Veröffentlicht am: 10.08.2025 um 22:17 Uhr:

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Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei einer Veranstaltung zum 75. Gründungsjubiläum des Zentralverbands des Deutschen Handwerks e.V. und 125 Jahre Handwerkskammern

Bei einer Veranstaltung zum 75. Gründungsjubiläum des Zentralverbands des Deutschen Handwerks e.V. und 125 Jahre Handwerkskammern hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier am 12. Juni 2025 folgende Rede in Berlin gehalten

» „Made in Germany“: Wie stolz sind wir seit Jahrzehnten auf dieses Gütesiegel – und sind es weiterhin! Es steht für Qualität, für die fast sprichwörtliche deutsche Wertarbeit, die auch international hochgeschätzt wird. Doch Sie wissen, die Geschichte dahinter ist eine ganz andere. Als dieses Label zum ersten Mal verwendet wurde, im Jahr 1887, da bedeutete es das genaue Gegenteil. „Made in Germany“, das war eine Warnung: Achtung, minderwertige Ware aus Deutschland! Das britische Parlament hatte damals entschieden, deutsche Produkte so zu kennzeichnen. „Made in Germany“, das war im ausgehenden 19. Jahrhundert das Zeichen für Billigware.

Und diese Geschichte hat sehr viel mit dem heutigen Jubiläum zu tun. Im Deutschen Reich herrschte mit Abschaffung der Zünfte völlige Gewerbefreiheit, sodass jeder nach Lust und Laune ein Handwerk ausüben konnte. Doch wer einen Nagel einschlagen kann, ist noch kein Zimmermann. Kein Wunder also, dass die Qualität des Handwerks schlechter wurde, gut ausgebildete Fachleute immer seltener zu finden waren und viele Handwerker und Handwerkerfamilien verelendeten. Eine Reaktion darauf war die Gründung von Handwerkskammern. Eine neue Reichsgewerbeordnung führte dazu, dass überall im Land im Jahr 1900 – in einigen Regionen auch schon etwas früher – Handwerkskammern entstanden, 71 insgesamt. Sie waren es, die fortan für Qualitätsstandards im Handwerk zuständig waren und auch für die Ausbildung. Und diese Aufgabe erfüllten sie von Anfang an mit großem Ernst und – wie könnte es im Handwerk anders sein – mit großer Gründlichkeit. Ich erzähle diese Geschichte, weil: Nur so konnte „Made in Germany“ im Laufe der Zeit tatsächlich zu einem Gütesiegel werden.

Und diese Geschichte wollen wir heute Abend feiern: 125 Jahre Handwerkskammern und 75 Jahre Zentralverband des Deutschen Handwerks – eine riesige Erfolgsgeschichte! Schon die Zahlen illustrieren das: eine Million Handwerksbetriebe, 5,6 Millionen Beschäftigte in einer langen Tradition der Selbstorganisation. Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein, und gratuliere Ihnen von Herzen zu diesem Doppeljubiläum!

Vor allem aber möchte ich heute Danke sagen! Ohne die Kammern wären heute Ausbildung und Qualität des Handwerks nicht auf dem hohen Niveau, auf dem sie sind. Ohne den Zentralverband wäre die Stimme des Handwerks leiser, hätte weniger Gewicht. Der deutsche Mittelstand, und dazu zählen die allermeisten Handwerksbetriebe, ist das Rückgrat unserer Volkswirtschaft. Trotz Globalisierung und scharfem internationalen Wettbewerbs der Großunternehmen hat das Handwerk für die Zukunft unseres Landes entscheidende Bedeutung behalten.

Und weil das so ist, können Sie wirklich erwarten, dass Ihnen das Leben nicht unnötig schwer gemacht wird. Zu Recht beklagen viele ein unübersichtlich gewordenes staatliches Regelwerk und damit einhergehende Bürokratisierung. Auch deshalb habe ich im vergangenen Jahr die Schirmherrschaft für die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ übernommen. Und dabei geht es ja genau darum: Wo können wir umsteuern? Wo können wir das Regelungsdickicht durchschlagen oder entwirren? Wie können wir dafür sorgen, dass Unternehmen freier in ihrem Handeln werden und effektiver arbeiten können? Wie schützen wir kleine Betriebe – zumal im Handwerk – davor, mit Berichts- und Dokumentationspflichten belastet zu werden, für die in größeren Unternehmen ganze Stäbe zur Verfügung stehen?

Das ist eine große Aufgabe, vor der wir als Gesellschaft stehen. Und ich freue mich, dass viele der Empfehlungen dieser Initiative sich im Koalitionsvertrag wiederfinden. Die Politik ist gut beraten, dieser Aufgabe höchste Priorität einzuräumen. Nur so wird Vertrauen in die Institutionen des Staates zurückkehren. Das ist meine Überzeugung!

