Veröffentlicht am: 22.04.2025 um 06:16 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei der Preisverleihung an Margot Friedländer auf der Westfälischen Friedenskonferenz 2025

Bei der Preisverleihung an Margot Friedländer auf der Westfälischen Friedenskonferenz 2025 hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier am 4. April 2025 folgende Rede in Münster gehalten

» Ich freue mich sehr und es ist uns allen eine Ehre, dass wir diese Westfälische Friedenskonferenz 2025 mit der Verleihung des Sonderpreises des Westfälischen Friedens an Sie, liebe Frau Friedländer, eröffnen dürfen.

Und eine Ehre ist es auch, dass ich Ihnen ganz ausdrücklich als Bundespräsident, also auch im Namen aller unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Hochachtung aussprechen darf, die wir vor Ihnen, vor Ihrer Lebensgeschichte und vor Ihrem, ja, im hundertvierten Lebensjahr darf man das sagen: unbeirrbaren und unermüdlichen Engagement haben!

Im Sommer des vergangenen Jahres, liebe Margot Friedländer, erschienen Sie – sicher zur großen Überraschung vieler – auf dem Cover der deutschen Vogue. Das war ungewöhnlich. Und ungewöhnlich war auch die Botschaft, die mit diesem Titelbild verbunden war: Dass es Ihnen nämlich nicht vordergründig um modische Eleganz – die haben Sie auch –, sondern um etwas viel Wichtigeres geht. Darum trugen Sie – neben Ihrer Bernsteinkette – am Kragen des Mantels zwei wichtige Auszeichnungen: den Verdienstorden des Landes Berlin und das Bundesverdienstkreuz. Unter dem Bild stand: „Ein Plädoyer für das Miteinander“.

Das Tragen dieser Auszeichnungen war kein Zufall und kein modisches Accessoire, sondern es ist das, wofür Sie stehen: für öffentliches Engagement, für Ihren Einsatz für das menschliche Miteinander in dieser Bundesrepublik Deutschland und besonders in Ihrer alten Heimat Berlin.

Man konnte in dem großen Artikel über Sie dann zwar auch lesen, dass Sie sehr gerne Modedesignerin geworden wären. Aber das Wort Stil, das einem in diesem Zusammenhang einfällt, das hat in Ihrem Leben und Wirken eine viel existenziellere Bedeutung. Viel wichtiger nämlich ist Ihnen Lebensstil, oder genauer gesagt: Haltung, so und nicht anders zu sein, so und nicht anders zu wirken und mit anderen zusammenzukommen.

Ihre besondere Art, sich streitbar, doch versöhnlich einzusetzen, zeigt mir und uns: Der Einsatz für andere muss, bei aller Entschiedenheit und bei aller Ernsthaftigkeit, nichts Verkrampftes und nichts Überanstrengtes haben. Er kommt aus einer inneren Festigkeit, einer Güte, einer Großzügigkeit, die bei Ihnen wie selbstverständlich wirkt. Aus einer inneren Verwandlung vielleicht auch. In Ihrem Falle, das wissen wir, sind große Trauer und großer Schmerz in eine reiche Gabe verwandelt worden, eine reiche Gabe für alle, die Ihnen begegnen. „Gott hat etwas vorgehabt mit Ihnen“, habe ich Ihnen zum 100. Geburtstag geschrieben. Und ich sage das heute gerne noch einmal: Gott hat etwas vorgehabt mit Ihnen – und füge heute hinzu: auch um Ihrer Mitmenschen willen.

Es ist die Anziehungskraft des Guten, des Zugewandten und des Versöhnlichen. Es ist der Glaube an das Gute im Menschen, wie Sie sagen, wenn Sie um ein menschliches Miteinander werben. Es ist dieser Glaube, Ihre Haltung, die so anziehend und so ansteckend wirkt auf Menschen, denen Sie begegnen. Sie ist es, die Herzen berührt, den Verstand erreicht und uns im Innersten bewegt: zurückhaltend, aber entschieden; nicht bestimmend, aber anstiftend; nicht aufdringlich, sondern werbend; nicht überredend, sondern überzeugend; nicht belehrend, sondern erzählend.

So und nicht anders engagieren Sie sich gegen das Vergessen, für Menschlichkeit und Toleranz, für Frieden und Demokratie. Und das alles mit einer unendlichen Beharrlichkeit, einer scheinbar unerschöpflichen Energie und einer – trotz allem – nie versiegenden Zuversicht. Mit allerhöchstem Respekt und in Demut verneigen wir uns vor Ihrem Engagement, mit dem Sie unablässig für das Zusammenleben der Verschiedenen in unserem Gemeinwesen werben, Vorurteilen und Ressentiments entgegentreten. Ganz großen Dank dafür.

