Veröffentlicht am: 22.05.2022 um 14:38 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB)-Bundeskongresses am 8. Mai 2022 in Berlin:

» Heute vor 77 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende und mit ihm die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, die Zerstörung, Tod und millionenfaches Leid über ganz Europa gebracht hat.

Der 8. Mai ist für uns Deutsche ein Tag der Dankbarkeit. Es waren Alliierte aus dem Westen und dem Osten, die Hitler vor 77 Jahren niedergerungen haben, und wir Deutsche bekennen uns heute zu diesem Datum als Tag der Befreiung. Es war eine Befreiung von außen. Bis zu unserer inneren Befreiung sollte es noch ein weiter Weg werden. Wir haben vorhin gehört, wie Esther Bejarano, die den Holocaust überlebt hatte, in einem offenen Brief das – so wörtlich – „große Schweigen nach 1945“ beklagte. Bejarano schrieb: „Plötzlich gab es keine Nazis mehr […] Uns aber hat Auschwitz nicht verlassen.“

Der 8. Mai ist auch ein Tag des Erinnerns. Wir erinnern an den Schrecken der NS-Herrschaft und den erbarmungslosen Vernichtungskrieg, den die Deutschen im Osten Europas geführt haben. Wir erinnern an das Leid unter den Völkern der damaligen Sowjetunion, an die Opfer von Gewalt, Rassenhass und Verfolgung. Wir erinnern an den millionenfachen Mord an den europäischen Juden, an den Zivilisationsbruch der Shoah.

Der 8. Mai ist ein Tag der Mahnung. Ohne die Erinnerung an diese Verbrechen, die von Deutschland ausgingen, an diese Verbrechen, die Deutsche verübt haben, ist die deutsche Geschichte – und Gegenwart – nicht zu begreifen. Unsere Verantwortung vor der Geschichte kennt keinen Schlussstrich; das ist es, was uns dieser Tag aufgibt.

Sehr lange war der 8. Mai aber auch ein Tag der Hoffnung. Wer den Zweiten Weltkrieg überlebte, durfte die Hoffnung haben, dass der europäische Kontinent aus der Geschichte lernt, dass niemand mehr auf Krieg als Mittel der Politik setzt. Wer die Zeit des Kalten Krieges erlebte, der weiß um die Hoffnung, die mit der Schlussakte von Helsinki verbunden war, damals, 1975, als sich alle europäischen Staaten und auch die Sowjetunion zur Unverletzlichkeit der Grenzen bekannten und zum Verzicht auf Gewalt.

Generationen von Politikern haben dafür gearbeitet, dass „Nie wieder“ auch „Nie wieder Krieg in Europa“ heißt. Michail Gorbatschow hat uns eine Vision mit auf den Weg gegeben: das gemeinsame europäische Haus.

Aber heute, an diesem 8. Mai, ist der Traum des gemeinsamen europäischen Hauses gescheitert; ein Albtraum ist an seine Stelle getreten. Dieser 8. Mai ist ein Tag des Krieges.

Wir alle sind erschüttert und aufgewühlt von dem brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, den eine atomare Großmacht nun seit mehr als zwei Monaten gegen ein souveränes, demokratisches Land in Europa führt. Die Ukrainer leiden unermesslich unter der Grausamkeit der Angreifer, unter den Zerstörungen, die die russischen Truppen über ihr Land bringen. Die Bilder von zerbombten Städten und hungernden Menschen, von verzweifelten Müttern, Großmüttern, Kindern auf der Flucht, die Bilder von Massengräbern und Zeugnissen schwerster Kriegsverbrechen, diese Bilder zerreißen uns das Herz.

