Veröffentlicht am: 27.12.2022 um 08:49 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Festakt „60 Jahre Welthungerhilfe“
» Ibrahim Mohammed wusste nicht, wie er und seine Familie überleben sollten in der schlimmsten Dürre seit Jahrzehnten. Ohne Nahrung. Ohne Zugang zu sauberem Wasser. Ohne den Regen, der seit vielen, vielen Monaten ausbleibt. Afar, die Region in Äthiopien, in der Ibrahim Mohammed als Ziegenhirte lebt, gehört zu jenen Regionen, die furchtbar unter der Dürre am Horn von Afrika leiden. Und die Geschichte von Ibrahim Mohammed ist nur eine von sehr vielen.
Millionen Menschen in Äthiopien, in Somalia, in Kenia und in Uganda hungern, und es ist zu befürchten, dass es noch mehr werden. Ihre Lebensgrundlagen sind bedroht oder bereits vollkommen zerstört. Die Kinder sind entkräftet und krank, die Nutztiere so schwach, dass sie verenden. Die Essensvorräte fast aufgebraucht, die Böden ausgedorrt. Und wenn es doch einmal regnet, dann so heftig und stark, dass es sofort zu Überschwemmungen kommt. Am Horn von Afrika findet eine Tragödie statt.
Liebe Frau Thieme, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Welthungerhilfe, Sie tun alles, um diesen Menschen am Horn von Afrika zu helfen, und Sie haben auch Ibrahim Mohammed geholfen. Zusammen mit den Dorfbewohnern haben Sie eine Wasserpumpe – solarbetrieben – gebaut, damit die Menschen wieder Ackerbau treiben können. Ohne dieses Wasserprojekt, so sagt Ibrahim Mohammed, wären viele nicht mehr am Leben. Aus einer Geschichte der Hoffnungslosigkeit haben Sie, die Welthungerhilfe, eine Geschichte der Hoffnung gemacht.
Liebe Gäste, die Geschichte von Ibrahim Mohammed steht beispielhaft für die unendlich wichtige und wertvolle Arbeit, die die Welthungerhilfe seit 60 Jahren leistet.
Sechzig Jahre, was für eine Zeitspanne! Welch weiter Weg von der Vision von Binay Ranjan Sen, dem damaligen Generaldirektor der Welternährungsorganisation, dass jede Einzelne und jeder Einzelne, jede noch so kleine Gruppe etwas tun könne im weltweiten Kampf gegen Hunger und Armut. Hilfe zur Selbsthilfe leisten: Diese Vision sollte die Entwicklungszusammenarbeit auf eine ganz neue Basis stellen – auch bei uns in Deutschland.
Wie viel Herzblut, wie viel Engagement, wie viel Energie und ja, auch wie viel Mut haben Sie alle aufgebracht, die sich seit der Gründung des Deutschen Ausschusses für den Kampf gegen Hunger für andere eingesetzt haben. Wie vielen Menschen konnten Sie in dieser Zeit helfen, wie viel Hoffnung geben. Und dafür möchte ich Ihnen ganz herzlich danken.
Was vor 60 Jahren in Bonn als Vier-Personen-Betrieb in einer Privatwohnung begann, ist heute ein weltumspannendes Hilfswerk mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf der ganzen Welt, ein international geachteter und geschätzter Partner. Sie haben allen Grund, darauf stolz zu sein! Ich freue mich sehr, mit Ihnen diesen runden Geburtstag zu feiern. Heute hier zu sprechen, das ist mir als Schirmherr der Welthungerhilfe nicht nur eine ganz besondere Freude und Ehre. Es ist mir ein Herzensanliegen! Deshalb schon an dieser Stelle Ihnen allen herzliche Glückwünsche zum 60. Geburtstag!
„Das Nebeneinander von Wohlstand und Armut, von satten und hungrigen Menschen gehört zu den großen Widersprüchen in dieser Welt“, so beschrieb einer meiner Vorgänger im Amt den Zustand der Welt. Und wir müssen feststellen: Der Widerspruch, den Gustav Heinemann vor mehr als einem halben Jahrhundert beklagte, ist mitnichten überwunden. Im Gegenteil: 828 Millionen Menschen weltweit sind unterernährt, 193 Millionen leiden unter akutem Hunger – so steht es im Welthungerindex. Das Ziel der Weltgemeinschaft, den Hunger auf der Welt bis zum Jahr 2030 zu überwinden, das ist kaum noch zu erreichen. Noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mussten mehr Menschen hungern. Welch erschütternder Rekord! Welcher Rückschlag im Kampf gegen den Hunger!
Wir erleben derzeit eine mehrfache Krise, die alle Teile der Welt trifft. Aber diese mehrfache Krise trifft nicht alle Menschen gleich: Sie trifft vor allem die Ärmsten der Armen in Südasien, in Afghanistan, Syrien, dem Jemen und vielen afrikanischen Ländern. In vielen Teilen der Welt gibt es wieder mehr bewaffnete Konflikte und Kriege, die ganze Regionen destabilisieren und dazu führen, dass Menschen hungern. Dazu kommt die große Herausforderung unserer Zeit, der Klimawandel und seine Folgen: Dürre, Wassermangel, fehlender Zugang zu Trinkwasser und dann wieder verheerende Überschwemmungen stürzen Menschen ins Elend und treiben sie in die Flucht. Verteilungskämpfe um Wasser, Land und Nahrungsmittel nehmen zu – und damit steigt wiederum die Zahl der bewaffneten Konflikte.
