Veröffentlicht am: 23.10.2022 um 22:56 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Abendessen zu Ehren von Wim Wenders und der Kronberg Academy zur Verleihung des Praemium Imperiale

Am 15. September 2022 hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Abendessen zu Ehren von Wim Wenders und der Kronberg Academy zur Verleihung des Praemium Imperiale in Berlin folgende Rede gehalten:

» Es ist eine großartige Nachricht für unser Land: Der Praemium Imperiale, auch bekannt als „Nobelpreis der Künste“, geht in diesem Jahr gleich zweimal nach Deutschland. Die Japan Art Association hat heute verkündet, dass Sie, lieber Wim Wenders, in der Sparte Film und Theater für Ihr Lebenswerk ausgezeichnet werden. Und die Kronberg Academy, lieber Raimund Trenkler, erhält den Förderpreis für ihre Arbeit mit jungen Musikerinnen und Musikern. Was für eine wunderbare Entscheidung, für Sie persönlich und für die Kultur in Deutschland. Ich gratuliere von Herzen zu dieser hohen Ehre, auch im Namen unseres Landes!

Heute Abend wollen wir diese doppelte Auszeichnung gemeinsam feiern, wir wollen aber auch ein Zeichen für die Bedeutung setzen, die die Kultur für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt hat.

Die Coronakrise hat viele Künstlerinnen und Künstler in Existenznot gestürzt; sie hat aber auch dazu geführt, dass viele Menschen sich vom Kulturleben entwöhnt haben und viele – nach wie vor – nicht in die Kinos, Museen, Theater und Opernhäuser zurückgekehrt sind. Und in diesem Herbst und Winter droht der Kulturbetrieb erneut besonders hart getroffen zu werden, wenn wegen steigender Energie- und Lebensmittelpreise weitere Zuschauer ausbleiben oder Spielstätten unter Kostendruck geraten.

Ich bin überzeugt: Gerade jetzt, in dieser Zeit des Krieges und der Krisen, brauchen wir die kreative und verbindende Kraft der Kultur. Wir brauchen den Trost und den Halt, den Kultur uns schenkt; wir brauchen die Sichtweisen und Einsichten, die sie uns vermittelt; wir brauchen das Mitgefühl und das Verständnis, zu dem sie uns verhilft. Wir brauchen die Kultur, um den Blick zu weiten für die Möglichkeiten jenseits des Erlebten und Erfahrenen. Über die Kunst ist die Gesellschaft mit sich selbst im Gespräch; leuchtet aus, wie wir als Verschiedene miteinander zurechtkommen und leben können.

Auch deshalb müssen wir in Politik und Gesellschaft jetzt und auf Dauer dafür sorgen, dass Kunstfreiheit nicht nur ein abstraktes Prinzip ist, sondern dass Künstlerinnen und Künstler diese Freiheit auch leben können. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Kultur in ihrer ganzen Vielfalt überleben, wachsen und gedeihen kann. Sie alle in diesem Saal helfen auf ganz eigene Art mit, die Künste zur stärken und die Orte der Kultur zu verteidigen. Umso mehr freue ich mich, dass Sie heute Abend hier sind – seien Sie herzlich willkommen im Schloss Bellevue.

Ich frage mich, wie die Szene, die wir gerade gemeinsam erleben, wohl aussehen würde, wenn wir sie durch Ihre Brille betrachten könnten – wenn sie zum Beispiel in einem Ihrer Filme vorkäme. Die Art von Bildern, die wir alle aus „Paris, Texas“ kennen, würden wir dann vermutlich nicht zu sehen bekommen. Leuchtreklame, Zapfsäulen und alte Ford Pick-ups haben wir hier in Bellevue nicht zu bieten, auch kein rotes Telefon, wie es in der berühmten Einstellung auf dem Wandtisch hinter Nastassja Kinski steht. Schon eher könnte ich mir unsere Runde im „Himmel über Berlin“ vorstellen: Die Goldelse, der Potsdamer Platz und die Staatsbibliothek sind immerhin ganz nah, und Otto Sander und Bruno Ganz waren auch schon hier im Saal. Wie auch immer, lieber Wim Wenders, ich hoffe, dass Sie sich zu Hause fühlen in diesem offenen Schloss, das ein Ort der Freiheit und der Begegnung sein soll und ist.

