Veröffentlicht am: 19.12.2024 um 18:43 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei einer Gedenkfeier für die Opfer des Anschlags vom 9. Oktober 2019 in Halle
» Niemand von Ihnen – niemand von uns allen, die wir hier sind – hat den heutigen Tag leichten Herzens begonnen. Und auf vielen von Ihnen, liebe Angehörige, liebe Überlebende, liebe Einsatzkräfte, liebe Hallenser, wird schon seit Tagen eine belastende Schwere liegen. Diejenigen unter Ihnen, die ihre Liebsten verloren haben, wird die Trauer vielleicht heute noch stärker schmerzen als sonst. Und diejenigen, die vor fünf Jahren den furchtbaren Terroranschlag von Halle und Wiedersdorf überlebt und miterlebt haben, werden heute vielleicht wieder den langen Atem jener Angst von damals spüren und den Schmerz, der sich seit dem 9. Oktober 2019 in ihre ganz persönliche Erinnerung eingeschrieben hat.
Und deshalb ist es gut, dass wir heute zusammenkommen. Ich bin Ihnen allen dankbar, dass Sie den Weg auf sich genommen haben. Auch diejenigen der Überlebenden und Angehörigen, die heute nicht kommen konnten, haben heute ihren Platz in Gedanken bei uns. Wir sind heute auch stellvertretend für sie hier versammelt. Denn diese Gedenkfeier ist der Ort und der Moment für ein gemeinsames Erinnern. Beides, das Erinnern genauso wie das Zusammenkommen an diesem Tag, ist so notwendig.
Der 9. Oktober 2019 hat für Sie alle Ihr Leben für immer verändert. Zwei Menschen haben dieses abscheuliche Verbrechen nicht überlebt. Jana Lange wurde erschossen, musste sterben, nur weil sie in diesen Minuten auf der Straße ging. Und Kevin Schwarze wurde ermordet, musste sterben, nur weil er seine Mittagspause im Kiez-Döner machte. Wir denken heute mit Trauer an sie beide. Sie fehlen ihren Liebsten, sie fehlen uns in unserer Mitte.
Wer den Terror von Halle überlebt hat, trägt schwer an der Last dieses furchtbaren Tages. Für Sie alle gibt es unwiderruflich ein Davor und ein Danach. Das Davor endete um 12.01 Uhr, als der erste Sprengsatz vor der Synagoge gezündet wurde. 52 Menschen haben im ersten Stock der Synagoge überlebt. Sie haben erlebt, dass ein Attentäter sie töten wollte, ermorden wollte, weil sie Juden sind. Sie haben dies erlebt mitten in Deutschland, das nach dem Nationalsozialismus jeden Tag dankbar sein sollte, dass jüdische Gemeinden hier wieder ihre Feiertage feiern.
Die Menschen in der Synagoge haben über Stunden ausgeharrt, in größter Todesangst. Sie haben Möbel vor die Türen gerückt, sie haben auf den Überwachungsmonitor gestarrt, sie haben gebetet. Im Kiez-Döner, den der Täter anschließend aus Hass auf Muslime und Einwanderer ins Visier nahm, haben Menschen überlebt, weil sie sich versteckten. Sie kauerten hinter Regalen und Kühlschränken, hinter einer Toilettentür. Sie lagen nach einem Sprung aus dem Fenster zwischen Autos. Sie schrieben eine Abschiedsnachricht in den Familienchat. Lange wussten auch sie nicht, ob sie alle sterben müssen. In Wiedersdorf haben Menschen mit schweren Schussverletzungen nur deshalb überlebt, weil die Waffen des Täters versagten, als er direkt auf ihr Gesicht zielte.
Diesen Tag, diesen 9. Oktober überlebt zu haben, das bedeutet, sich immer wieder erinnern zu müssen. Das eigene Gedächtnis ist etwas, das man nicht einfach ausschalten, dem man nicht ausweichen kann. Wir sagen das heute so leicht, dass jemand traumatisiert sei. Dabei kann kein anderer ermessen, wie sich die seelische Verwundung anfühlt, wie sie sich auswirkt, wie sie einen begleitet und auch immer wieder überfällt. Überleben bedeutet für viele, ein anderes, schwereres, auf bestimmte Weise auch unsicheres Leben zu führen.