Dieser Krieg überschattet und prägt auch Ihren Bundeskongress – wie sollte es anders sein. Lieber Reiner Hoffmann, ich bin dankbar für die Einladung, heute bei Ihnen sein und zu Ihnen sprechen zu dürfen. Dieser Krieg ist ein Bruch mit vielem, was uns als selbstverständlich galt. Er ist ein Epochenbruch. Dieser Krieg bedroht die Ukraine in ihrer Existenz. Wladimir Putin will die Ukraine als freies, demokratisches Land auslöschen. Er verletzt nicht nur ihre Grenzen, er bestreitet ihr das Recht, ein Staat zu sein. Putin zerstört damit endgültig die Grundlage der europäischen Friedensordnung, wie wir sie nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg gebaut haben: Territoriale Souveränität, freie Bündniswahl und Gewaltverzicht, unterschrieben von Moskau im Pariser Vertrag – das alles gilt ihm nichts mehr. Der Angriff auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf die Idee der liberalen Demokratie und auf die Werte, auf denen sie gründet: Freiheit, Gleichheit, die Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde.

Unsere Antwort ist eindeutig und klar: Wir stehen an der Seite der Ukraine, aus voller Überzeugung und mit ganzem Herzen, gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn! Denn auch das ist eine Lehre des 8. Mai 1945: dass wir Europäer uns nicht noch einmal auseinandertreiben lassen durch aggressiven Nationalismus und Völkerhass! Nationalismus, Völkerhass und imperialer Wahn dürfen nicht die Zukunft Europas beherrschen. Das müssen wir verhindern!

Und wie verlogen, wie geschichtsklitternd klingen Putins Behauptungen, gerade am 8. Mai und gerade in deutschen Ohren? Wenn er von Faschismus spricht, von „Entnazifizierung“, dann lügt er. Das ist eine so perfide wie zynische Verdrehung der Geschichte! Wenn Putin am morgigen 9. Mai seinen brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine gleichsetzt mit dem Kampf gegen den Nationalsozialismus, dann ist auch das ein perfider und zynischer Missbrauch der Geschichte! Unter dem Vorwand der Entnazifizierung lässt er sogar Menschen töten, die schon einmal durch die Hölle gegangen sind: auch viele Überlebende des Holocaust. Welche Barbarei!

Ich denke dabei an Boris Romantschenko, den Vizepräsidenten des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora. Vier deutsche Konzentrationslager hat Boris Romantschenko überlebt – und sich später unermüdlich für Versöhnung eingesetzt. Er kämpfte für eine bessere Welt in Frieden und Freiheit. Jetzt, in diesem Krieg, starb der 96-Jährige im russischen Bombenhagel in seiner Wohnung in Charkiw. Sein Tod erschüttert mich zutiefst. Ich verbeuge mich in tiefer Trauer vor Boris Romantschenko.

Ich denke dabei auch an Vanda Semjonowna Obiedkowa. Als Kind erlebte sie Unvorstellbares, versteckte sich in einem Keller in ihrer Heimatstadt Mariupol vor den NS-Schergen. Jetzt, in diesem Krieg, musste sie erneut in einem Keller Schutz suchen, 91 Jahre alt, schwer krank, ohne Wasser, ohne Strom, bei Eiseskälte, so hat es ihre Tochter berichtet. Auch Vanda Semjonowna Obiedkowa hat als Überlebende immer wieder ihre Geschichte erzählt, als Mahnung und Warnung für die Nachgeborenen. Sie starb in ihrem geliebten, belagerten, zerbombten Mariupol.

Zutiefst bewegt hat mich auch das Schicksal einer Gruppe von Überlebenden, die ich erst vor wenigen Tagen getroffen habe, nicht weit von hier in einem Pflegeheim in Berlin. Hochbetagte, die dem deutschen Völkermord an den Juden in der damaligen Sowjetunion entkommen konnten. „Es ist der zweite Krieg für mich“, das hat mir Svetlana Sabudkina erzählt, die als Kind vor den Deutschen aus Kiew nach Osten geflohen ist. Jetzt müssen diese hochbetagten Überlebenden vor den russischen Angreifern nach Westen flüchten: ausgerechnet nach Deutschland, ausgerechnet nach Berlin, wo einst der Holocaust erdacht und organisiert wurde, wo wir heute aber eine rettende und sichere Zuflucht geben können – und geben müssen!