Offenheit, Bewegung und Begegnung, dieser Dreiklang ist auch so etwas wie der Grundakkord Ihrer künstlerischen Arbeit. Erzählen ist für Sie eine Reise ins Ungewisse, eine Wanderung mit unbekanntem Ziel, ein oft auch riskantes Abenteuer. Man dürfe nur erzählen, haben Sie gesagt, „wenn man nicht weiß, wie es ausgeht“.

Sie sind ein Filmemacher, von dem es heißt, dass er oft nur den Anfang einer Geschichte im Kopf hat, wenn er mit dem Drehen beginnt; der neugierig darauf ist, wohin die nächste Szene ihn führen wird; dem es darum geht, „on the road“ zu sein – nicht zu schnell, sondern mit Zeit und Ruhe, um sich auf Landschaften und Menschen einzulassen, um Kontraste zu entdecken, Abgründe auszuleuchten, auf Abwege zu geraten.

Genau das ist es, was Ihre Filmkunst ausmacht: Sie geben dem scheinbar Gewöhnlichen Raum und Tiefe, lassen Unauffälliges und Unbeachtetes in neuem Licht erscheinen, setzen Gegensätzliches in Beziehung. Sie sind, wenn ich das so sagen darf, ein Romantiker des Autorenkinos, immer unterwegs irgendwo zwischen Heimweh und Fernweh.

„Desperado“, so heißt das Filmporträt über Sie, das Eric Friedler und Campino zu Ihrem 75. Geburtstag gedreht haben. Sie sprechen darin über die große Frage, die Sie mit Ihren Filmen immer wieder aufs Neue zu beantworten versuchen: Wie soll man leben? Als Künstler müssen Sie immer weiter, weil es auf diese Frage nie eine endgültige Antwort gibt, weil jede gefundene Antwort von der nächsten Geschichte wieder in Frage gestellt wird.

Man muss sich Ihr Leben und Ihr Werk als große Suche vorstellen, mal in Schwarz-Weiß, mal in Farbe, nie auserzählt und mit offenem Ende. Sie sind in Düsseldorf geboren, wuchsen in Oberhausen auf, gingen als junger Mann nach Paris, wo Sie jede freie Minute in der Cinémathèque verbrachten. Damals träumten Sie von einem Leben als Maler, Architekt, Arzt, Philosoph oder Priester – und wurden dann Filmemacher, um alles zugleich sein zu können.

Ihr Film „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, nach der Erzählung von Peter Handke, brachte Ihnen 1972 den Ruf ein, ein Vertreter des Neuen Deutschen Films zu sein. Aber Sie wollten raus aus Deutschland, es zog Sie in den amerikanischen Westen, wo Sie das Gegenbild zur Landschaft Ihrer Kindheit, der rostigen Industrie des Ruhrgebiets fanden. „Paris, Texas“ wurde zur Topographie dieses Sehnsuchtsortes und zu Ihrem ersten Welterfolg.

Was es bedeutet, ein Deutscher zu sein, das haben Sie nach Ihrer Heimkehr im „Himmel über Berlin“ zu ergründen versucht – aus der Engelsperspektive und im Schnellflug durch die Nachkriegsgeschichte dieser Stadt. Die Bilder dieses Films zeigen das geteilte, zerrissene Berlin als eine einzige schroffe Wunde, sind aber zugleich erfüllt von einer Sehnsucht und einem Flüstern der Hoffnung, von einer poetischen Zartheit, die überwältigend ist und bleibt. Der Film ist ein Dokument, ein Zeitgemälde, das das Deutschlandbild auf der ganzen Welt geprägt hat.

Auch in Ihren Dokumentarfilmen sind Sie Ihrem künstlerischen Prinzip immer treu geblieben. Sie haben das Kinopublikum mitgenommen auf Ihre Reisen nach Havanna, Wuppertal, Aimorés oder in die Antarktis, in die Welt der Altmeister des „Son Cubano“, der Tänzerin Pina Bausch oder des Fotografen Sebastião Salgado. Und Sie haben Ihre Bilder auch auf Fotopapier gebannt und gelten längst als einer der besten Fotografen unseres Landes.

