Veröffentlicht am: 09.12.2022 um 23:59 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Berliner Sicherheitskonferenz

Bei der Berliner Sicherheitskonferenz hat Bundeskanzler Olaf Scholz am 30. November 2022 in Berlin folgende Rede gehalten...

» Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Støre, lieber Jonas,
sehr geehrte Frau Dr. Proll,
lieber Wolfgang Hellmich,
meine Damen und Herren,

Russlands Überfall auf die Ukraine Ende Februar hat unser Sicherheitsumfeld dramatisch verändert. Die Fundamente unserer Sicherheit sind weiter solide: die transatlantische Freundschaft und die enge Kooperation in der Europäischen Union. Die europäische Sicherheitsordnung der vergangenen Jahrzehnte aber hat Russland mit seinem völkerrechtswidrigen, imperialen Angriffskrieg zertrümmert. Für uns alle in Europa bedeutet das große Anpassungen – Anpassungen, die nicht auf die klassische Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschränkt bleiben.

Zu diesen Anpassungen gehört unsere Entscheidung, erstmals in großem Umfang – und eng abgestimmt mit unseren Verbündeten – Waffen in ein Kriegsgebiet wie eben jetzt die Ukraine zu liefern. Ich weiß, lieber Jonas, ihr habt eine ganz ähnliche Wende vollzogen – andere unserer Freunde und Verbündeten ebenso. Das bestärkt uns in unserem Kurs, in einem Kurs, den ich vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges weiterhin uneingeschränkt für richtig halte.

Es geht darum, die Ukraine in der Wahrung ihres legitimen Rechts auf Selbstverteidigung zu unterstützen, die europäische Sicherheitsarchitektur zu schützen und Putins Neoimperialismus Einhalt zu gebieten. Und damit haben wir durchaus Erfolg. Russland, davon bin ich überzeugt, kann und wird diesen Krieg auf dem Schlachtfeld nicht mehr gewinnen. Die erbarmungslosen Angriffe auf lebenswichtige Infrastruktur, auf Wasser- und Energieleitungen, auf ukrainische Städte und Dörfer – sie sind eine furchtbare und zugleich verzweifelte Strategie verbrannter Erde, verzweifelt auch deshalb, weil wir Russland damit nicht durchkommen lassen. Unsere Solidarität mit der angegriffenen Ukraine bleibt ungebrochen – und das, obwohl der Krieg auch bei uns erhebliche Auswirkungen hat.

Russland muss begreifen: Wir werden die Ukraine weiter unterstützen, for as long as it takes: wirtschaftlich, finanziell, humanitär, durch den Wiederaufbau zerstörter Energieinfrastruktur jetzt aktuell – und auch mit Waffen.

Artillerie und Luftverteidigung sind das, was derzeit in den Kämpfen im Osten und Südosten des Landes und zur Verteidigung ukrainischer Städte besonders gebraucht wird. Artillerie und Luftverteidigung liefern wir, und wir schauen kontinuierlich, wo wir noch mehr tun können, aktuell vor allem bei der Luftverteidigung. Parallel dazu bilden wir im Rahmen einer neuen EU-Ausbildungsmission allein in Deutschland eine ukrainische Brigade mit bis zu 5.000 Soldatinnen und Soldaten aus. Und natürlich freuen wir uns auch über die norwegische Unterstützung dieser EU-Mission.

Aus der russischen Aggression gegen die Ukraine haben wir Lehren für den Schutz unseres eigenen Landes und unserer Verbündeten gezogen. Bei der Bundeswehrtagung im September habe ich der Führung der Bundeswehr gesagt: Der Kernauftrag unserer Streitkräfte ist die Landes- und Bündnisverteidigung – die Verteidigung der Freiheit in Europa. Alle anderen Aufgaben unserer Streitkräfte leiten sich daraus ab. Alle anderen Aufgaben ordnen sich diesem zentralen Auftrag unter! Und dabei halten wir es mit dem Satz Fridtjof Nansens, den seinerzeit schon Willy Brandt in seiner berühmten Rede bei der Annahme des Friedensnobelpreises in Oslo zitiert hat: „Skynd dere å handle, før det er for sent å angre!“ Für alle Deutschen und alle Norweger, die mein Norwegisch jetzt nicht auf Anhieb verstanden haben: Dieser Satz lautet: Beeilt euch zu handeln, ehe es zu spät ist zu bereuen.

