Veröffentlicht am: 15.04.2022 um 19:07 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

bei der Eröffnung der Moses-Mendelssohn-Ausstellung am 13. April 2022 in Berlin:

» „Nach so manchen barbarischen Jahrhunderten, in welchen die menschliche Vernunft dem Aberglauben und der Tyrannei hat frönen müssen, hat die Weltweisheit endlich bessere Tage erlebt.“

Als Moses Mendelssohn diese Zeilen schrieb, war er eine europäische Berühmtheit. Der deutsche Spinoza, der Weltweise, der Jude zu Berlin, der Luther der Juden – dieser Moses Mendelssohn war einer der bekanntesten und am meisten gelesenen Denker seiner Zeit. Ein Bestsellerautor, würde man heute sagen. Ein umfassend gebildeter und vielseitiger dazu: Literaturkritiker und Philosoph, jüdischer Gelehrter und Aufklärer, gern gesehener, scharfsinniger Gast in den Berliner Salons und ebenso scharfsinniger Gastgeber, Familienvater und Fabrikant.

Wie dankbar war Mendelssohn, dass er in dieser Zeit der Aufklärung leben durfte: „Ich habe der Vorsehung zu danken, dass sie mich in diesen glücklicheren Tagen hat geboren werden lassen.“ Wer diese Zeilen heute, in unserer Zeit, liest, den werden sie nicht unberührt lassen. Wie viel Hoffnung spricht daraus! Wie viel Hoffnung beflügelte ihn und seine Mitstreiter, diese jungen Wilden des europäischen 18. Jahrhunderts. Wir träumten von nichts als Aufklärung – ich werde nachher noch einmal auf diesen Satz Mendelssohns zurückkommen.

Wir träumten von nichts als Aufklärung, das ist auch der Titel der wunderbaren Ausstellung, die ich gerade schon sehen konnte. Ich freue mich sehr, dass ich heute hier sein kann. Haben Sie, liebe Hetty Berg, lieber Thomas Lackmann, ganz herzlichen Dank für die Einladung! Ich danke Ihnen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jüdischen Museums und Ihnen, der Mendelssohn-Gesellschaft, dass Sie dem großen Aufklärer und Wegbereiter der Emanzipation der Juden in Deutschland eine so umfassende Ausstellung widmen.

Mir persönlich ist dieser Moses Mendelssohn sehr nah, und das meine ich auch ganz wörtlich. Im vergangenen Jahr habe ich die Bildergalerie in meinem Amtssitz, im Schloss Bellevue, nachhaltig umgestaltet, weil es mir wichtig ist, nicht nur die Bildnisse der monarchischen Vorbesitzer, sondern unsere freiheitlichen demokratischen Traditionen stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Die Epoche der Aufklärung darf da natürlich nicht fehlen. Seither hängt ein Porträt Mendelssohns, geschaffen von Maler Anton Graff, im Salon Voltaire – eine Dauerleihgabe des Landes Berlin, für die ich sehr danke. Jetzt ist dieser Platz an der Wand für ein paar Monate leer, und, auch wenn es etwas merkwürdig klingt, ich freue mich darüber! Ich freue mich, dass dieses Porträt nun Teil der Ausstellung hier ist. Und ich kann mir keinen besseren Ort vorstellen für diese große Hommage an Moses Mendelssohn als hier im Jüdischen Museum, im Herzen der Stadt Berlin, in der er den größten Teil seines Lebens verbracht hat.

Die Gedanken dieses „Herrn Moses in Berlin“, so der Titel einer der schönsten Biografien über ihn, sind unerhört modern. Er scheint uns so nah: Das, wofür er kämpfte, sind die Werte, ohne die unsere liberalen Demokratien nicht entstanden wären und die in vielen modernen demokratischen Verfassungen heute festgeschrieben sind. Und zugleich ist er uns doch fern. Allenfalls als Freund Lessings und als Urbild von dessen Nathan lebe Mendelssohn noch im allgemeinen historischen Bewusstsein, so haben Sie, lieber, verehrter Julius Schoeps, vor einigen Jahren in einem herausragenden Buch über Ihren Vorfahren geschrieben. „Vergessen ist, dass er einer der geistreichsten Denker im Europa des 18. Jahrhunderts war“, sagen Sie. Vor allem aber sind seine Verdienste um die Gleichstellung des deutschen Judentums verblasst.

