Veröffentlicht am: 15.03.2022 um 00:41 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

bei der Konferenz „100 Jahre Satversme“ zum Verfassungsjubiläum von Lettland am 16. Februar 2022 in Riga:

» Es ist mir eine besondere Freude, heute hier mit Ihnen zu sein. Dies ist meine erste Reise ins Ausland in diesem Jahr. Und es ist meine erste Reise seit meiner Wiederwahl als Bundespräsident. Ich bin dankbar, dass mich diese erste Reise zu guten Freunden führt, hier nach Lettland. Unsere beiden Länder verbindet, neben vielem anderen, die gemeinsame Verfassungstradition, und ihre beiden Präsidenten verbindet, wenn ich das so sagen darf, die gemeinsame Leidenschaft für das Recht und die Rechtswissenschaft. Ich freue mich jedenfalls auf weitere Jahre guter Zusammenarbeit mit Dir, lieber Egils, und ich danke Ihnen für die Ehre, bei dieser Konferenz zum Jubiläum der lettischen Verfassung sprechen zu dürfen.

Vor drei Jahren haben wir Deutsche in Weimar, in Berlin und anderen Städten den hundertsten Geburtstag der Weimarer Reichsverfassung gefeiert. Die erste demokratische Verfassung meines Landes stieß bei diesen Feierlichkeiten und den Veranstaltungen auf große Aufmerksamkeit, viel Anerkennung – und das war etwas Neues in der deutschen Erinnerungskultur. Denn wir Deutsche haben uns nach dem Zweiten Weltkrieg lange schwergetan, die Verfassung von 1919 wirklich angemessen zu würdigen. Vermeintliche Konstruktionsfehler wurden für das Scheitern der Weimarer Republik und die Machtübernahme der Nationalsozialisten verantwortlich gemacht, und das Grundgesetz von 1949 galt lange Zeit vor allem als ein Gegenentwurf zur Weimarer Reichsverfassung.

Erst in den letzten Jahren haben Geschichts- und Rechtswissenschaft dieses Bild nach und nach korrigiert. Die erste deutsche Republik war nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt, und sie war insbesondere keine Einbahnstraße in die Barbarei. Die Demokratie hatte damals, 1918, 1919, in Deutschland eine Chance, und diese Chance verdankte sie vor allem einer Verfassung, die fest in der europäischen Rechtstradition wurzelte, zugleich aber modern und zukunftsweisend war.

Gerade deshalb war die Weimarer Verfassung auch ein Vorbild für andere Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg, als die politische Landkarte Europas neu gezeichnet wurde, überhaupt erst entstanden oder zur Republik umgeformt wurden. Besonders groß war der Einfluss auf Ihre Verfassung, auf die Satversme, auch wenn die Verfassunggebende Versammlung hier in Riga damals durchaus eigene Wege suchte und fand.

Dass das Interesse an der Weimarer Verfassung bei uns in Deutschland neu erwacht ist, das hat bestimmt auch mit dem runden Jubiläum vor drei Jahren zu tun. Aber es hat vor allem damit zu tun, dass wir uns heute in Europa wieder Sorgen machen um die Zukunft der liberalen Demokratie und den Frieden auf unserem Kontinent.

In einer Zeit, in der in unseren Gesellschaften tiefe Gräben aufreißen und vielerorts das Vertrauen in demokratische Institutionen sinkt; in der Regierungen mitten in der Europäischen Union die Grundrechte und die Unabhängigkeit der Justiz beschneiden; in der autoritäre Regime die westlichen Demokratien herausfordern und Grenzen souveräner Staaten in Europa bedroht werden – in dieser Zeit blicken wir mit wacheren Augen auf die Verfassungen, die damals in Weimar und hier in Riga entstanden sind, wir blicken aufmerksamer auf die Bedingungen ihres Gelingens und gleichzeitig auf die Ursachen ihres Scheiterns.

Heute wird uns bewusst: So wenig unsere Demokratien damals dem Untergang geweiht waren, so wenig ist heute ihre Zukunft garantiert. Deshalb ist es wichtiger denn je, dass wir, Deutsche und Letten, uns unserer europäischen Verfassungstradition gemeinsam vergewissern, wie das heute hier in diesem Saal geschieht. Und auch deshalb freue ich mich sehr, bei Ihrer Konferenz dabei zu sein.