Ich danke der Jewish Claims Conference und all jenen, die diese Menschen gerettet haben. Wir sind es Ihnen und uns selbst schuldig, unsere Tür offen zu halten für die Überlebenden einer geschundenen Generation.

Dieser Krieg ist ein Epochenbruch. Er hat viele unserer Gewissheiten der letzten Jahrzehnte in Frage gestellt oder schon hinweggefegt. 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind wieder Millionen Menschen auf der Flucht quer durch Europa. Die meisten in ihrem überfallenen Land, der Ukraine. Aber Millionen sind auch außer Landes geflohen. Ich bin dankbar für die überwältigende Hilfsbereitschaft in den Nachbarländern. Und ich bin dankbar für die überwältigende Hilfsbereitschaft in unserem eigenen Land. Mein Dank geht heute auch an Sie, den DGB und seine Einzelgewerkschaften, an Sie, die Gewerkschaftsmitglieder, die den Menschen aus der Ukraine helfen, ohne lange zu fragen. Ich bin bewegt von Ihrem Engagement und Ihrer Solidarität, und ich weiß, es ist diese gelebte Solidarität, die unser Land zusammenhält.

Aber Schutz und Hilfe für die, die alles verloren haben, die zu uns gekommen sind und noch kommen werden, das ist nur das eine. Es geht um viel mehr.

Solidarität, das heißt humanitäre und finanzielle Hilfe für die Menschen in der Ukraine. Solidarität, das heißt, wirtschaftlich Druck auf Russland auszuüben, mit einschneidenden Sanktionen, wie wir sie in der Geschichte der EU noch nicht verhängt haben. Solidarität, das bedeutet auch, dass wir Lasten zu tragen haben, und das für lange Zeit. Und Solidarität heißt auch, die zu unterstützen, die ihr Land, ihre Freiheit, ihre Demokratie so tapfer verteidigen – ja, auch ihnen so zu helfen, dass sie sich verteidigen können.

Dieser Krieg zwingt uns zu schmerzhaften Einsichten: Wir waren uns zu sicher, dass Frieden, Freiheit, Wohlstand selbstverständlich sind. Und ja, auch ich habe nicht für möglich gehalten, dass der russische Präsident am Ende in seinem imperialen Wahn den totalen politischen, wirtschaftlichen und moralischen Ruin seines eigenen Landes in Kauf nehmen könnte. Dieser Krieg macht uns auf eine brutale Weise klar, dass wir unsere Demokratie schützen und verteidigen müssen – nach innen und nach außen!

Wir brauchen die Wehrhaftigkeit der Demokratie nicht nur in Sonntagsreden und auch nicht nur als politische Kultur, als demokratisches Selbstbewusstsein, als Engagement. Wir brauchen auch moderne Streitkräfte und eine besser ausgerüstete Bundeswehr. Außenpolitik und Diplomatie werden auch in Zukunft gebraucht werden, natürlich. Aber wer zur Vermeidung künftiger Konflikte auf Diplomatie und Verhandlungen setzt, der muss wissen: Verhandlungen lassen sich nicht aus einer Position der Schwäche führen. Erfolgreich verhandeln lässt sich nur aus einer Position der Stärke. Diesen Willen zur Stärke müssen wir haben, und den müssen wir zeigen.

Es sind gewaltige Veränderungen, vor denen wir stehen, absehbar noch sehr viel tiefgreifender, als wir sie heute diskutieren. Auch deshalb spreche ich von Epochenbruch. Wie wird die politische Landkarte in Europa aussehen nach diesem Krieg? In welcher Welt werden wir leben? Die Debatte über den Systemkonflikt zwischen Demokratien und autoritären Regimen, über die Zukunft der Globalisierung und unsere Verantwortung in der Welt, diese Debatte steht mit höchster Dringlichkeit auf der Tagesordnung. Ich als Bundespräsident will diese Debatte führen. Und ich werde alle Möglichkeiten meines Amtes nutzen, dass wir sie führen.