So nah und so fern: Dieser Spannung spüren Sie ja auch in dieser Ausstellung nach. Ich bin sicher, dass sie dazu beitragen wird, den großen Aufklärer wieder stärker in unser Bewusstsein zu rücken, in seiner ganzen Komplexität.

Wer sich mit Moses Mendelssohn beschäftigt, den wird schon seine Biografie faszinieren. Der Weg zum Ruhm, zum bewunderten Mitglied der Berliner Gesellschaft war ihm wahrlich nicht vorgezeichnet. Es war vielmehr ein für seine Zeit ganz und gar ungewöhnlicher Aufstieg. Als Mausche mi-Dessau im Jahr 1743 als 14-Jähriger nach Berlin kam, war seine Lage verzweifelt: Er war ein bettelarmer, schutz- und rechtloser Talmudschüler.

Mendelssohns Antwort war lernen und nochmals lernen, begierig, Tag und Nacht. Bildung, das war später auch ein Schlüsselbegriff in seinen Schriften. Sein Lehrmeister, der Rabbiner David Fraenkel, hatte ihn mit dem mittelalterlichen jüdischen Philosophen Maimonides in Berührung gebracht. Er sollte sein Denken prägen. In Berlin kamen die antiken und zeitgenössischen Philosophen dazu, Mathematik, Astronomie, klassische und moderne Sprachen. Besonders wichtig: Mendelssohn brachte sich Deutsch bei – heimlich, denn Deutsch zu sprechen war Jüdinnen und Juden damals noch verboten. Streng wachten die Rabbiner darüber.

Berlin in der Mitte des 18. Jahrhunderts, das war für viele eine Verheißung. Die preußische Hauptstadt war auf dem Weg zur Metropole. Aber Berlin, das hieß für Mendelssohn auch, zur kleinen jüdischen Minderheit zu gehören, die wenige oder gar keine Rechte hatte und nur ein paar wenige Berufe ergreifen durfte. Das hieß, mit dem Stigma des Fremden versehen zu sein. Erst 1763 bekam er wenigstens den Status als außerordentlicher Schutzjude.

Dabei lebten Jüdinnen und Juden zur Zeit der Aufklärung schon seit Jahrhunderten in Deutschland. Jüdinnen und Juden haben unsere Geschichte mitgeschrieben und unsere Kultur geprägt – das gilt auch und gerade für die weitverzweigte Familie Mendelssohn. Jüdisches Leben ist in unserem Land wieder aufgeblüht, und ich bin zutiefst dankbar dafür. Wie lebendig, voller Schwung, wie vielfältig es ist, das hat auch das Festjahr 1.700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland gezeigt.

Diese Geschichte der Juden in Deutschland ist eine von Emanzipation und Blüte, ja. Es ist aber auch eine Geschichte von Demütigung, Ausgrenzung, Verfolgung, Vernichtung, bis hin zum Menschheitsverbrechen der Shoah. Demütigung, Ausgrenzung, Rechtlosigkeit – Moses Mendelssohn hat es selbst erlebt.

Die Wende in seinem Leben kam mit der Anstellung als Hauslehrer bei dem Seidenfabrikanten Isaak Bernhard. Später stieg Mendelssohn zum Buchhalter und sogar zum Teilhaber auf. Mindestens genauso wichtig aber war, dass ihn Aaron Salomon Gumpertz in die gebildete Berliner Gesellschaft einführte, wo er 1754 auch Gotthold Ephraim Lessing begegnete. Die Freundschaft zu Lessing und zu dem Verleger Friedrich Nicolai war ein weiterer Wendepunkt. Das Dreigestirn der Berliner Aufklärung war unerhört produktiv und kreativ. Mendelssohn konnte sich geistig und publizistisch entfalten, wie es kaum einem deutschen Juden zuvor möglich oder gelungen war. In einer Zeit, in der eine bürgerliche Öffentlichkeit überhaupt erst entstand in den Gesprächszirkeln und Salons der preußischen Hauptstadt, war er ein Brückenbauer, ein Vermittler zwischen den Kulturen und Religionen, ein Weltweiser und Menschenfreund, der das Gespräch suchte und um Ausgleich bemüht war.