Die Satversme, die gestern vor hundert Jahren hier in Riga verabschiedet wurde, ist die einzige republikanische Verfassung der Zwischenkriegszeit, die nach den friedlichen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa und dem Fall der sowjetischen Diktatur wieder in Kraft gesetzt wurde. Sie ist eine der ältesten noch geltenden Verfassungen der Welt, aber sie ist weder verstaubt noch verrostet, ganz im Gegenteil: Sie ist eine sehr lebendige Verfassung, offen für gesellschaftlichen Wandel, und ihr demokratischer Geist ist nach wie vor hoch inspirierend.

Hundert Jahre Satversme, das ist ein besonderes Jubiläum in unsicheren Zeiten. Allen Bürgerinnen und Bürgern Lettlands dazu meinen herzlichen Glückwunsch!

Am Ende des Ersten Weltkriegs, nach dem Zusammenbruch von Zaren- und Kaiserreich, begann in unseren Ländern ein historischer Aufbruch zur Demokratie. Während in Deutschland die Monarchie zur Republik wurde, der alte Obrigkeitsstaat zum Volksstaat umgeformt werden musste, standen die Letten damals vor der gewaltigen Aufgabe, zum ersten Mal überhaupt einen eigenen Nationalstaat zu gründen und gleichzeitig die Demokratie einzuführen – und das alles in einer Zeit, in der unsere Länder vom Krieg gezeichnet waren, Hunger und Krankheit herrschten, politische Unruhen tobten.

Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung brachten damals zahllose Letten und Deutsche, Männer und Frauen, ihren Willen zur demokratischen Republik zum Ausdruck. Und die Väter und Mütter unserer Verfassungen ließen diesen Willen 1919 bei uns und 1922 bei Ihnen Wirklichkeit werden: Zum ersten Mal in der Geschichte schrieben sie in Deutschland wie in Lettland das Prinzip der Volkssouveränität fest. Das „Volk“ nahmen sie dabei so, wie es war: in all seiner Vielfalt, mit all seinen Gegensätzen. Menschen aus allen Gruppen der Gesellschaft sollten als Staatsbürger an der politischen Selbstbestimmung tatsächlich mitwirken können – und auch als Staatsbürgerinnen! Unsere beiden Länder zählten damals zu den ersten, in denen das Frauenwahlrecht, für das Frauen in Europa so lange gekämpft hatten, in der Verfassung verankert wurde.

Weil es das Volk immer nur im Plural gibt, ist der Volkswille weder eindeutig noch einfach schon da, sondern er muss immer wieder aufs Neue ermittelt und festgestellt werden. Das war damals eine revolutionäre Erkenntnis, die wir heute wieder gegen Anfechtungen verteidigen müssen!

Der zentrale Ort, an dem die Parteien diskutieren und streiten, Interessen ausgleichen, Kompromisse finden, Mehrheitsentscheidungen treffen sollten, dieser zentrale Ort sollte das Parlament sein. Weimarer Verfassung und Satversme stellten eine starke Volksvertretung in den Mittelpunkt des Regierungssystems, und sie schrieben das damals noch ungewöhnliche Verhältniswahlrecht fest, um die Vielfalt der Gesellschaft im Parlament möglichst genau abzubilden.

Als besonders fortschrittlich gilt die Weimarer Reichsverfassung wegen ihres zweiten Hauptteils, in dem „Grundrechte und Grundpflichten“ verankert waren, nicht nur die klassischen liberalen Freiheitsrechte, sondern auch umfangreiche soziale Rechte. Ein ähnlicher zweiter Hauptteil, den der Entwurf der Satversme vorsah, konnte 1922 zwar nicht verabschiedet werden, aber die Saeima beschloss eine Reihe von Gesetzen, die den Menschen- und Bürgerrechten entsprachen.

Die Verfassungen der Weimarer Republik und der Republik Lettland schufen damit einen Raum des Rechts, in dem demokratische Selbstbestimmung und individuelle Freiheit verwirklicht und immer wieder aufs Neue austariert werden sollten und konnten. Isaiah Berlin, der Sohn dieser Stadt, hat diese Prinzipien in seiner berühmten Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit auf den Begriff gebracht, und er hat betont, dass beide miteinander durchaus in Konflikt geraten können. Aber Wesen und Wert der liberalen Demokratie liegen eben gerade darin, dass sie versucht, beidem gerecht zu werden: dem „Wunsch danach, an dem Prozess, durch den mein Dasein kontrolliert wird, wenigstens beteiligt zu sein“, wie Berlin schrieb, und dem „Wunsch nach einem Raum, in dem ich frei handeln kann“.