Ich bin Ihnen allen, die Sie über sich und Ihre Erfahrungen sprechen und gesprochen haben, sehr dankbar. Einige von Ihnen haben dies schon in ihren Schlussworten im Strafprozess getan und sehr klare Worte gefunden – Worte, die mich berührt haben, die jeden Menschen berühren müssen, die sie gehört haben. Andere haben gerade in einer Dokumentation aus Anlass des fünften Jahrestages ihre Stimme erhoben. Das ist aus zwei Gründen wertvoll. Zum einen würde das Schweigen über Erlittenes nur das Leid des Einzelnen konservieren, wie die Erinnerungsforscherin Aleida Assmann einmal gesagt hat. Zum anderen aber ist das Erinnern eine Aufgabe, die wir als Gesellschaft gemeinsam haben. Das ist entscheidend.
Wir erinnern uns, weil wir uns an die Seite der Opfer stellen. Und wir erinnern uns, weil wir als Gesellschaft mit dieser Erinnerung eine Aufgabe verbinden, eine Verantwortung, die in die Zukunft reicht: Es ist die Verantwortung, dass das, was geschehen ist, nicht wieder geschehe. Auf dieser Selbstverpflichtung des „Nie wieder!“ gründet sich die Bundesrepublik.
In den Schlussworten zum Strafprozess von Halle hat eine Überlebende gesagt, zu der Idee dieses „Nie wieder!“ gehöre es, dass nie wieder Jüdinnen und Juden und andere Minderheiten in unserem Land um ihr Leben fürchten sollten. Für diese Überlebende hat die Tat die Idee des „Nie wieder!“ unwiderruflich zerbrochen.
Der Staat hat den Anschlag auf Jüdinnen und Juden in ihrem Gotteshaus nicht verhindern können. Er hat nicht verhindern können, dass mitten in Deutschland Nachfahren von Opfern und Überlebenden des Holocaust über Stunden in Todesangst versetzt waren, weil ein deutscher Antisemit und Rassist einen Massenmord versuchte. Der Hass des Täters zielte auf Juden, auf Muslime, auf Frauen, auf Wehrlose – auf alle, die er nach seiner rohen Ideologie auslöschen wollte. Niemand hatte offensichtlich diesen Täter auf dem Schirm. Heute wissen wir, dass sein Plan eine Vorgeschichte der Radikalisierung hatte. Und es bleibt die Frage bestehen, wieso wir diese Vorgeschichte nicht gesehen haben.
Ich weiß, wie schmerzhaft diese Frage ist. Und ich finde sie selbst äußerst beunruhigend. Auch nach fünf Jahren erinnere ich mich noch an meinen Besuch in Halle am Tag danach und an die Stimme eines jungen Mannes, der damals vor der Synagoge geradezu herausschrie: „Ihr könnt uns nicht schützen.“ Seine Wut, seine Verzweiflung müssen wir als dauerhafte Mahnung begreifen und sehr ernst nehmen.
Unsere Sicherheitsbehörden tun dies. Sie stellen sich der täglichen Aufgabe, antisemitischen und extremistischen Terror zu bekämpfen und zu verhindern. Sie tun das mit viel Personal und modernen Instrumenten. Ich bin froh, dass wir als Staat auf die Gefahr der Gewalt mit mehr Schutz reagiert haben. Die Wahrheit ist aber auch, dass es nahezu täglich schwieriger wird, den Kampf gegen den Terror zu führen. Denn die Hemmschwelle für Hass und Gewalt sinkt. Und die Netzwerke des Hasses sind immer schwerer aufzuspüren. Und die Spur der Gewalt endet nicht. Sie zieht sich von Kassel über Halle nach Hanau, sie zieht sich von Mannheim nach Solingen.
Die konkrete Gefahr reicht bis in den Alltag so vieler Menschen hinein. Es ist bitterer Alltag, dass Synagogen, jüdische Kindergärten und Schulen in Deutschland vor Angriffen geschützt werden müssen – immer noch und gerade wieder mehr, 80 Jahre nach Ende des Holocaust. Es ist leider bitterer Alltag, dass Jüdinnen und Juden an jedem einzelnen Tag befürchten müssen, angegriffen, beleidigt, bespuckt zu werden. Und seit dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel, der sich gerade gejährt hat, scheint sich hier und auch in vielen anderen Ländern geradezu ein Ventil für einen ungezügelten Judenhass geöffnet zu haben.
