Veröffentlicht am: 02.11.2022 um 22:35 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei der Ordensverleihung zum Tag der Deutschen Einheit

Bei der Ordensverleihung zum Tag der Deutschen Einheit hat der Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier am 30. September 2022 in Berlin nachfolgende Rede gehalten...

» „Wir reden heute über Brücken. Über Brücken, die verbinden, über Leute, die Brücken bauen, die über Brücken gehen […].“

Das sind Worte des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan – gerade wie für unsere heutige Feier geschrieben! Worte, mit denen Serhij Zhadan selbst vor einigen Jahren eine Rede hier in Berlin begann. Seine Bücher haben ihn auch in Deutschland zu einer wichtigen literarischen Stimme gemacht. Diese Romane, die er schreibt, bringen uns immer wieder in die Ostukraine, nach Charkiw, in seine geschundene Heimatstadt.

Brücken bauen – das ist das Motto dieser Veranstaltung heute, und es sind Sie, alle miteinander, die genau das tun. Sie bauen Brücken zwischen Ländern, zwischen Menschen, und Sie, elf Frauen und neun Männer, Sie alle leisten dabei Herausragendes. Seien Sie ganz herzlich willkommen hier in Schloss Bellevue. Ich freue mich, dass Sie alle da sind. Menschen wie Sie mit dem Verdienstorden auszeichnen zu dürfen, das gehört zu meinen schönsten Aufgaben als Bundespräsident. Wie schön, dass ich diese Tradition zum Tag der Deutschen Einheit in diesem Jahr weiterführen darf.

Liebe künftige Ordensträgerinnen und Ordensträger, Sie alle, jede und jeder Einzelne von Ihnen, macht sich auf ihre und seine ganz besondere, eigene Weise verdient um unser Land. Eines aber verbindet Sie: Sie suchen das Miteinander. Sie alle sind der schönste Beweis, dass Menschen gemeinsam etwas verändern können, dass sie, dass wir die Welt von morgen mitgestalten können, um sie zu einem besseren, einem gerechteren Ort machen zu können – und das ist umso wichtiger, umso kostbarer in einer Zeit, die viele als mehrfache tiefe Krise erleben. Erst die Coronapandemie, dann der grausame Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und seine Folgen. Und dazu kommt auch noch der Klimawandel, den auch wir in Europa, auch in unserem Land, immer besorgniserregender verspüren.

Sie alle, die ich heute auszeichnen darf, Sie handeln in dieser herausfordernden Zeit. Sie stehen anderen zur Seite, Sie helfen Menschen, die Hilfe brauchen, Sie geben ihnen das Gefühl, nicht alleingelassen zu werden. Sie setzen sich für Inklusion ein, Sie tun etwas für Integration und für Menschen, die zu uns kommen. Sie engagieren sich für Völkerverständigung, insbesondere mit der Ukraine – nicht erst seit Kriegsbeginn –, aber auch mit unseren anderen osteuropäischen und afrikanischen Nachbarn, und Sie wissen, wie existenziell es für Menschen in ärmeren Ländern ist, fairen Zugang zum Welthandel zu haben und zu bekommen.

Zur Verständigung, zur Völkerverständigung, zum Austausch tragen auch die Musik, die Literatur und die Kunst bei – Sie als Musikerinnen und Musiker, als Künstler, Lektorinnen und Übersetzerinnen wissen um diese verbindende Kraft, um die universelle Kraft von Kunst und Kultur. Eine Kraft, für die schon Kinder empfänglich sind.

Sie, liebe künftige Ordensträgerinnen und Ordensträger, haben sich auch der Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen verschrieben. Sie wissen, wie kostbar Umwelt, Natur, Ressourcen sind, dass wir sie schützen müssen. Sie entdecken alte Baustoffe neu für eine in die Zukunft gewandte Architektur. Sie erforschen den Weltraum, damit wir auf der Erde besser leben können. Und Sie leisten Großartiges im Kampf gegen die Coronapandemie, zu ihrer Eindämmung oder in der Forschung. Sie haben vielen Menschen Hoffnung gegeben und tun das auch weiterhin, gerade denen, die heute noch an den schweren Folgen einer Coronaerkrankung leiden. Und Sie setzen sich für unsere Demokratie und die Werte ein, auf denen sie gründet: die Achtung der Menschenrechte, Vielfalt in Freiheit und Gleichheit, Toleranz und Sicherheit.