Wie alles, nahezu alles, was von Menschenhand gemacht ist, hatten auch unsere Verfassungen von 1919 und 1922 Mängel. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus hat der Parlamentarische Rat in Westdeutschland verfassungsrechtliche Lehren gezogen und die Weimarer Ideale von Freiheit und Demokratie fester und wehrhafter ins Fundament der Bundesrepublik eingelassen. Und nach der Selbstbefreiung in den 1990er Jahren haben Sie in Lettland ihre alte Verfassung an manchen Stellen geändert und angepasst. Zu den wichtigsten Neuerungen in unseren Ländern zählen ganz sicher die unabhängigen Verfassungsgerichte als Hüter der Verfassung.

Die jungen Demokratien, die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Lettland entstanden, erwiesen sich durchaus als kraftvoll und lebensfähig, trotz mancher Mängel, trotz aller Belastungen und Anfeindungen. Auf dem Boden der Verfassung brachen Demokratinnen und Demokraten, mitten in einem von Krieg, Hunger und Zerstörung geprägten Europa, zu einer gerechteren Gesellschaft auf, fanden in Koalitionen zusammen, leiteten Reformen ein.

Die Frauen und Männer, die damals unsere Demokratien unter unvorstellbar schweren Bedingungen gestalteten, verdienen unseren Respekt, auch unsere Dankbarkeit. Aus der Erinnerung an das, was sie vor hundert Jahren unter schwersten Bedingungen geleistet haben, können wir heute doch eigentlich Mut und Kraft schöpfen für die Aufgaben, die vor uns liegen. Ich finde, auch das ist ein Signal, das von Ihrem Verfassungsjubiläum hier in Lettland ausgehen kann.

Wir wissen aber auch: In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wurden in Europa vierzehn Demokratien von innen ausgehöhlt und durch autoritäre Regime ersetzt, darunter auch die damals noch jungen Republiken Deutschlands und Lettlands.

Dass liberale Demokratien damals gezielt zerstört wurden, hatte verschiedene Gründe. Eines aber hatten Deutschland und Lettland gemeinsam: Es mangelte in unseren beiden Ländern an einem Verfassungskonsens, an einer republikanischen Haltung, an der Bereitschaft, in Politik, Staat und Gesellschaft ausreichend Verantwortung zu übernehmen. Dass Freiheit immer Verantwortung mit sich bringt, auch darauf hat Isaiah Berlin unermüdlich hingewiesen: Verantwortung für sich und für andere, aber auch für die liberale Demokratie, ohne die es keine Freiheit geben kann.

Sie in Lettland mussten auch erleben, wie Ihre unabhängige Republik von außen angegriffen und zerstört wurde. Der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 war der Auftakt zu Krieg und Besatzung, zehntausende Menschen aus den baltischen Staaten wurden verschleppt oder umgesiedelt, fast die gesamte jüdische Bevölkerung wurde von Nazi-Deutschland ermordet. Heute Morgen haben wir die Žanis-Lipke-Gedenkstätte besucht, die an den lettischen Hafenarbeiter erinnert, der während der deutschen Besatzung mehr als fünfzig Juden versteckte und ihnen so das Leben rettete. Ein mutiger und aufrechter Mann, einer von wenigen, zu wenigen in jener Zeit.

Die Erinnerung an Diktatur, Krieg und Shoah ist konstitutiv für die deutsche Demokratie. Wir Deutsche bleiben uns unserer historischen Verantwortung bewusst, dass nie vergessen werden darf, was damals geschehen ist. Gerade in einer Zeit, in der wir erleben, wie manche die Geschichte zur Waffe schmieden, ist es wichtig, dass wir uns der historischen Erinnerung gemeinsam stellen, um Vorurteile zu überwinden, Verständigung zu fördern und eine friedlichere Zukunft möglich zu machen.

Es waren die Mutigen in Lettland, Estland und Litauen, die 1989 zum Vorbild für die Freiheitsbewegung in Ostdeutschland wurden. Die Bilder von den Hunderttausenden, die einander bei den Händen fassten und von Tallinn über Riga bis nach Vilnius den Abgesang auf Diktatur und Unfreiheit anstimmten, diese Bilder haben viele Frauen und Männer in der damaligen DDR ermutigt, ebenfalls auf die Straße zu gehen und ihre Stimme zu erheben.

Es ist dem Freiheitswillen der Menschen in Mittel- und Osteuropa, dem atlantischen Bündnis und der Entschlossenheit des Westens zu verdanken, dass wir unsere demokratische Verfassungstradition heute als Freunde und Partner in einem geeinten Europa fortschreiben können. Nach all den Abwegen und Abgründen unserer Geschichte finden sich Deutsche und Letten in der Europäischen Union wieder, in einer Rechts- und Wertegemeinschaft, in der alle Mitglieder die gleichen Rechte und Pflichten haben, in der jedes einzelne Mitglied aber auch die gleiche Verantwortung für den Zusammenhalt Europas trägt.