Schon mit seiner ersten größeren philosophischen Schrift traf Mendelssohn einen Nerv. „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“, eine moderne Übertragung der Platonischen Dialoge, erschien nicht nur in mehreren Auflagen, sondern wurde in zehn Sprachen übersetzt. Der Beweis, dass die Seele unsterblich ist und trotzdem die Gesetze der Vernunft gelten, beschäftigte seine Zeitgenossen weit über theologische Kreise hinaus. Die Aussöhnung von Religion und Vernunft, das ist ein zentrales Motiv, ein Axiom in Mendelssohns Denken.

Nicht minder erfolgreich war sein zweites großes Werk „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“. Es war eine Sensation, würden wir heute sagen. Wagte es da doch ein gläubiger Jude, über das Verhältnis von Staat und Kirche nachzudenken und für die vollständige Gleichstellung der Juden einzutreten. Jerusalem, das ist ein glänzend geschriebenes Manifest für Religions- und Gewissensfreiheit, für die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, für Toleranz und ein friedliches Miteinander. „Weder Kirche noch Staat haben also ein Recht, Grundsätze und Gesinnungen der Menschen irgendeinem Zwang zu unterwerfen“ – das ist es, was Mendelssohn so modern macht.

Man kann seine Bedeutung gar nicht hoch genug einschätzen: Moses Mendelssohn hat den Weg bereitet für die Gleichstellung der Juden in Deutschland. Er kämpfte dafür, dass sie aus Isolation und Entrechtung, wie sie seit dem Mittelalter bestand, heraustreten konnten und Teil der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft wurden. Er war ein wichtiger Vordenker der Haskala.

Nur erlebt hat er diese Gleichstellung nicht. Immer wieder wurde auch er, der Verehrte, Geachtete, Ziel von Spott, Neid und Hass. „Ich ergehe mich zuweilen des Abends mit meiner Frau und meinen Kindern“, so schildert Mendelssohn das Leben seiner Familie im Berlin der Aufklärung einmal. „Papa! Papa! fragt die Unschuld, was ruft uns jener Bursche dort nach? Warum werfen sie mit Steinen hinter uns her? Was haben wir ihnen getan? Ja, lieber Papa! spricht ein Anderes, sie verfolgen uns immer in den Straßen und schimpfen: Juden! Juden! Ist denn dieses so ein Schimpf bei den Leuten, ein Jude zu sein?“ Der Hass auf die Juden traf anlasslos, er gehörte zum christlichen Kanon und wurde in den Zeiten des wachsenden Nationalismus Teil der deutschen Ideologie.

Mendelssohn litt unter den Beleidigungen, den Demütigungen, unter uralten antisemitischen Vorurteilen und Klischees. Und wie sollte er nicht! Er litt darunter, dass Friedrich II. verhinderte, dass er in die neugegründete Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde. Er litt unter der Unterscheidung von Juden und Deutschen. Sie hatte nur ein Ziel: Ausgrenzung. Und das hat er gespürt.

Aber das ist nicht nur ein Thema der Vergangenheit. Wir alle wissen: Diese Form der Ausgrenzung gibt es noch heute in unserem Land. Schlimmer noch, in den vergangenen Jahren äußert sich Antisemitismus wieder viel unverhohlener, auf der Straße, auf dem Schulhof, auf angeblichen Spaziergängen, aber vor allem im Netz. Wir müssen wachsam sein. Wir müssen jeder Form von Antisemitismus entschieden entgegentreten. Wir dürfen nicht wegschauen, wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland ausgegrenzt, diffamiert, bedroht, sogar tätlich angegriffen werden. Das ist die Lehre aus unserer Geschichte. Unsere Verantwortung kennt keinen Schlussstrich.

Jüdinnen und Juden sind keine Fremden, keine Anderen. Sie sind Teil von uns: Das ist es, wofür Moses Mendelssohn gekämpft hat. Das ist sein Vermächtnis. Das ist es, wofür wir auch heute eintreten müssen!