Welch großartiges, vielfältiges Engagement, das durch Sie heute Morgen in diesem Saal versammelt ist!

Seit 32 Jahren ist unser Land nun wiedervereint, und ich empfinde wirklich Dankbarkeit für dieses große Glück. Wir erinnern in diesen Tagen an die Ereignisse von damals, wir erinnern an die mutigen Menschen, die gegen eine menschenverachtende Diktatur aufbegehrten, die Mauer zum Einsturz brachten und damit den Weg zur Deutschen Einheit bahnten. Und doch ist diese Erinnerung in diesem Jahr überschattet von einer bitteren Erkenntnis: Der Traum vom „gemeinsamen Haus Europa“ des kürzlich verstorbenen Michail Gorbatschow, jenes Mannes, der einen entscheidenden Beitrag zur friedlichen Wiedervereinigung geleistet hat, dieser Traum, der schon lange durch neuen Nationalismus, neue Unterdrückung und Gewalt in die Ferne gerückt war, ist durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine brutal zunichtegemacht worden.

Dieser 24. Februar, an dem eine atomar bewaffnete Macht mit dem Angriff auf ein unabhängiges Nachbarland den brutalsten Eroberungskrieg seit 1945 in Europa entfesselt hat, er markiert einen wirklichen Epochenbruch.

Wir alle sind erschüttert von diesem Krieg, der so viel Leid und Zerstörung für die Menschen in der Ukraine bringt, der ganze Städte in Schutt und Asche legt, der Millionen von Menschen in die Flucht getrieben hat. Wir alle sind erschüttert, dass Putin Gorbatschows Traum vom „gemeinsamen Haus Europa“ in seinen Grundfesten zerstört. Ein Albtraum ist an die Stelle des Traums getreten: Der Krieg ist zurück in Europa!

Putins Regime treibt die Eskalation immer weiter voran – auch heute, mit der angekündigten Annexion der vier ukrainischen Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja nach den völkerrechtswidrigen „Schein-Referenden“ in dieser Woche. Wir werden diese vermeintlichen Ergebnisse, wir werden diese Grenzverschiebungen nicht akzeptieren!

Dieser Krieg ist nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine. Dieser Krieg ist auch ein Angriff auf das internationale Recht, auf die Werte der liberalen Demokratien – auf unsere Werte! Es kann darauf nur eine Antwort geben: Wir stehen an der Seite der Ukraine, gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn. Wir müssen die Ukraine weiter und so lange wie nötig unterstützen: finanziell, humanitär, politisch und militärisch.

Wir stehen vor riesigen Herausforderungen, auch in unserem Land. Wir stehen nicht nur vor den noch offenen Wunden der Pandemie und den spürbaren Folgen des Klimawandels, sichtbar durch Flutkatastrophen und Dürre. Sondern wir befinden uns dazu in einer immer schärfer werdenden Auseinandersetzung zwischen unseren liberalen Demokratien und autoritären Regimen. Auch darauf kann es nur eine Antwort geben: Wir müssen unsere Demokratie wehrhafter machen, wehrhafter nach außen und wehrhafter nach innen.

Ja, der Krieg bedeutet vor allem unendliches Leid für die Menschen in der Ukraine. Aber die Folgen des Krieges treffen auch uns. Dramatisch steigende Kosten für Energie, hohe Inflation, unterbrochene Lieferketten, die Sorge vor einer weiteren Eskalation, all das – Sie merken es, ich merke es – bewegt auch die Menschen in unserem Land. Viele Menschen plagen Zukunftsängste. Was wird der Herbst, was wird der Winter bringen, zu welchen Mitteln wird Putin möglicherweise noch greifen? Das sind Fragen, die ganz offensichtlich viele umtreiben.