Kein Aggressor darf jemals daran zweifeln, dass wir fest entschlossen sind, jeden Alliierten und jeden Zentimeter des Bündnisgebietes mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften zu verteidigen. Hierfür halten wir in diesem und in den kommenden zwei Jahren bis zu 17.000 Soldaten für die Nato Response Force vor. 2023 übernehmen wir zudem erneut die Führung der schnellen Eingreiftruppe der Nato. Es ist gut, Norwegen und die Niederlande dabei fest an unserer Seite zu wissen.

Wir sind mit Kräften des Heeres und der Luftwaffe in der Slowakei präsent. Die Luftwaffe sichert den Luftraum über Estland, und unsere Marine hat ihre Präsenz in der Ostsee erhöht. Und wir haben unseren Nato-Gefechtsverband in Litauen dauerhaft verstärkt. Auf ihrem Gipfel von Madrid hat die Nato sich mit ihrem neuen strategischen Konzept ebenfalls klar zur kollektiven Verteidigung als Kernauftrag bekannt. Diese Beschlüsse setzen wir mit aller Kraft um.

Eine Brigade der Bundeswehr teilen wir für die Verteidigung Litauens ein und stärken so auch die Verteidigung des Baltikums insgesamt. Letzten Monat haben erste Kräfte dieser Brigade bereits ihre Verlegung nach Litauen erprobt und dort mit unseren litauischen Verbündeten geübt. Für die Nato-Streitkräftestruktur haben wir der Allianz zudem eine gepanzerte Division sowie umfassende Luft- und Seestreitkräfte zugesagt, die künftig in hoher Einsatzbereitschaft für die Verteidigung des Bündnisgebietes herangezogen werden können. Und wir arbeiten daran, die militärischen Fähigkeiten der Europäischen Union zu verbessern, etwa was ihre militärischen und zivilen Führungsfähigkeiten und -strukturen angeht oder die Entwicklung eigener Fähigkeiten, komplementär zur Nato.

Das gilt zum Beispiel für die Luftverteidigung. Vor drei Monaten habe ich in Prag den Aufbau eines europäischen Raketenabwehrschirms vorgeschlagen – als europäischen Beitrag in der Nato und kompatibel mit den Strukturen der Allianz. 14 Partner haben sich dieser Initiative inzwischen angeschlossen, und ich bin froh und dankbar, dass auch Norwegen darunter ist.

Auch die verantwortungslose Nuklearrhetorik des russischen Regimes nehmen wir sehr ernst. Wir lassen uns davon aber auch nicht einschüchtern. Stattdessen setzen wir alles daran, dass die rote Linie hält, wonach ein nuklear ausgetragener Krieg niemals Realität werden darf.

Darüber war ich mir auch mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping einig, als ich Anfang des Monats in Peking zu Besuch war. Und ich bin erleichtert, dass es uns gelungen ist, diesen fundamentalen Grundsatz auch im Abschlussdokument des G20-Gipfels zu verankern.

Solange Staaten wie Russland Nuklearwaffen als Teil ihres Bedrohungspotenzials besitzen, braucht natürlich die Nato ein glaubwürdiges Abschreckungspotenzial. Alles andere hieße, uns erpressbar zu machen. Deswegen haben wir entschieden, in den kommenden Jahren F-35-Kampfjets zu beschaffen, um so auch in Zukunft weiterhin einen deutschen Beitrag zur nuklearen Teilhabe der Allianz zu liefern. Das ist ein Gebot nationaler, europäischer und transatlantischer Sicherheit und ein Beitrag zur Lastenteilung im Bündnis.