Mendelssohns Vermächtnis ist universal. Toleranz, Meinungsfreiheit und die Kraft der Vernunft und Wissenschaft, ein friedliches Miteinander der Religionen, Humanität und die Geltung der Menschenrechte – diese Werte verbinden sich mit ihm. Auf ihnen gründen unsere modernen liberalen Demokratien.

Wir wissen, dass wir diese Werte, dass wir unsere Demokratie nie für selbstverständlich halten dürfen. Sie sind nicht auf ewig garantiert. In diesen Wochen, in denen wir erleben, wie eine atomare Großmacht einen brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen ein souveränes, demokratisches Land in Europa führt, wird uns das aufs Neue schmerzlich bewusst. Die Grausamkeit der Angreifer, das unendliche Leid und die Zerstörung, die sie über die Ukraine bringen, die furchtbaren Verbrechen an der Zivilbevölkerung erschüttern mich.

Dieser Krieg erschüttert uns alle. Er bedrückt und er bedrängt uns, er fordert uns heraus: Schutz und Hilfe für die, die fliehen müssen, das ist das eine. Über 400.000 Menschen dürften es inzwischen sein, die hier bei uns in Deutschland Zuflucht und Unterkunft finden. Aber es geht um mehr: auch um die Unterstützung derjenigen, die den tapferen Kampf gegen die russischen Angreifer führen, mit Schutzausrüstung und ja, auch mit Waffen! Und es geht um Sanktionen, die schärfsten, die Europa jemals beschlossen hat, um Putin dazu zu bewegen, der Gewalt ein Ende zu setzen und die Unabhängigkeit der Ukraine zu respektieren. Sanktionen, die spürbar Folgen und Härten auch für uns haben. Solidarität heißt auch die Bereitschaft, Lasten zu tragen. Viel spricht dafür, dass wir sie noch lange tragen müssen und sie auch unser Leben verändern werden. Angesichts der schrecklichen Bilder grausamer Kriegsverbrechen, von in Schutt und Asche gelegten Städten, Berichten von Massengräbern – und das in einem Land, das vor 80 Jahren zum Opfer furchtbarster deutscher Verbrechen wurde – können wir uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Unser Land steht fest an der Seite der Ukraine!

Lassen wir zum Schluss noch einmal Moses Mendelssohn zu Wort kommen. „Wir träumten von nichts als Aufklärung und glaubten durch das Licht der Vernunft die Gegend so aufgehellt zu haben, dass die Schwärmerey sich gewiss nicht mehr zeigen würde“ – so lautet der ganze Satz in dem eingangs bereits erwähnten Brief aus dem Jahr 1784. Ein Jahr später starb Moses Mendelssohn mit nur 56 Jahren. Ein Traum sollte die Aufklärung nach dieser kurzen Zeit der Hoffnung vorerst bleiben. Das Licht der Vernunft strahlte nicht lange.

Diese Zeit des Aufbruchs, des Umbruchs, der himmelstürmenden Ideen und Ideale in Frankreich, Deutschland, Preußen, sie war auch eine Zeit des Übergangs. Die Aufklärer wussten bereits um die Grenzen der Aufklärung. Es war, als ob Mendelssohn ahnte, was Europa noch bevorstand. „Allein, wie wir sehen, steiget schon, von der andern Seite des Horizonts, die Nacht mit allen ihren Gespenstern wieder empor. Das Fürchterlichste dabey ist, dass das Uebel so thätig, so wirksam ist. Die Schwärmerey tut, und die Vernunft begnügt sich zu sprechen“, schrieb er im gleichen Brief. Eine tiefe Resignation, die man daraus lesen kann.

Das Übel ist so tätig, so wirksam – Worte, die uns gerade jetzt in besonderer Weise berühren. Sie müssen uns eine Mahnung sein, dass wir unsere Werte, die Werte der Aufklärung, unsere Freiheit und unsere Demokratie, dass wir Humanität und die Menschenwürde immer wieder aufs Neue schützen und verteidigen. Damit die Nacht mit ihren Gespenstern nicht wieder emporsteigt. «


Quelle: Bulletin 48-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 14. April 2022

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