Die Handwerkskammern leisten hochprofessionelle Arbeit. Aber wir können heute nicht ihr 125-jähriges Bestehen feiern, ohne gleichzeitig daran zu erinnern, dass der Löwenanteil der Arbeit in den Kammern und Verbänden ehrenamtlich geleistet wird. Es ist ein großer Dienst, den Sie für unser Land erbringen. Am Ende ist das bei den allermeisten Ihrer Mitglieder nicht nur die Arbeit für die Kammer. Sie alle wissen: Ein Ehrenamt bleibt selten allein. Auch in unseren Städten und Gemeinden sind es vielfach die Handwerkerinnen und Handwerker, die sich in allen möglichen Bereichen ehrenamtlich engagieren. Warum wohl? Es sind eben oft Ihre praktischen Fähigkeiten, die gebraucht werden: um fürs Schützenfest alles aufzubauen, das Vereinsheim instand zu halten oder die Bühne richtig auszuleuchten. Überall werden Handwerker gebraucht. Es ist gar nicht hoch genug zu schätzen, was diese Art der ehrenamtlichen Arbeit für die Lebensumwelt und das Lebensgefühl der Menschen gerade, aber nicht nur im ländlichen Raum bedeutet. Es sind eben oft dieselben Menschen, die sich um die Zukunft ihres Berufsstandes wie um die Zukunft ihres Dorfes und ihrer Region kümmern. Für dieses Engagement möchte ich Ihnen allen heute danken!

Die Zukunft unseres Landes hängt nicht ab von den Besserwissern, sondern von den Bessermachern! Aus dem Schimpfen auf dem heimischen Sofa ist noch nie Gutes entstanden, aber beim Anpacken und Mitmachen schon. Demokratie lebt nicht allein aus der Verfassung und ihren Artikeln heraus, sondern vom Engagement der vielen. Und ich sehe mit ein wenig Sorge, dass ehrenamtliche Tätigkeit nicht mehr in allen Familien eine Selbstverständlichkeit ist. Deshalb habe ich vor zwei Wochen eine Initiative auf den Weg gebracht, die den Titel trägt: „Der Ehrentag. Für dich. Für uns. Für alle.“ Er soll nächstes Jahr zum ersten Mal stattfinden, und zwar am 23. Mai, unserem Verfassungstag. Im ganzen Land werden wir zum 23. Mai 2026 Menschen einladen, sich mit ihren Talenten, mit Elan und Tatendrang ehrenamtlich einzubringen. Und wir werden das unterstützen. Und wenn ich mir etwas wünschen darf, dann das: dass die deutsche Wirtschaft, dass auch das Handwerk, dass Sie alle dabei sind und Angebote machen! Der „Ehrentag“ bringt Menschen zusammen. Und wer weiß: Vielleicht entdecken gerade junge Menschen dabei Fähigkeiten an sich selbst, von denen sie bisher nicht einmal ahnten, und bekommen Interesse an Berufen, die sie sich bisher vielleicht nicht vorstellen konnten?

Sie wissen vielleicht, dass meiner Frau und mir dieses Thema auch persönlich am Herzen liegt, denn wir kommen beide aus Handwerkerfamilien. Unsere beiden Väter waren Tischler, mein Bruder ist Schlosser, der Bruder meiner Frau ist Zimmerermeister. Die Freude am Beruf, aber auch die Sorgen, die es gerade in kleineren Handwerksbetrieben, in kleineren Werkstätten mitunter gibt, damit sind wir aufgewachsen. Und deshalb verfolgen wir mit großem Interesse alle Entwicklungen im Handwerk. Und deshalb wissen wir: Das Interesse an Handwerksberufen und insbesondere an gewerblich-technischer Ausbildung war zuletzt über Jahre rückläufig. Daran sind wir aus der älteren Generation nicht ganz unschuldig.

Im Zuge der Akademisierung der Berufswege hatten viele Eltern die Sorge, sie enthielten ihren Kindern etwas vor, wenn sie sie nicht übers Abitur ins Studium schickten. Viele Jugendliche wiederum mögen die Sorge gehabt haben, dass die berufliche Ausbildung schon das Ende ihrer Karriere sein könnte. Dazu kam die Befürchtung, im Handwerk nicht genug zu verdienen. Beide Befürchtungen entbehren heute jeder Grundlage. Für ganz viele ist heute die berufliche Ausbildung eine optimale Einstiegsqualifikation, aber auch die Chance weiterzugehen. Übergänge in andere Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten sind viel fließender, als die meisten Eltern das vor Augen haben. Und die Einkommen im Handwerk können heute mühelos mit den Gehältern mithalten, die nach dem ein oder anderen Bachelorstudium auf dem Arbeitsmarkt geboten werden.