Um unsere Sicherheit und die unserer Alliierten geht es auch bei der Umsetzung des Sondervermögens für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro. Wir sprechen hier über die größte Investition in unsere Streitkräfte seit ihrem Bestehen. Die ersten Lieferverträge wollen wir noch in diesem Jahr schließen – über den Kauf der schon erwähnten F-35, über die Nachrüstung von Schützenpanzern Puma und die Beschaffung von Überschneefahrzeugen. Wie und wo man die gebrauchen kann, erleben unsere Gebirgsjäger bei ihren regelmäßigen Übungen im norwegischen Winter unter arktischen Bedingungen. Und auch 1.200 deutsche und norwegische Soldatinnen und Soldaten von Heer, Luftwaffe und Marine haben das gerade in Nord-Norwegen erlebt, wo sie gemeinsam taktische Feuerunterstützung trainiert haben, eine Übung, die in dieser Form bislang einzigartig ist zwischen unseren beiden Ländern. Aber das soll nicht so bleiben.

Hier wird schon deutlich: Es geht bei der Zeitenwende und ihren Auswirkungen für die Bundeswehr um viel mehr als nur um ziemlich viel Geld. Von der Beschaffung bis zur Ausrüstung, von der Strategie bis in die Einsätze brauchen wir mehr Entscheidungsfreude, mehr Risikobereitschaft und effiziente Strukturen. Und wir brauchen eine europäische Verteidigungsindustrie, die den Ansprüchen moderner Streitkräfte gerecht wird.

Dabei kommen wir voran. Mit Frankreich und Spanien haben wir erst vor wenigen Tagen einen Durchbruch beim europäischen Luftkampfsystem FCAS erzielt, einem Projekt, das zentral ist für die Sicherheit und Souveränität Europas. In enger Abstimmung mit der Industrie gehen wir hier noch in diesem Jahr in die nächste Projekthase, in der nun ein Technologiedemonstrator gebaut wird.

Jenseits solch ganz konkreter Fortschritte braucht Deutschland auch eine strategische – um nicht zu sagen: mentale – Zeitenwende. Dafür arbeiten wir intensiv an einer Nationalen Sicherheitsstrategie. Diese Sicherheitsstrategie wird einem breiten Spektrum an Bedrohungen und Herausforderungen und einer dauerhaft veränderten globalen Lage Rechnung tragen.

Damit das gelingt, werden wir das Handeln aller staatlichen Ebenen enger miteinander verschränken, die Widerstandskräfte von Wirtschaft und Gesellschaft stärken und Instrumente der Krisenbewältigung, -vorsorge und -nachsorge stärker aufeinander abstimmen. Das Leitbild heißt kurz gesagt „integrierte Sicherheit“.

Im Kern unserer Sicherheitspolitik steht natürlich der Schutz unseres Landes und des Lebens und der Freiheit der Menschen in Deutschland vor militärischer Aggression. Deshalb werden wir uns in unserer Sicherheitsstrategie zu einer umfassenden Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeit und ohne Wenn und Aber zur Beistandspflicht unter Alliierten bekennen. Wir wissen, wer unsere Freunde und Partner in der Welt sind – und Norwegen ist einer der engsten davon.

Und zugleich werden wir dem zunehmenden Risiko einer neuen Blockbildung in der Welt aktiv entgegenwirken. Die Sicherheit und der Wohlstand unseres Landes beruhen auf einer internationalen Ordnung, die Macht an Recht bindet, so wie es die Charta der Vereinten Nationen mit ihren Prinzipien tut. Um diese Prinzipien aber in einer multipolaren Welt zu erhalten, müssen wir mit all den Ländern zusammenarbeiten, die bereit sind, für diese Ordnung einzutreten und sie weiterzuentwickeln. Wir werden unsere Beziehungen in der Welt daher immer zunächst auf Partnerschaft und Kooperation ausrichten. Wer die regelbasierte internationale Ordnung aber stört oder sie zerstören will – so wie Putins Russland –, der muss mit Deutschlands Widerstand rechnen.

