Veröffentlicht am: 10.12.2022 um 14:22 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz zur Vergabe des Marion-Dönhoff-Preises an Irina Scherbakowa

Am 4. Dezember 2022 hat Bundeskanzler Olaf Scholz zur Vergabe des Marion-Dönhoff-Preises an Irina Scherbakowa in Hamburg folgende Rede gehalten...

» Sehr geehrte Frau Dr. Scherbakowa,
sehr geehrter Herr Naß,
sehr geehrter Herr di Lorenzo,
sehr geehrter Herr Brühl – auch noch einmal herzlichen Glückwunsch zu dem Preis und noch viel mehr zu Ihrer Arbeit –,
sehr geehrte Frau Senatorin,
verehrte Mitglieder der Jury,
meine Damen und Herren!

Wer in diesen dunklen Tagen die Website der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial aufruft, der liest dort in großen Buchstaben: „The organisation has been liquidated by a court decision.“ – Die Organisation wurde aufgrund einer Gerichtsentscheidung liquidiert. – Allein dieser eine Satz macht bereits klar, warum die feierliche Preisverleihung, zu der wir hier zusammengekommen sind, eine sehr ernste Angelegenheit ist.

Mit seinem brutalen Angriffskrieg hat Putin furchtbares Leid über die Ukraine gebracht. Den tapfer kämpfenden Streitkräften der Ukraine sind die russischen Truppen – auch infolge unserer Unterstützung – militärisch bisher nicht gewachsen. Umso mehr versucht Russland, jetzt doch noch zum Ziel zu kommen, indem es die ukrainische Infrastruktur zerstört, indem es die wehrlose Zivilbevölkerung – Kinder, Frauen, Alte – mit Raketen beschießt. Hier geht es nicht nur um schwersten Völkerrechtsbruch. Hier tut sich auch ein unfassbarer moralischer Abgrund auf. Putin befehligt schlimmste Vergehen an der Ukraine – und hat damit zugleich sein eigenes Land auf eine katastrophal abschüssige Bahn manövriert. Auch darüber müssen wir sprechen, auch darüber will ich sprechen.

Aber zunächst ist es mir natürlich eine große Freude und Ehre, dass ich heute diese Laudatio auf Sie, liebe Irina Scherbakowa, halten darf. Der Marion-Dönhoff-Preis wird an Persönlichkeiten vergeben, die sich in besonderer Weise für die Verständigung und Versöhnung zwischen den Völkern einsetzen. Die Reihe früherer Trägerinnen und Träger reicht von Desmond Tutu über Michail Gorbatschow und Bronislaw Geremek bis zu Daniel Barenboim, Hildegard Hamm-Brücher, Navid Kermani und Donald Tusk.

Dass nun Sie, liebe Irina Scherbakowa, ab sofort in einer Reihe mit diesen herausragenden Persönlichkeiten der Zeitgeschichte stehen, ist nur folgerichtig. Diese Entscheidung ist ein eindeutiges politisches Signal zur richtigen Zeit. Vor allem aber bedeutet sie eine hochverdiente Auszeichnung für Sie ganz persönlich: Als Germanistin, als Dolmetscherin und Übersetzerin deutscher Literatur haben Sie sich seit Jahrzehnten darum verdient gemacht, das gegenseitige Verständnis von Russen und Deutschen zu stärken.

Was für ein Glück übrigens – wir haben es eben im Film schon gesehen –, dass Ihre Eltern im Moskau der fünfziger Jahre die unwahrscheinliche Idee hatten, die eigene Tochter solle als Fremdsprache ausgerechnet Deutsch lernen. In Russland war das zu jener Zeit verständlicherweise immer noch die „Sprache des Feindes“, wie Sie in Ihrer Familiengeschichte „Die Hände meines Vaters“ schreiben.

Als Historikerin beschäftigen Sie sich bereits seit Ende der siebziger Jahre mit den Biografien und Schicksalen der Menschen, die in der Sowjetunion Stalins Gefängnisse und Lager überlebten; mit den vergessenen Hinterlassenschaften von Gewaltherrschaft, Gulag und Totalitarismus, mit Trauma, Verdrängung und Angst. „Es ging darum“, so haben Sie geschrieben, „die Tür zu dieser dunklen Vergangenheit zu öffnen.“ Weil Demokratie und offene Gesellschaft ohne die Aufarbeitung historischer Verbrechen und Irrwege niemals gedeihen werden. In Russland nicht, in Deutschland nicht – und auch nirgends sonst.