Auch und gerade an diesem Tag, an diesem 8. Mai ist mir wichtig, dass wir die Herausforderungen der Gegenwart annehmen. Dass wir als Gesellschaft nicht auseinanderlaufen, die veränderten Realitäten nicht ignorieren und im Gespräch miteinander bleiben. Epochenbruch bedeutet: Nicht alles geht weiter wie gehabt! Wir finden uns in einer neuen und bedrohlichen Situation wieder. Viele Deutsche sind verunsichert und besorgt, und viele haben widerstreitende Empfindungen: Empathie mit dem Leid der Ukrainer, den Wunsch zu helfen, mehr zu tun zur Unterstützung der Ukrainer in ihrem tapferen Kampf gegen die Aggressoren. Aber auch Angst vor einer Ausweitung des Krieges, Angst, dass wir selbst zur Kriegspartei werden könnten – all das bewegt die Menschen in unserem Land. Und es bewegt auch sicher Sie alle hier im Saal.

Für all diese Aspekte, auch für widerstreitende Empfindungen, muss Raum sein in unserer Debatte: für Klarheit und Entschiedenheit ebenso wie für Fragen, Sorgen, Zweifel. Eine wichtige Fähigkeit darf uns nicht verloren gehen: einander zuzuhören und andere Meinungen überhaupt noch gelten zu lassen. Wir müssen es aushalten, wenn Standpunkte aufeinanderprallen, gerade wenn es um eine so existenzielle Frage wie Krieg und Frieden geht. Eine so existenzielle Frage verlangt nach Kontroverse. Das macht unsere Demokratie aus. Zur Demokratie gehört aber auch, dass wir Kontroversen mit Respekt und gegenseitiger Achtung führen, andere nicht niedermachen oder verächtlich machen, weil wir ihre Meinung nicht teilen. Auch dafür werde ich als Bundespräsident weiter hartnäckig werben.

Wenn ich von einem Epochenbruch spreche, dann meine ich auch eine sehr konkrete Frage: Wie bewältigen wir die Lasten, die wir schon jetzt zu tragen haben, und wie verteilen wir sie gerecht? Dabei geht es um nicht weniger als unser Zusammenleben, um den Zusammenhalt in unserem Land. Unterbrochene Lieferketten, steigende Preise für Lebensmittel, explodierende Energie- und Treibstoffkosten – schon jetzt bekommen viele Menschen die Folgen des Krieges ganz unmittelbar und hart zu spüren.

Die große Mehrheit in unserem Land hält den wirtschaftlichen Druck auf Russland über Sanktionen für richtig und trägt diese Politik mit. Aber ich nehme wahr, dass viele Menschen auch Ängste haben. Vor der Inflation. Vor einer Rezession. Und vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes – wer wüsste das besser als Sie in den Gewerkschaften. Wie wir unsere Abhängigkeit von russischen Energieimporten beenden können, ohne dass ganze Branchen bedroht und Hunderttausende von Arbeitsplätzen gefährdet werden, das treibt Sie alle um. Ich weiß das!

Und doch, so lautet meine Lehre aus der doppelten Erfahrung von Pandemie und Ukraine-Krieg, geht die Zäsur in der Weltwirtschaft tiefer. Sie bedeutet nicht das Ende, aber ganz sicher einen Umbruch der bisherigen globalen Arbeitsteilung. Schon während der Pandemie mussten wir lernen: 80 Prozent der Wirkstoffe für Arzneimittel werden aus Fernost importiert. Und auch jenseits der Pharmaindustrie haben ganze Branchen praktisch keine Vorratshaltung – im Vertrauen darauf, dass alles jederzeit verfügbar ist. Und so war es ja auch. Aber jetzt sehen wir, wie sich in Shanghai seit Wochen die Containerschiffe stauen. Die weltweiten Lieferketten sind schwer gestört, und wir spüren die Folgen.