Diese Europäische Union ist die zur Institution gewordene Lehre aus Krieg und Diktatur. Die Werte, auf die sie sich gründet, sind im Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union fest verankert: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte, die Rechte der Minderheiten, diese Werte sind verbindlich für alle Mitgliedstaaten.

Die Europäische Kommission wacht als Hüterin der Verträge über die Einhaltung europäischen Rechts, und es ist der Europäische Gerichtshof, der die Wahrung des Rechts garantiert und sichert. Ich sehe darin keine Gefahr für nationale Verfassungen, sondern sie stärken unsere gemeinsamen europäischen Werte, die Ausdruck der Verfassungsüberlieferungen sind, und stärken ihre Grundlage in unseren nationalen Verfassungen.

Diese Stärkung ist notwendig, denn wir in Europa wollen auf beides nie wieder verzichten: auf Demokratie und Liberalismus, auf politische Selbstbestimmung und individuelle Freiheit! Nichts davon ist auf ewig garantiert. Und nicht nur in der Geschichte gab es Anfechtungen der Demokratie. Wir erleben sie auch heute und auch innerhalb der Familie liberaler Demokratien des Westens. Im Bewusstsein unserer Geschichte müssen wir uns heute wieder fragen, was wir tun können, um Vertrauen in unsere Institutionen zu bewahren und zurückzugewinnen und unserem demokratischen Projekt eine sichere Zukunft zu geben.

In den vergangenen Jahren haben wir immer wieder erfahren, wie fragil, wie zerbrechlich der Zusammenhalt in unseren Gesellschaften ist. Unsere Verfassungen sind der Rahmen für ein gleichberechtigtes und friedliches Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion, Kultur und politischer Überzeugung. Aber wir müssen dieses Miteinander im Alltag immer wieder einüben, und wir müssen vor allem unsere Konflikte offen austragen, friedlich, respektvoll und, wo immer es geht, im vernünftigen Dialog. Ein Verfassungskonsens, den wir brauchen, ist keine feststehende Tatsache, und er kann auch nicht „von oben“ verordnet werden. Wir alle, als Bürgerinnen und Bürger, müssen ihn in einem ständigen Prozess immer wieder aufs Neue herstellen.

In der Pandemie ist uns bewusst geworden, wie wichtig öffentliche Räume sind, in denen wir uns als Verschiedene begegnen und austauschen, in denen wir uns streiten, aber auch als Gemeinschaft erleben können. Nur im Gespräch verstehen wir, dass wir Werte und Interessen ausgleichen und nach Kompromissen suchen müssen; dass wir nie alles wissen und uns vielleicht öfter irren als gedacht. Wir müssen Vorsorge treffen, dass Entscheidungen auch korrigierbar bleiben, gerade weil es in einer sich beständig wandelnden Welt keine letzte Gewissheit und keine endgültige Lösung gibt.

Damit Demokratie gelingt, brauchen wir deshalb auch unabhängige und hochwertige Medien, die ausgewogen und verlässlich berichten, zwischen Fakten und Fake unterscheiden, viele Stimmen zu Wort kommen lassen und ein breites Publikum erreichen. Wir brauchen eine freie Wissenschaft, die auch unangenehme Wahrheiten erforschen kann, gerade, wenn es um unsere Geschichte geht – damit nicht mit falschen historischen Mythen neue Konflikte geschürt und gerechtfertigt werden. Wir brauchen einen Rechtsstaat, der entschlossen gegen Hass und Gewalt, Rassismus und Antisemitismus vorgeht, gegen Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit, vom wem auch immer sie ausgeht und gegen wen auch immer sie sich richtet.

Damit Demokratie gelingt, brauchen wir einen Sozialstaat, der das Versprechen der Gleichheit der Chancen tatsächlich einlöst. Wir brauchen eine Politik, die auch denen eine gute Perspektive bietet, die sich in Zeiten großer Umbrüche vor Verlusten fürchten. Und wir brauchen Bürgerinnen und Bürger, die bereit sind, sich einzubringen und Verantwortung für das Gesamtwohl zu übernehmen, nicht zuletzt auch in den politischen Parteien.

Damit Demokratie in einer unruhigen Welt gelingt, muss sie nach innen wie nach außen wehrhaft sein. Lettland und Deutschland setzen sich gemeinsam ein für eine regelbasierte internationale Ordnung. Aber die Welt als Ganzes ist – leider – noch weit entfernt von einer Rechtsgemeinschaft, in der die Stärke des Rechts an die Stelle des Rechts des Stärkeren getreten ist. Das ist eine weitere Lehre aus unseren leidvollen Erfahrungen der Geschichte. Aber als Demokratien stehen wir heute nicht allein. Wir stehen in der Schicksalsgemeinschaft der Europäischen Union und in der Verteidigungsgemeinschaft des Nordatlantischen Bündnisses zusammen.