Die japanische Kunst hat Sie dabei immer besonders fasziniert und geprägt. Dem Regisseur Ozu Yasujir? und dem Modedesigner Yohji Yamamoto haben Sie filmische Denkmäler gesetzt, mit der Künstlerin Leiko Ikemura arbeiten Sie zusammen, und in einem neuen Spielfilm widmen Sie sich, wie soll ich sagen, dem öffentlichen Leben in Tokio.

Es ist ein unglaublich ideenreiches und vielfarbiges Werk, das Sie in den vergangenen fünfzig Jahren geschaffen haben. Sie haben der Weltfamilie unvergessliche Bilder geschenkt. Sie haben unseren Blick für den Lauf der Dinge geschärft, und Sie haben uns immer wieder verstehen lassen, was es bedeutet, Mensch zu sein – mit seiner Verzweiflung, seiner Liebe oder seiner Leidenschaft und Einsamkeit.

Sie sind einer der größten Filmemacher unserer Zeit, der dem deutschen Autorenkino weltweit Achtung und Beachtung verschafft hat. Und Sie sind ein Visionär, der junge Bildkünstler fördert und inspiriert. In den Worten von Werner Herzog, charmant wie eh und je: „Ich würde einem 18-jährigen Filmstudenten sagen: Wenn du Filme machen willst, schau dir Wims Filme an, du Depp!“

Der Praemium Imperiale ist nun eine weitere, eine besonders schöne Würdigung Ihres Werkes, eine kaiserliche Krönung. Aber Ihr Weg ist ja noch nicht zu Ende. Wir wissen nicht, was noch alles kommen wird. Ich wünsche Ihnen, dass Sie noch viel entdecken auf Ihren weiteren Lebensbahnen – und ich hoffe, dass Sie uns weiterhin sehen lassen, wie Sie die Dinge sehen. Herzlichen Glückwunsch zum Praemium Imperiale, von mir und von uns allen!

Ein Film von Wim Wenders ohne Musik, das ist wie Sterneküche ohne Wein. Deshalb passt es gut, dass wir heute Abend auch eine Institution ehren, die junge Musikerinnen und Musiker fördert. Die von Wim Wenders so geliebten Western-, Konzert- und Slide-Gitarren sind an der Kronberg Academy allerdings eher selten zu hören. Ihr Haus, lieber Herr Trenkler, hat sich ganz der Geige, der Bratsche und dem Cello verschrieben.

Im schönen Kronberg im Taunus bieten Sie einen geschützten Raum, in dem junge Instrumentalisten ihr Talent entfalten und sich von Weltstars inspirieren lassen können. Sie fühlen sich dabei dem spanischen Cellisten Pablo Casals verpflichtet, der einst alle Musikerinnen und Musiker aufforderte, ihre Kunst in den Dienst der Menschheit zu stellen. Verantwortung für Musik, Mensch und Erde zu übernehmen: Das ist es, was Sie jungen Menschen vorleben und nahebringen wollen.

In dieser Zeit des Krieges und der Krisen, in denen Freiheit und Menschenrechte auch bei uns in Europa wieder bedroht sind, wünsche ich mir, dass sich noch mehr Künstlerinnen und Künstler für Freiheit und Demokratie engagieren, für die Grundlage ihrer Arbeit. Und ich wünsche mir, dass die Kronberg Academy viele andere Musikbegeisterte anstiftet, sich für junge Talente und neue Ideen einzusetzen, gerade in diesen für die Kultur so schwierigen Jahren.

Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, allen Freundinnen und Freunden der Kronberg Academy meinen großen Dank für ihr Engagement – und herzlichen Glückwunsch zum Förderpreis des Praemium Imperiale.

Ich freue mich auf einen schönen Abend mit Ihnen. Auf Ihr Wohl und herzlichen Dank! «


Quelle: Bulletin 114-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 19. September 2022

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