Dabei haben Sie selber in Ihrem Leben die bittersten Erfahrungen gemacht. Sie sind als junge jüdische Frau mit knapper Not dem Vernichtungsfuror der Nationalsozialisten entronnen. Ihre Mutter und Ihr Bruder, viele Angehörige und Freunde wurden ermordet. Sie selber haben sich lange verstecken können, haben sich die Haare gefärbt und fortan als Jüdin eine Kette mit einem Kreuz getragen. Schließlich wurden Sie doch aufgegriffen und nach Theresienstadt deportiert. Aber: Sie haben überlebt. Lange lebten Sie dann nach dem Krieg in Amerika, bis Sie, im hohen Alter schon, in Ihre deutsche Heimat, und das heißt vor allem, in Ihre geliebte Heimatstadt Berlin zurückgekehrt sind. Seitdem sprechen Sie als Zeitzeugin, vor allem in Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen, über Ihre Erfahrungen der Diskriminierung und der Verfolgung im ideologischen Wahn der Nazis, über Angst, über Mut und Hoffnung.

Ihre Botschaft ist aber nicht Abrechnung mit diesem Land, Deutschland, zu der Sie alles Recht hätten. Sie werben dafür, wie es Bertolt Brecht gesagt hat: „daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“.

Und gleichzeitig widersprechen Sie, mit Ihrem ganzen Wirken, diesem großen deutschen Dichter doch grundsätzlich!

„Auch der Hass gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge. / Auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser", schrieb Brecht. „Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein“, sagt Brecht.

Ganz im Gegenteil! – sagen Sie, liebe Frau Friedländer. Sie wollen nicht nur „den Boden bereiten für Freundlichkeit“, Sie leben Freundlichkeit vor! Und glauben und zeigen, dass es anders gar nicht geht. Und sagen und demonstrieren, sozusagen Tag für Tag, dass freundliches, ja: menschenfreundliches Reden und Wirken die einzig tragfähigen Grundlagen dafür sind, dass wirklich „der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“.

Sie helfen nicht nur, uns zu erinnern. Sie klären auf, was Deutschland vor 1933 in Richtung Abgrund geführt hat. Und unermüdlich – auch jenseits der 100 – gehen Sie in Schulen, reden mit Jugendlichen, sind täglich unterwegs für Ihre Mission des „Nie wieder!“. Dafür und für alles, liebe Frau Friedländer, unser aller Dank und unsere ganz große Hochachtung!

Meine Damen und Herren, Sie sind hier in Münster versammelt zur Westfälischen Friedenskonferenz 2025. Und diese steht in diesem Jahr unter dem Motto: „Europas Zeitenwende – Sicherheit gemeinsam gestalten“. Welches Leitmotiv könnte gerade aktueller sein?

Sie werden gleich eine Fülle von Impulsreferaten und Debatten hören und sich daran beteiligen, und Sie werden dieses in diesen Zeiten geradezu lebens-, ja überlebenswichtige Thema von vielen Seiten her beleuchten. Was bei allen unterschiedlichen Stimmen und Sichtweisen Gewissheit ist: Wir alle erleben zurzeit einen doppelten Epochenbruch, den die meisten von uns – ich schließe mich ein – in dieser Form und in dieser Radikalität sicher nicht erwartet haben. Und trauen Sie nicht denjenigen, die hinterher immer schon alles vorher wussten. Ich glaube, in dieser Radikalität, in dieser Form haben wir uns das alles nicht vorstellen können. Aber: Es bleibt, wie es ist. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 den Krieg zurück auf den europäischen Kontinent gebracht hat, war die eine entscheidende Zäsur. Drei Jahre dauert dieser Krieg an. Und er bedeutet unendliches Leid, Zerstörung, Flucht für die Menschen in der Ukraine. Putin hat mit diesem Krieg auch unsere europäische Sicherheitsordnung in Trümmer gelegt. Der Angriff auf die Ukraine ist ein Angriff auf alles, was uns als Europäern wichtig ist: auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, territoriale Integrität, unsere Freiheit, auf das Völkerrecht.