Als Bürgerrechtlerin gehörten Sie genau deshalb in den Jahren der Perestroika zu den Gründerinnen und Gründern der „Internationalen Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte, soziale Fürsorge“ – kurz: Memorial. Wie keine zweite Organisation steht Memorial für den zivilgesellschaftlichen Aufbruch in den letzten Jahren der Sowjetunion. „Zum ersten Mal in der sowjetischen Geschichte“ – so haben Sie es selbst beschrieben – „gab es plötzlich eine von Menschen gegründete reale Organisation, die mehr war als nur eine Attrappe“. Ein anderes, besseres, helleres Russland ist möglich – das war die Botschaft, die von Memorial ausging. Genau das war das Besondere und Kostbare an Memorial – genau das ist noch immer das Besondere und Kostbare an Memorial. Denn Memorial lebt ja weiter. Auf diese Feststellung, liebe Irina Scherbakowa, legen Sie besonders großen Wert.

Deshalb bin ich sehr froh, dass gemeinsam mit Ihnen auch die Geschäftsführerin von „Memorial International“ heute bei uns ist. Herzlich willkommen, Elena Zhemkova! Ihre Anwesenheit beweist: Memorial besteht fort – als dezentrales Netzwerk von Aktivistinnen und Aktivisten; als internationale Nichtregierungsorganisation mit 80 angeschlossenen Gruppen und Verbänden in vielen Staaten Europas; als Opposition im Exil gegen Putins Regime – auch hier bei uns in Deutschland.

Ihr Kampf für Freiheit und Aufklärung, für Demokratie und Menschenrechte ist also nicht zu Ende. Aber: Wie sieht die Perspektive aus? Wie soll neuer Mut wachsen – gerade jetzt? Woraus können Sie und Ihre Mitstreiter neue Hoffnung schöpfen in dieser schweren Zeit?

Die Tür zu einer helleren Zukunft für Russland, die Memorial und auch Sie selbst seit den Jahren der Perestroika öffnen halfen – diese Tür hat Wladimir Putin krachend zugeschlagen. Die alte Geschichtsklitterung, die alten Lügen, die alte Unterdrückung in der Sowjetära hat sein autokratisches Regime ersetzt durch neue nationalistische Geschichtsklitterung, durch neue Lügen und neue Unterdrückung.

Russlands Zivilgesellschaft? Zum Schweigen gebracht und verängstigt. Russlands demokratische Opposition? Hinter Gittern oder außer Landes. Memorial? Verboten und enteignet, „liquidiert“ und vertrieben. Das ist – jedenfalls hier und jetzt – die bittere Lage. Und gleichzeitig richtet der wahnwitzige Angriffskrieg, den Putins Russland gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat, von Woche zu Woche wachsendes Leid und sinnlose Vernichtung an. Putins Regime hat sich hoffnungslos verrannt, seine Regierung steht international so alleine da wie nie. Auf dem G20-Gipfel vor wenigen Wochen in Bali war das für alle Welt zu erleben. Doch Umsteuern, Einlenken oder gar Einsicht sind im Augenblick von Putins Russland nicht zu erwarten. Von „Tragik“ haben Sie, liebe Irina Scherbakowa, deshalb in diesem Zusammenhang gesprochen.

Und dennoch: Wie kann in dieser Lage trotz allem ein Weg nach vorn aussehen? Ich will dazu zwei Bemerkungen machen. Die eine betrifft vor allem die Ukraine, die andere vor allem Russland.

Erste Bemerkung: Die Ukraine darf und wird diesen Krieg nicht verlieren. Darum werden wir den Kampf der Ukrainer und Ukrainerinnen um ihre Freiheit und ihre europäische Zukunft gemeinsam mit allen unseren Partnern und Verbündeten auch weiterhin massiv unterstützen.

Zusammen mit allen großen demokratischen Staaten der Welt arbeiten wir schon jetzt an einem umfassenden Marshall-Plan für den langfristigen Wiederaufbau der Ukraine. Und zugleich eröffnen wir der Ukraine – dieser schon immer europäischen Nation – den Weg in die Europäische Union.

Aber damit die Ukraine diesen Weg beschreiten kann, muss sie sich jetzt – in diesen Wochen und Monaten – erfolgreich verteidigen können. Deshalb werden wir gemeinsam mit unseren Verbündeten der Ukraine auch weiterhin diejenigen Waffen liefern, die sie braucht, um Russlands Angriffe wirksam zurückzuschlagen. Und wir werden das genau so lange tun, bis Putin aufhört mit diesem wahnwitzigen Krieg, bis er seine Truppen abzieht.