Dass Einschränkungen kommen, dass Belastungen drohen, darauf haben sich die meisten Menschen eingestellt. Die offene, aber in der Demokratie wichtige Frage ist: Wie werden die Lasten verteilt zwischen Arm und Reich, zwischen Alt und Jung, werden sie gerecht verteilt? Aber klar ist: Selbst bei gerechtester Verteilung, selbst bei allen Entlastungsbemühungen der Politik werden Einschränkungen bleiben. Genau das versuchen sich einzelne politische Kräfte zunutze zu machen. Wir erleben, wie der Ton in den Debatten schärfer und unversöhnlicher wird, wie Ängste zusätzlich geschürt werden.

Ich sehe mit Sorge, dass Populisten versuchen, aus diesen Ängsten Kapital zu schlagen. Wenn ich davon spreche, dass wir unsere Demokratie auch nach innen wehrhafter machen müssen, dann meine ich damit: Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Kräfte die Krise instrumentalisieren, um die Fundamente unseres demokratischen Rechtsstaates auszuhöhlen! Dem müssen wir uns entschieden alle miteinander entgegenstellen.

Besinnen wir uns auf die Stärken unserer Demokratie! Wir wissen doch aus der Vergangenheit, dass es in Krisenzeiten vor allem auf eines ankommt: gemeinsam zu handeln, gemeinsam um die besten Lösungen zu ringen. Welche Lösung die richtige ist, darüber muss natürlich debattiert, auch gestritten werden in einer Demokratie. Aber zur Demokratie gehört eben auch, dass wir Kontroversen mit Respekt und in gegenseitiger Achtung führen, dass wir das gemeinsame Ganze nicht aus den Augen verlieren. Dass wir Brücken bauen, die verbinden – und damit sind wir wieder bei Serhij Zhadan.

Und genau das ist es, Brücken bauen, was Sie, liebe künftige Ordensträgerinnen und Ordensträger, vorleben: Sie setzen sich ein für Werte, die wir niemals preisgeben, für das, was uns miteinander verbindet, für das, was für unser Zusammenleben, für den Zusammenhalt hier bei uns und weltweit wichtig ist. Und was Sie tun, das werden wir gleich noch etwas ausführlicher von unserer Moderatorin Susanne Daubner hören. Wie schön, liebe Frau Daubner, dass Sie sich auch jetzt wieder bereit erklärt haben, uns durch diese Veranstaltung zu führen! Ein herzliches Willkommen auch Ihnen.

Bevor wir an die Ordensverleihung gehen, möchte ich Ihnen hier im Saal sagen: Ich habe mir Ihre einzelnen Kurzbiographien sorgfältig angeschaut, ich bin wirklich tief beeindruckt von Ihrem Engagement! Das zeigt uns, wie vielfältig, auch wie stark unser Land ist. Und unser Land ist nicht einfach so stark, sondern Sie miteinander machen es stark, weil Sie den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft stärken. Demokratie braucht diesen Zusammenhalt – gerade in Krisenzeiten. Deshalb braucht es Menschen wie Sie! Menschen, die sich beteiligen, die sich einmischen. Menschen, denen bürgerschaftlicher Geist wichtig ist. Von diesem Geist, davon bin ich überzeugt, werden wir in den nächsten Monaten und vielleicht Jahren noch sehr viel mehr brauchen, um die großen Herausforderungen, die ich jetzt nur andeuten konnte, anzupacken und zu bestehen.

Ihnen allen möchte ich von Herzen danken. Sie sind wirklich ein Geschenk für unser Land! Ich freue mich, Sie nun mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland auszeichnen zu dürfen. Ihnen allen herzlichen Glückwunsch! «


Quelle: Bulletin 124-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 6. Oktober 2022

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