Die Lehre kann doch nur sein: Nicht allein der günstigste Preis auf den Weltmärkten darf darüber entscheiden, mit wem man Geschäfte macht. Das gilt nicht nur für Energielieferungen, sondern auch für andere Rohstoffe, Vorprodukte und Fertigungsprozesse. Jede Entscheidung muss neben den wirtschaftlichen auch politische Risiken berücksichtigen. Wir müssen klüger diversifizieren und auch Europa als Produktionsstandort neu entdecken, attraktiv machen. Die Demokratie ist für uns von größtem Wert, aber ihre Verteidigung hat einen Preis. Sie hat auch einen Preis für unsere Volkswirtschaft. Und darüber werden wir sprechen, wenn es um die Zukunft der Globalisierung geht.

Pandemie, Flut, Krieg, Klimawandel: Diese mehrfache Krisenerfahrung erleben viele Menschen als enorme Belastung. Aber es ist auch diese mehrfache Krisenerfahrung, diese Erfahrung eines Epochenbruchs, die uns eines noch einmal ganz deutlich zeigt: wie dringlich es ist, dass wir handeln, gemeinsam handeln, um unser Land in die Zukunft zu führen.

Ja, es sind gewaltige Herausforderungen, vor denen wir stehen, um nachhaltiger zu wirtschaften und mit unseren Ressourcen sparsamer umzugehen – und gleichzeitig unsere Demokratie zu stärken und zu schützen. Dieser Umbau wird uns viel abverlangen. Er wird unsere ganze Kraft, unsere ganze Kreativität, unseren ganzen Mut und auch manchen Verzicht erfordern. Entscheidend ist, dass wir um die besten Lösungen ringen – und Mehrheiten dafür finden. Das ist der Kern einer Demokratie. Eines dürfen wir dabei nie aus den Augen verlieren: dass die nicht auf der Strecke bleiben, die mit dem Wandel nicht so leicht Schritt halten können. Der Umbau wird nur gelingen, wenn auch die Schwächeren etwas zu gewinnen haben. Sonst laufen wir Gefahr, sie zu verlieren an die, die mit scheinbar einfachen Heilsversprechen locken, an die Populisten jeglicher Couleur. Die letzten Jahre haben uns gezeigt, welche Gefahr das auch in unseren liberalen Demokratien ist, nicht nur bei uns, sondern überall in Europa.

Ihnen, dem DGB mit seinen Einzelgewerkschaften, Ihnen kommt bei diesem Umbau eine ganz zentrale Rolle und viel Verantwortung zu. Ich habe großes Vertrauen in Sie. Sie stehen auf gegen die, die die Demokratie und ihre Institutionen verachten. Auch da brauchen wir Sie!

„Zukunft gestalten wir“, unter dieser Überschrift werden Sie die nächsten Tage auf Ihrem Bundeskongress diskutieren. Es geht um die Zukunft der Arbeit, die Zukunft der Wirtschaft, die Zukunft für die nachwachsenden Generationen auf diesem Planeten. Aber Ihnen wie mir geht es auch um die Zukunft der Demokratie: dass sie besteht gegen die Faszination des Autoritären, aber auch besteht gegen Gleichgültigkeit und Ignoranz. Meine Bitte ist: Mischen Sie sich ein! Und – wo immer es geht – suchen Sie das Gespräch mit der Politik!

Starke Gewerkschaften, Betriebsverfassung, Mitbestimmung, Verantwortung in der Sozialpartnerschaft, all das hat unsere Demokratie über viele Jahrzehnte gestärkt und stabil gehalten. Schauen Sie selbstbewusst auf Ihren Beitrag zum Gelingen der Demokratie in unserem Land! Und diese starke Säule muss weitertragen in einer Zukunft, die unübersichtlich ist. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihr Engagement!