Ich bin sehr froh, liebe Frau Scherbakowa, dass auch Sie als Russin genau diese eindeutige Haltung zugunsten der Ukraine glasklar unterstützen. Darauf hinzuweisen ist mir sehr wichtig; denn es hat ja, als vor zwei Monaten der Friedensnobelpreis anteilig an Memorial verliehen wurde, vereinzelt Kritik an dieser Entscheidung gegeben.

Manch einer steht angesichts der russischen Kriegsgräuel inzwischen allen Russinnen und Russen ablehnend gegenüber – auch den oppositionell und demokratisch gesinnten. Ich teile diese Haltung nicht. Vorwürfe sollten nicht die Falschen treffen. Diejenigen Russinnen und Russen, die wie Irina Scherbakowa immer eindeutig für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte eingetreten sind, die dabei großen Mut bewiesen und persönliche Risiken in Kauf genommen haben – sie sind nicht Widersacher der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Putins brutalen Krieg. Im Gegenteil, sie sind Seelenverwandte und Mitstreiter in unserem gemeinsamen Kampf für eine friedliche, freiheitliche und demokratische Zukunft Europas.

Und darum auch meine zweite Bemerkung. Sie betrifft, wie gesagt, Russland. Irgendwann – hoffentlich bald – wird dieser russische Angriffskrieg gegen die Ukraine vorbei sein. Wir wissen nicht, wann er zu Ende gehen wird, aber zu Ende gehen wird er. Und eines ist schon jetzt völlig klar: Dieser Krieg wird nicht mit einem Sieg des großrussischen Expansionismus enden. Putins großrussische Mission wird scheitern. Sie ist schon jetzt dramatisch gescheitert.

Aber wenn dieser Krieg zu Ende ist, dann wird Russland immer noch da sein. Es wird immer noch das flächenmäßig größte Land der Erde sein, mit 144 Millionen Bürgerinnen und Bürgern – in geografischer Nähe zu uns. Es werden in Russland Fragen aufkommen: Wer wollen wir sein? Wie wollen wir sein? – Und dann wird sehr viel davon abhängen, ob es wieder Kräfte gibt, die mit Nachdruck und aus Erfahrung sagen: Ja, ein anderes, ein besseres und helleres Russland ist möglich – noch immer und jetzt erst recht: ein demokratisches Russland, ein friedliches Russland, ein Russland, das sich an die internationalen Regeln hält, ein Russland, das imperialen Großmachtwahn hinter sich lässt.

Es mag sein, dass diese Perspektive gegenwärtig noch unwahrscheinlich erscheint, dass wir auf sie warten müssen – aber ausgeschlossen ist sie ebenfalls nicht. Und darum ist es so wichtig, dass wir in diesen Zeiten diejenigen Russinnen und Russen unterstützen, die für dieses andere, bessere, hellere Russland einstehen. Sie, liebe Frau Scherbakowa, tun das in herausragender Weise. Darum gebührt Ihnen der diesjährige Marion-Dönhoff-Preis. Sie erhalten ihn für Ihre Arbeit und für Ihr Lebenswerk. Welchen Weg Russland einschlagen wird, wird nicht von außen entschieden werden.

Aber Sie erhalten diesen Preis auch stellvertretend für all diejenigen Russinnen und Russen, die sich eine andere, bessere, hellere Zukunft Russlands vorstellen können, die darauf hoffen, genau wie wir es tun. Die Zeit dafür wird kommen – daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.

Schönen Dank! «


Quelle: Bulletin 155-3 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 6. Dezember 2022

Weitere Artikel zum Thema Bundesregierung, die Sie auch interessieren könnten...

Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Berliner Sicherheitskonferenz

Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz zur Verleihung des 15. Deutschen Nachhaltigkeitspreises

Rede des Bundesministers für Gesundheit, Dr. Karl Lauterbach, zum Krankenhauspflegeentlastungsgesetz

Rede der Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, Klara Geywitz, zu den Rahmenbedingungen bei Erneuerbaren Energien im Städtebaurecht vor dem Deutschen Bundestag

Rede der Bundesministerin des Innern und für Heimat, Nancy Faeser, in der Vereinbarten Debatte zur Bekämpfung des Antisemitismus vor dem Deutschen Bundestag