Das andere, was uns auf besondere Weise bestürzt, betrifft das Land unserer jahrzehntelangen Partner und Freunde – das Land, in dem Sie, liebe Frau Friedländer, lange gelebt haben. Es ist einfach bestürzend zu sehen, wie die neue US-Administration in rascher Folge die bisher als sicher und verbindlich geltenden Regeln und Prinzipien unserer transatlantischen Partnerschaft angreift und manche sie sogar beseitigen will.

Ja, es ist für uns bestürzend zu sehen, wie schnell dort ein Bild von Gesellschaft, von demokratischem Gemeinwesen, von menschlichem Zusammenleben radikal infrage gestellt und grundstürzend verändert wird – und wie viel Zustimmung es dafür gibt. Und nicht nur dort, auch hier bei uns in Europa gibt es beunruhigend wachsende Zustimmung und Sympathie für einen Kampf gegen das sogenannte Establishment, der am Ende ein Kampf gegen die Demokratie und ein Kampf gegen die Institutionen der Demokratie ist.

Disruption ist das neue Zauberwort und ist doch nur die Unfähigkeit oder der Unwille, Ziel und Weg von, ja notwendigen Veränderungen zu beschreiben, solche Ziele entweder autoritär zu verordnen oder die Zukunft einer Regellosigkeit zu überlassen, in der nicht mehr die „Stärke des Rechts“ gilt, sondern – wie Reinhard Zinkann gesagt hat – das „Recht des Stärkeren“ in seiner ganzen Rohheit zurückkehrt. Das wäre nach dem 20. Jahrhundert kein Ankommen im 21. Jahrhundert, sondern ein Zurück ins 19. Jahrhundert – und die Folgen sind bekannt. Bei alldem rede ich nicht nur von der anderen Seite des Atlantiks!

Die neue Faszination des Autoritären führt zu irritierenden Koalitionen auch bei uns in Europa. Extremistische Parteien nicht nur am rechten Rand stellen sich geistig an die Seite des imperialistisch agierenden russischen Kremlchefs. Und aus der so alten und für lange beispielhaften amerikanischen Demokratie kommt jetzt statt entschiedenen Widerstands dagegen sogar die Unterstützung extremistischer Bewegungen bei uns.

Wir Europäer müssen uns jetzt auf das besinnen, was uns wichtig ist. Und wir müssen uns um uns und unseren Schutz verstärkt selber kümmern. Heute geben die EU-Staaten ungefähr 330 Milliarden Euro pro Jahr für Verteidigung aus. Das klingt viel. Aber wir wissen: Das ist zu wenig in einer völlig veränderten Bedrohungslage. Wir wissen, dass wir gemeinsam mehr für Abschreckung und Verteidigung tun müssen. Und ich bin froh, dass Deutschland mit den jüngsten Bundestagsbeschlüssen diesen Weg geht. Europa braucht auch deutsche Streitkräfte, die mit modernster Ausrüstung und größerer Personalstärke glaubwürdig zur Abschreckung in Europa beitragen.

Ich halte nicht viel davon, die Nato vorschnell für tot zu erklären und durch ein vages Fernziel der europäischen Armee zu ersetzen. Aber entschiedene Schritte zur gemeinsamen europäischen Verteidigung sind möglich – sind nötig, wenn wir an europäische Rüstungswirtschaft und -beschaffung denken. Frankreich, Polen, Großbritannien, Italien, Spanien: Wer immer mitmacht, ist willkommen. Und wer nicht mitmachen will, soll uns jedenfalls nicht aufhalten.

Mindestens so wichtig ist aber auch eine Stärkung der inneren Verfassung Europas. Ökonomische Resilienz sichert Wohlstand und entzieht dem Populismus den Boden. Und auch als Gesellschaften müssen und können wir resilienter werden, wie uns Beispiele jüngst aus Skandinavien zeigen können. Und der Gedanke über eine jeden treffende Pflicht, unserem Land – sei es in den Streitkräften oder in sozialen Einrichtungen – eine Zeit lang zu dienen, gehört meines Erachtens zum Gedanken der Resilienz und der Stärkung der Resilienz unserer Gesellschaft dazu.