Antisemitismus und Rassismus gibt es nicht einfach so. Ideologien werden von Menschen gedacht und verbreitet. Verschwörungsmythen werden von Menschen erfunden und befeuert. Und beides dient Tätern als Motiv. Die Mörder von Kassel, von Halle, von Hanau, sie haben vielleicht am Tag der Tat alleine gemordet. Aber gedacht haben sie nicht alleine.
Zu oft wird inzwischen das Internet zu einer Hasstankstelle, an der sich Menschen – am häufigsten junge Männer – aufladen. Hier gibt es alles rund um die Uhr frei Haus: Extremismus, Fundamentalismus, Verschwörungserzählungen, Menschenhass. Die Dosis variiert gelegentlich. Und es ist nicht so, dass diese Hasstankstellen weit von unseren Leben entfernt lägen. Eigentlich kommt fast jeder von uns mal an einer vorbei, wenn er – und wer ist das nicht – in den sozialen Netzwerken unterwegs ist. Und über TikTok, X, Telegram – und wie sie alle heißen – gelingt es immer öfter, das gesellschaftliche Klima zu beeinflussen, den Raum, in dem wir politische Debatten führen, zu vergiften und mit Hass zu durchtränken.
Allerdings, eines ist auch klar: Wir sind nicht machtlos. Wir können der Gefahr der Radikalisierung gemeinsam entgegentreten. Es ist Zeit zu widersprechen, wo jemand gegen Minderheiten vorgeht. Es ist Zeit für Vernunft, wo jemand Wut und Hass schürt. Es ist Zeit für Solidarität, wo jemand angegriffen wird. An diesem Punkt dürfen wir uns niemals auseinandertreiben lassen: Wenn ein anderer die Würde des Menschen ignoriert oder mit Füßen tritt, dann ist die Zeit, zusammenzustehen. Das ist die Lehre von Halle: Das Risiko, zum Opfer menschenfeindlicher Gewalt zu werden, das ist nicht gleichmäßig über alle in der Gesellschaft verteilt. Aber eben genau daraus erwächst unsere gemeinsame Verantwortung. Jeder dieser menschenfeindlichen Angriffe zielt mitten ins Herz unserer offenen Gesellschaft. Jeder dieser Angriffe geht jeden von uns etwas an. Diesen Angriffen müssen wird gemeinsam entgegentreten. Das ist der Auftrag aus dem Versprechen des „Nie wieder!“. Und darauf fußt das Selbstverständnis unserer Demokratie.
Wir haben nicht die Möglichkeit, das Geschehene ungeschehen zu machen. Der Terroranschlag von Halle war eine furchtbare Tat. Wir trauern um diejenigen, die ermordet wurden. Wir fühlen mit den Angehörigen und den an Leib und Seele Verletzten. Aber dass wir heute gemeinsam hier sind, ist eine wichtige Botschaft: Der Täter von Halle wollte uns als Gesellschaft spalten. Und ganz zuvorderst wollte er jüdisches Leben auslöschen. Beides ist ihm nicht gelungen. Er hat sein Ziel nicht erreicht. Eben durfte ich in der Synagoge an der Übergabe einer Torarolle teilnehmen. Mich hat das sehr berührt. Jüdisches Leben in Halle und anderswo in Deutschland wächst und gedeiht.
Ich möchte mit einigen Worten des Rabbiners Jeremy Borovitz schließen, der am 9. Oktober mit seiner Frau und seinen Freunden in der Synagoge überlebte. Ich möchte diese Worte auch deshalb zitieren, weil sie sich an uns alle richten. Sie stammen aus dem Schlusswort zum Strafprozess: „Wann immer wir etwas sehen, wann immer wir etwas hören, müssen wir uns äußern, müssen wir handeln. Ein weiteres Halle […] können wir nur verhindern, wenn die guten und anständigen Menschen der deutschen Gesellschaft so etwas nicht noch einmal geschehen lassen.“
Das ist die Lehre von Halle: Auf jeden Einzelnen von uns kommt es an. Schweigen wir nicht. Nie wieder. Setzen wir unseren Anstand dem Hass entgegen! «
Quelle: Bulletin 96-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 14. Oktober 2024