deutschland, genauer gesagt nach Westberlin. Für eine juristische Konferenz machten Sie sich auf den Weg über die Alpen, auf den gleichen Weg, den 20 Jahre zuvor schon Hunderttausende Italienerinnen und Italiener genommen hatten, die zum Arbeiten nach Deutschland gekommen waren und von denen viele – zu unserem Glück – geblieben sind.

Deutschland war zu jener Zeit – Ende der 1970er Jahre – noch ein geteiltes Land. Und wo war das greifbarer als hier in Berlin? Sie machten damals auch einen Abstecher nach Ostberlin und waren – so habe ich gehört – schockiert von dem quälenden Prozedere an den Grenzübergängen, von der Brutalität einer Mauer quer durch die Stadt. Dieses Jahr feiern wir den 35. Geburtstag der Friedlichen Revolution. Welch ein Glück, dass wir die Teilung unseres Landes überwinden konnten! Und wir werden nicht vergessen, dass Italien uns auf dem Weg zur Wiedervereinigung eng zur Seite stand.

Einige Jahre später reisten Sie erneut nach Westdeutschland, nach München und Karlsruhe. Vielleicht konnten Sie dort schon Spuren davon entdecken, wie die Deutschen immer italienischer wurden, zunächst vor allem in kulinarischen Dingen? Vielleicht konnten wir es in Sachen Lebensfreude und Spontaneität noch nicht mit Italien aufnehmen, aber immerhin begann man, zur Pizza Cappuccino mit Schlagsahne zu trinken. Ich wage zu behaupten: Uns hat die schrittweise Italianisierung nach den gewöhnungsbedürftigen Anfängen der deutschen Küche nur gutgetan.

Selbst hinter dem Eisernen Vorhang, wo es keine italienischen Gastarbeiter gab, begann sich etwas zu bewegen. Chefköchin Doris Burneleit hatte fünf Jahre dafür gekämpft, mit dem „Fioretto“ in Köpenick 1987 die erste – und einzige – Trattoria der DDR eröffnen zu können. Italienische Zutaten gab es nicht. Und so musste in Weißweintücher eingeschlagener, anschließend im Schornstein getrockneter Edamer den Parmesan ersetzen und Milchquarkspeise den Ricotta. Wenn heute in einer von Berlins gefeierten Trattorien echter Bufala-Käse aus Brandenburg und Salsiccia vom Schwäbisch-Hällischen Landschwein angepriesen wird, so ist der Impuls der gleiche wie Jahrzehnte zuvor: Wir machen uns Italien zu eigen – koste es, was es wolle!

Nach der Wiedervereinigung haben wir gemeinsam ein weiteres, ein neues Kapitel aufgeschlagen. Italienische Oper und Berliner Technokultur, beide sind inzwischen Weltkulturerbe. Gemeinsam arbeiten wir dafür, dass Europa zusammenwächst. Gemeinsam begegnen wir den Krisen unserer Zeit, selbst wo sie uns manchmal zu entzweien drohen – ich denke an die Euro- und Finanzkrise, die Coronakrise, Fragen von Flucht und Migration. Der Wunsch nach Verbindung und Austausch ist so stark, weil die deutsch-italienische Freundschaft ein selbstverständlicher Teil des Alltags der Menschen geworden ist. Die Deutschen sehnen sich nicht mehr nur nach Italien, sie kennen es inzwischen auch besser. Und umgekehrt ist ein neuer Sehnsuchtsort entstanden für junge Menschen aus Italien wie Claudia und Francesco, die „Spatriati“ aus dem Roman von Mario Desiati. „Sie redete mit mir nur noch über ihre neue Stadt. Berlin, Berlin, Berlin“, seufzt dort Francesco in einer Mischung aus Neugier und Trotz.

Wir sind uns über die letzten Jahrzehnte in vielerlei Hinsicht ähnlicher geworden – wie das bei guten Freunden nun einmal so ist. Nur was die Pünktlichkeit der Züge angeht, da haben wir Deutschen vielleicht noch etwas Nachholbedarf. Immer wieder haben wir im Entdecken des anderen das Beste aus uns selbst herausgeholt. Ja, das gilt für Lebensart, Kultur und Wirtschaften. Aber es betrifft auch den Kern unserer Identität. Gemeinsam schauen wir nach Europa. Und gemeinsam schauen wir zurück in die Abgründe unserer Geschichte. Wenn wir am Sonntag gemeinsam in Marzabotto gedenken werden, wo Deutsche im Zweiten Weltkrieg schlimmste Massaker verübten, wenn Sie uns im Angesicht solcher Schrecken die Hand reichen, dann ist das eine große Geste der Versöhnung und der Freundschaft! Ich bin dankbar für diese Freundschaft, durch die Deutschland zu sich selbst finden konnte – als Land, das Verantwortung trägt für die Zukunft Europas, und als Land, das weiß um die Verantwortung für die Grauen der Vergangenheit.

Kann es ein besseres Argument für Europa geben als die deutsch-italienischen Beziehungen? Wie anregend und bereichernd Partnerschaft ist, wie aus Unterschiedlichem etwas neues Gemeinsames entstehen kann, wie wertvoll die offenen Grenzen und der Kontakt zwischen Menschen sind, all das leben und erfahren wir jeden Tag. Ich bin froh, Sie, sehr geehrter Herr Präsident, als Verfechter eines starken Europas an meiner, an unserer Seite zu wissen!

Letztes Jahr durfte ich den italienischen Präsidenten in seiner sizilianischen Heimat besuchen. Seitdem erst verstehe ich Goethes berühmten Satz, dass man Sizilien kennen muss, um Italien zu verstehen. „Hier ist erst der Schlüssel zu allem“, so schrieb er. Der Schlüssel zu allem, der ist heute schwer zu finden. Und dennoch glaube ich, dass ein Schlüssel zum Verständnis meines Landes ganz sicher auch in Italien liegt. Ohne Ihre Freundschaft wäre Deutschland ein anderes, ein zweifellos ärmeres Land.

In diesem Sinne erhebe ich mein Glas auf meinen Freund Sergio Mattarella, auf seine Tochter Laura und auf die Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern! Viva l’amicizia tra Italia e Germania! «


Quelle: Bulletin 89-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 1. Oktober 2024

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