Eine weitere zentrale Aufgabe ist eine umfassende Stärkung der Widerstandsfähigkeit im Inneren unseres Landes. Wir müssen uns vor Cyberangriffen genauso schützen wie vor Desinformation und hybrider Einflussnahme auf unsere demokratischen Institutionen und Prozesse. Versuche, unsere offene und vielfältige Gesellschaft und unseren sozialen Zusammenhalt zu untergraben, werden wir entschlossen abwehren.

Die Sabotageakte gegen die Nord-Stream-Pipelines und der Angriff auf das Kommunikationsnetzwerk der Deutschen Bahn haben uns gezeigt, wie anfällig auch unsere kritische Infrastruktur ist. Und ich bin sehr dankbar, dass Norwegen und Deutschland – vor allem auch durch unsere Marinen – in dieser Frage sehr eng zusammenarbeiten.

Und schließlich – auch das gehört unbedingt hierher – werden wir unsere global vernetzte Volkswirtschaft vor einseitigen Rohstoff-, Technologie- und Energieabhängigkeiten schützen – aber nicht durch ein einseitiges decoupling von einzelnen Staaten oder Regionen, sondern durch eine kluge, entschlossene Diversifizierung unserer Lieferketten.

Die Sicherung einer zuverlässigen und bezahlbaren Energie- und Rohstoffversorgung bleibt eine zentrale Zukunftsaufgabe für unser Land. Dabei legen wir den Schwerpunkt auf den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen, denn Klima, Biodiversität und natürliche Ressourcen haben unmittelbare Auswirkungen auf Sicherheit und Stabilität. Und auch hier ist uns Norwegen Vorbild und Partner zugleich.

Wir haben gerade intensiv über eine klimaneutrale Energie- und Industriepartnerschaft zwischen unseren beiden Ländern gesprochen. Schon heute ist Norwegen mit über 40 Prozent unserer Erdgasimporte mit Abstand Deutschlands wichtigster Energielieferant. Lieber Jonas, als Russland seine Lieferungen erst gekürzt und dann vollständig abgedreht hat, habt ihr eure Lieferungen an uns um fast zehn Prozent erhöht. Das werden wir bestimmt nicht vergessen. Und wenn ich in diesen Tagen häufiger den Satz sage „Deutschland kommt wohl sicher durch diesen Winter“, dann geht mein Dank auch nordwärts.

Doch das Potenzial unserer Partnerschaft geht weit über Gaslieferungen hinaus. Ich denke an eine Zusammenarbeit bei erneuerbaren Energien, bei Wasserstoff, aber auch bei klimafreundlichen Technologien wie der Abscheidung und Speicherung von CO2-Emissionen, wo Norwegen weltweit führend ist.

Es gibt eigentlich kaum ein Feld, wo Deutschland und Norwegen nicht zusammenarbeiten, wo wir nicht in die gleiche Richtung blicken und gemeinsam vorangehen. Ich weiß, auch ihr weiter im Norden vollzieht gerade die Konsequenzen der Zeitenwende. Der Beitritt unserer schwedischen und finnischen Freunde zur Nato ist Ausdruck davon, aber genauso das sicherheitspolitische Umsteuern deines Landes.

Wir sitzen dabei im selben Boot – ich glaube, das haben wir alle gespürt, als wir bei meinem Besuch in Norwegen im August mit den anderen nordischen Regierungschefinnen und Regierungschefs zusammengetroffen waren und danach bei echt hanseatischem Wetter über den Oslo-Fjord geschippert sind. Doch über die norwegische Sicht auf die Zeitenwende wirst du uns gleich sicher noch mehr berichten – und dem will ich nicht vorgreifen. Nur dies noch: Lieber Jonas, herzlichen Dank für Deinen Besuch hier bei uns! Und danke für Norwegens Freundschaft in dieser bewegten Zeit! «


Quelle: Bulletin 155-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 6. Dezember 2022

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