Vieles, was Sie, die Gewerkschaften, geleistet haben, ist in der Öffentlichkeit gar nicht bekannt. Ich erinnere mich, wie Sie geholfen haben, die Folgen der großen Krise auf den internationalen Finanzmärkten 2008/2009 zu überwinden. Ich erinnere mich an Besuche von Vorständen in Begleitung ihrer Betriebsräte, um mit der Politik nach Brücken über die Krise hinweg zu suchen. Auch bei den großen europäischen Krisen nach 2011 standen die Gewerkschaften auf der Seite derjenigen, die Europa zusammengehalten haben.

Sie haben erfolgreich gestritten, nicht nur für bessere Löhne, für Mindestlöhne, sondern auch für die Erhaltung sozialer Standards in einer globalen Wirtschaft. Und Sie stellen sich den Herausforderungen beim Umbau unseres Landes hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft: Ich denke an den Ausbau der erneuerbaren Energien, an den Einstieg in die CO2-Bepreisung und in die Elektromobilität. Auch in den Betrieben und Unternehmen gibt es viele Beispiele für den Umbau hin zur Klimaneutralität. Das ist ermutigend. Wir alle wissen aber: Das ist nur der Anfang.

Umso schwerer wiegt es, einen zu verabschieden, der sich mit aller Kraft dafür eingesetzt hat, dass dieser Umbau beginnt.

Lieber Reiner Hoffmann, nach acht Jahren an der Spitze des DGB gehen Sie jetzt in den wohlverdienten Ruhestand. Dass der DGB und seine durchaus selbstbewussten Einzelgewerkschaften heute geschlossener dastehen als zu manch anderen Zeiten, das ist Ihnen zu verdanken. In einer Zeit, in der sich der Ton in vielen Debatten in unserer Gesellschaft verschärft hat, in der die Reizbarkeit und die Gereiztheit gewachsen sind, waren Sie ein Brückenbauer im besten Sinne. Und das nicht nur innerhalb der Gewerkschaften, sondern auch zur Politik.

Angetrieben hat Sie Ihr Leben lang die Überzeugung, dass diejenigen Menschen eine starke Vertretung und die Möglichkeit zur Mitbestimmung brauchen, die das Rückgrat unserer Gesellschaft bilden: die Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Land. Die Erfolge, die Sie erzielt haben, sprechen für sich. In Ihrer Antrittsrede vor acht Jahren haben Sie bessere Löhne für Gesundheits- und Pflegekräfte gefordert, einen Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung und eine internationale Mindestbesteuerung – all das ist auf dem Weg.

Lieber Reiner, unsere Wege kreuzen sich seit mehr als zwanzig Jahren. Wir haben in ganz unterschiedlichen Verantwortungen gestanden und gearbeitet. Aber unsere Gespräche und Begegnungen waren immer von gegenseitigem Respekt und Freundschaft geprägt. Die Zukunft der jungen Generation, das ist ein Herzensthema, das uns immer verbunden hat, genauso wie die Überzeugung, dass wir ein starkes, geeintes Europa brauchen. Da wirst Du Dich auch weiter engagieren und im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss die Interessen von Arbeitnehmern vertreten. Ich möchte Dir heute aus ganzem Herzen danken und wünsche Dir viel Glück und gute Gesundheit in Deinem Ruhestand, der sicher eines nicht werden wird: ruhig. Lieber Reiner, im Namen unseres ganzen Landes herzlichen Dank!

Liebe Delegierte und Gäste, vor Ihnen allen liegen jetzt Tage der intensiven Arbeit und Diskussion, und ich wünsche Ihnen dabei gutes Gelingen. Ich bin mir sicher, es wird nicht einfach ein Bundeskongress werden wie in manchen Jahren zuvor. Zu drängend, zu aufwühlend sind die Fragen, die der Krieg gegen die Ukraine uns allen aufgibt. Zu sehr bedrängen sie uns gerade heute, an diesem 8. Mai. Diesem 8. Mai, der ein Tag des Krieges ist. «


Quelle: Bulletin 57-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 10. Mai 2022

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