Will sagen: Berufliche und akademische Ausbildung sind gleichwertig – das hören Sie in vielen Reden. Aber ja: Auch wenn es so sein sollte, das wirklich zu erreichen, das ist ein langer Weg. Die Öffnung der Begabtenförderungswerke für Auszubildende oder das Aufstiegs- BAföG, was auch ein Aufstiegs-Meister-BAföG ist, sind ermutigende Schritte in die richtige Richtung. Natürlich brauchen wir in Deutschland Mathematik-Master. Aber wir brauchen auch Mechatronik-Meister und -Meisterinnen!

Wo immer ich im Ausland unterwegs war in den letzten Jahren, war unser Modell der beruflichen Ausbildung ein Thema – nicht nur ein Thema. Ich stelle immer wieder fest, mit wie viel Interesse, wie viel Neugier, manchmal auch mit Bewunderung die Qualifikation unserer Auszubildenden verfolgt wird. Und viele Länder versuchen in der Tat, auch Anleihe zu nehmen an unserem Modell. Und es gibt ja viele gute Gründe, warum unser Ausbildungssystem weltweit einen so guten Ruf hat. Gerade in den nicht einfachen wirtschaftlichen Zeiten, in denen wir uns befinden, sollten wir nicht nur daran festhalten, wir sollten dieses duale System stärken, in Berufsschulen investieren und die Betriebe motivieren auszubilden, denn das Handwerk braucht Auszubildende und Fachkräfte. Um mal ein Beispiel zu nennen: Allein die klimarelevanten Gewerke – also eine der Zukunftsbranchen – braucht bis 2030 rund 100.000 zusätzliche Fachleute.

Gegen diesen Fachkräftemangel helfen drei Dinge: Erstens brauchen wir die Wertschätzung in der Öffentlichkeit, in der deutschen Gesellschaft, die die berufliche Ausbildung verdient. Zweitens müssen wir die Potenziale der hier lebenden Jugendlichen ausschöpfen durch Werbung für hochattraktive und moderne, gut bezahlte Berufe. Und drittens wird es auch nicht gehen ohne Menschen, die von woanders zu uns kommen.

Das ist für das Handwerk nichts Neues. Viele derjenigen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten ihre Heimat verlassen haben und bei uns Arbeit gefunden haben, haben sie wo gefunden? Sie haben sie im Handwerk gefunden. Das Handwerk hat Erfahrung mit der Integration durch Arbeit und weiß: Wenn Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen, dann brauchen sie nicht nur eine Stelle, sie müssen sich in Deutschland auch willkommen fühlen, sonst bleiben sie nicht. Hetze gegen Menschen mit Migrationsgeschichte dürfen wir nicht dulden! Wir müssen ihr entschieden entgegentreten. Sonst schadet das auch dem Wirtschaftsstandort Deutschland.

Es schadet nicht nur unserem Wirtschaftsstandort, sondern auch unserer Demokratie. Wenn unsere demokratischen Grundwerte angegriffen werden, dann muss die demokratische Mitte unserer Gesellschaft Haltung zeigen. Dann müssen die Demokraten zusammenstehen. Oder wie Sie, lieber Herr Dittrich, es einmal ausgedrückt haben: „Wir leben in Zeiten, in denen Demokratie und Freiheit keine Selbstverständlichkeit mehr sind. Diese Prinzipien sind zwar im Grundgesetz festgeschrieben, es sind aber die Menschen, die diese Worte mit Leben füllen müssen – sehr konkret auch in ihrem Arbeitsalltag.“

Das Handwerk steht in besonderer Weise für die vielen Stärken unseres Landes. Sie alle schrauben, hämmern, sägen, löten, planen und entwickeln den Weg zu einer lebenswerten Zukunft. Sie alle helfen mit, die großen Aufgaben unserer Zeit zu meistern, ob es um die Digitalisierung geht, um neue Technologien oder den Umbau hin zur Klimaneutralität. Sie alle sind ein wichtiger Grund dafür, dass wir in Deutschland trotz Krise selbstbewusst und zuversichtlich nach vorn schauen können. Ich jedenfalls bin überzeugt: 125 Jahre Handwerkskammern, 75 Jahre Zentralverband des Deutschen Handwerks, das ist eine kraftvolle Tradition und ein festes Fundament, auf dem sich eine gute, eine bessere Zukunft bauen lässt. Herzlichen Glückwunsch zum doppelten Jubiläum und herzlichen Dank! «


Quelle: Bulletin 48-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 16. Juni 2025

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