Und deshalb sage ich auch an dieser Stelle: Wenn wir über bedrohten Frieden in Europa reden, und das tun wir – gestern im Gespräch, hier in diesem Raum auf der Pressekonferenz – naturgemäß angesichts der bedrohlichen Lage: Es ist die russische Führung, die mit ihren aktuellen militärischen Aktivitäten den Frieden in Europa in diesen Tagen bedroht. Und es ist die russische Führung, die dafür verantwortlich ist, dass viele Menschen in Osteuropa, auch hier in Lettland, in diesen Tagen wieder in Angst, viele in Sorge vor einem Krieg leben.

Wir stehen fest und entschlossen an der Seite unserer Partner in der Europäischen Union und der Nato. Und wir stehen gegen jede Drohung und Aggression. Und deshalb verstärken wir unsere Bundeswehrpräsenz im Nato-Verband in Litauen. Die Bundesregierung hat dazu die notwendigen Entscheidungen in den letzten Tagen getroffen.

Vor drei Tagen, nach meiner Wiederwahl als Bundespräsident, habe ich in der Bundesversammlung gesagt: „Wir Deutsche stehen an der Seite der Esten, der Letten, der Litauer; wir stehen gemeinsam mit Polen, Slowaken und Rumänen und allen Bündnispartnern: Sie können sich auf uns verlassen. Ohne jede Zweideutigkeit bekennen wir uns zu den Verpflichtungen in diesem Bündnis.“

Ich will das gerne hier in Riga auch anlässlich dieser Veranstaltung noch einmal bekräftigen: Lettland kann sich wie seine baltischen Nachbarn auf Deutschlands Solidarität und Deutschlands Beistand verlassen. Und auch jede Aggression gegenüber der Ukraine kann und wird nicht ohne eine gemeinsame und starke Antwort bleiben. Das hat gestern auch der deutsche Bundeskanzler gegenüber Präsident Putin noch einmal deutlich gemacht. Gemeinsam wollen wir nicht, dass unser Kontinent zurückfällt in Misstrauen, Feindschaft und Krieg. Wir wollen Frieden und gute Nachbarschaft in ganz Europa. Es sind ernsthafte Gespräche, nicht die Sprache der Waffen, die der einzig erfolgversprechende Weg sind, zu einem Ausgleich der Interessen zu kommen. Wir haben gestern erstmals seit Wochen kleinste Signale aus Moskau gehört, dass es eine Bereitschaft zur Deeskalation gibt. Entscheidend und wichtig ist, dass den Worten, die wir gehört haben, in diesen Tagen auch konkrete und belastbare Taten folgen. Ich glaube, Millionen von Menschen in ganz Europa hoffen genau darauf!

Zum Schluss: Demokratie ist nie fertig, sie bleibt immer unvollkommen und im Wandel. Sie ist nie garantiert und will immer wieder errungen werden. Sie ist Versprechen und Erwartung zugleich! Sie setzt auf Bürgerinnen und Bürger, die nicht nur „Staatskunden“ sind, sondern sich einbringen, sich engagieren, die Gemeinschaft durch ihr Engagement erst herstellen. Sie ist eine anspruchsvolle, eine anstrengende, aber zugleich unterschätzte Form politischer Organisation.

Insbesondere dort, wo alle Macht in einer Hand konzentriert ist, da wird die Vielstimmigkeit unserer Demokratien oft als Schwäche gesehen. Wer aber meint, unsere vielstufigen Entscheidungsprozesse zeigten nur unsere Unentschlossenheit oder unser Streben nach Wohlfahrt offenbare nur unsere Naivität, der irrt sich. Die liberalen Demokratien sind nicht schwach. Im Gegenteil: Sie sind stark, weil die Idee in ihrem Innern stark und lebendig ist. Wo wüsste man das besser als hier in Lettland?

Und deshalb: Lassen Sie uns den Geist unserer Verfassungen auch in Zukunft lebendig halten, in unseren Ländern, in Europa, in der Welt. Lassen Sie uns gemeinsam Partei ergreifen für die liberale Demokratie – mit republikanischer Begeisterung, wie sie in dem Ruf zum Ausdruck kam, der damals hier durch diese Stadt schallte: „Lai dzivo briva Latvija!“ «


Quelle: Bulletin 20-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 21. Februar 2022

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