Aber es geht nicht nur um Aufrüstung und Abschreckung. Ja, es stimmt: Wer Frieden sichern oder wiederherstellen will, muss zunächst einmal ernst genommen werden in seiner Verteidigungs- und Durchhaltefähigkeit. Aber wir brauchen gleichzeitig eine aktive Außenpolitik und die Spielräume, die sie dafür benötigt. Abschottung, Sprach- und Kompromisslosigkeit sind ganz offenbar keine Antworten auf die Krisen unserer Zeit! Eine Lehre, die mir wichtig ist: Wir dürfen Diplomatie nicht den Autokraten dieser Welt überlassen. Auch das geht zulasten unserer Glaubwürdigkeit in vielen Teilen unserer Welt. Aktive Außenpolitik heißt auch, keine Angst zu haben vor den Realitäten und eher zu versuchen, diese Realitäten zu verändern, statt sie laufend zu kommentieren.

Das verlangt ein Bewusstsein von Europas Rolle in diesen Zeiten, den Willen zur Selbstbehauptung. Und das verlangt viel innere Kraft. Und alles beginnt damit, dass wir uns nicht ständig selbst in eine randständige Rolle am Katzentisch der Weltbühne hineinreden, dass wir uns auch nicht ständig selber unterschätzen, die Defizite kennen, sie beschreiben, ihnen abhelfen – aber uns nicht ständig in diese randständige Rolle hineinreden. Ja, es stimmt: Autokraten mögen Europa und unsere Art, Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zu leben, nicht. Aber Menschen in vielen Regionen der Welt schauen mit Hoffnung auf unser politisches Modell Europa und wünschen sich, dass wir an Einfluss gewinnen. Und wir müssen jedenfalls versuchen, dieser Erwartung besser gerecht zu werden als in der Vergangenheit.

Wir dürfen nicht nur zurückschauen auf glückliche Zeiten, als wir Stück für Stück eine freiheitliche und demokratische, eine rechtsstaatliche und soziale Ordnung geschaffen haben – mit unseren europäischen Nachbarn, die zu Partnern wurden, und durch die jahrzehntelang verlässliche Unterstützung durch die Vereinigten Staaten, für die wir immer dankbar sein werden.

Das waren Jahrzehnte, die auch nicht ohne Krisen und Brüche waren, in denen wir aber zuverlässig auf Rückenwind setzen durften. Jetzt müssen wir zeigen, dass wir von unserem Modell auch im globalen Gegenwind überzeugt sind – wir müssen es verteidigen und resilienter machen –, dass wir auch gerade jetzt zeigen, dass jeder Einzelne in einer freiheitlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Ordnung ein besseres Leben leben kann als in jeder anderen Ordnung, die man sich vorstellen kann.

Was Margot Friedländer in ihrem vorbildlichen Engagement im Kleinen unternimmt, das müssen die, die bei uns politische Verantwortung tragen – und das müssen wir alle in allen gesellschaftlichen Bereichen tun –, zeigen, dass das, was für uns alle allzu selbstverständlich geworden ist, tatsächlich ein attraktives und überzeugendes Zukunftsmodell für das Zusammenleben in einer Gesellschaft mit unterschiedlichen Interessen, Vorlieben, Herkünften, Träumen und Traumata ist. Ein Modell, das sich aber eben keineswegs von selber versteht und in die Zukunft verlängert, sondern Tag für Tag bewahrt, gestaltet und lebendig erhalten, vor allen Dingen verteidigt werden muss.

Wir leben in schweren Zeiten, das kann keiner bestreiten. Und große Aufgaben kommen auf uns zu. Sie werden bei dieser Konferenz intensiv darüber sprechen.

Mit Margot Friedländer haben wir dabei heute eine Frau unter uns, die schwerste Zeiten erlebt und das schlimmste Menschheitsverbrechen überlebt hat. Margot Friedländer zu ehren, ist das eine. Ihre Botschaft aufzunehmen und umzusetzen, das ist das andere: nämlich das Gute, das wir haben, zu schätzen und zu verteidigen – gerade heute, in Zeiten der Krise, der Bedrohung der Demokratie und der Ignoranz gegenüber der Verantwortung aus unserer Geschichte.

Liebe Margot, wir versprechen, denen zu widersprechen, die immer lauter einen Schlussstrich fordern. Verantwortung kennt keinen Schlussstrich. Das sehen wir gerade heute, wo die Demokratie so sehr angefochten ist wie vielleicht seit 80 Jahren nicht.

Und gerade, weil wir um das wissen, wovon Sie, Margot Friedländer, lebendiges Zeugnis ablegen, werden wir die Demokratie und die Freiheit verteidigen gegen ihre Verächter und ihre Feinde.

Der Preis, den wir Ihnen verleihen, wird für uns Verpflichtung sein. Vielen Dank und herzlichen Glückwunsch. «


Quelle: Bulletin 26-1 des vom 7. April 2025

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