Eines ist klar: Unter den Folgen des Klimawandels leiden diejenigen am stärksten, die am wenigsten zur Erderwärmung beitragen: die Menschen in den Ländern des Globalen Südens. Für uns, die reicheren Länder des Nordens heißt das: Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken und noch mehr tun, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Es ist unsere Aufgabe, unseren Kindern und Enkelkindern eine lebenswerte Welt zu hinterlassen – und das überall.
Das bedeutet auch, dass wir die ärmeren Länder viel stärker dabei unterstützen müssen, die Folgen des Klimawandels einzudämmen. Die jüngste Weltklimakonferenz hat dazu Beschlüsse gefasst, die in die richtige Richtung weisen, etwa die Einrichtung eines Fonds für die ärmeren Länder. Sie hat uns aber auch noch einmal vor Augen geführt, dass wir den Klimawandel nur aufhalten können, wenn wir als Weltgemeinschaft endlich entschieden und gemeinsam handeln.
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind aber noch viel größer. Schon die Pandemie und die steigenden Preise für Nahrungsmittel haben dazu geführt, dass immer mehr Menschen auf der Welt hungern. Auch hier gilt: Unterbrochene Lieferketten und steigende Preise treffen die Menschen in den ärmeren Ländern ungleich härter als uns.
Als wäre das alles noch nicht genug, kommt jetzt auch noch der Krieg in Europa dazu.
Lassen Sie es mich ganz klar sagen: Der brutale, völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine bringt unendliches Leid für die Menschen dort. Er führt aber auch dazu, dass gerade die ärmeren Länder kaum noch Zugang zu Getreide und Dünger haben und die Preise für Grundnahrungsmittel weiter in die Höhe schnellen. Putins Krieg hat unmittelbare Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit auf der Welt.
Hunger als Waffe, ja als geopolitische Waffe einzusetzen – und nichts anderes tut Putin –, ist Teil seiner menschenverachtenden Kriegsstrategie. Putin führt seinen Krieg nicht nur militärisch mit Bomben und Panzern. Er hat auch den Hunger zur Waffe gemacht und er missachtet damit bewusst das Grundrecht auf Nahrung für alle Menschen auf der Welt.
Hunger als Waffe, das ist zynisch und menschenverachtend! Hunger als Waffe, das verstößt gegen jedes Gebot von Humanität und gegen das humanitäre Völkerrecht! Hunger als Waffe, das trifft vor allem die Ärmsten der Armen, und das dürfen wir nicht zulassen! Wir, die internationale Staatengemeinschaft, müssen jede Anstrengung unternehmen, damit sich die weltweite Hungerkrise nicht noch weiter verschärft.
Liebe Gäste, Sie alle kennen die Analyse von Amartya Sen, dem großen indischen Philosophen und Wirtschaftswissenschaftler. Hunger, so hat er gesagt, zeichnet sich dadurch aus, dass einige Menschen nicht genug zu essen haben – ist aber kein Zeichen dafür, dass es nicht genug zu essen gibt.
Auch diese Analyse hat nichts an Erkenntniskraft verloren. Den Hunger zu bekämpfen, ist eine Frage der Gerechtigkeit! Und deshalb geht dieser Kampf auch uns in den reichen Ländern etwas an. Wollen wir ihn gewinnen, dann müssen wir alle gemeinsam handeln. Aber nicht nur das: Wollen wir ihn gewinnen, dann müssen auch wir umdenken!
Umdenken heißt für mich auch: Wir müssen unsere eigenen Ernährungsgewohnheiten verändern, wir dürfen nicht mehr so verschwenderisch mit Nahrungsmitteln umgehen. Denn wie Amartya Sen sagt: Das Problem ist eben nicht ein Mangel an Lebensmitteln, sondern eines der Verteilungsgerechtigkeit und zunehmend auch der Verteilung von Anbauflächen.
Als Bundespräsident bin ich überzeugt: Der Kampf gegen Hunger und Armut ist und bleibt eine Menschheitsaufgabe, auch in einer Zeit, in der wir selbst große Herausforderungen schultern müssen. Es kann und es darf uns nicht gleichgültig sein, wenn wieder mehr Menschen auf der Welt Hunger leiden oder gar vom Hungertod bedroht sind. Wenn immer mehr Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Wir dürfen uns damit nicht abfinden!
Der Widerspruch zwischen Wohlstand und Armut auf der Welt darf nicht noch größer werden – und damit bin ich wieder bei Gustav Heinemann. Diesen Widerspruch zu überwinden, das muss unser Ziel sein!
Ich weiß aber auch, dass viele Menschen in unserem Land genau das nicht tun: Sie schauen nicht weg – auch jetzt in dieser Krisenzeit. Und ich finde es ermutigend, dass so viele Menschen für die Welthungerhilfe gespendet haben – mehr sogar noch als im vergangenen Jahr. Mut macht auch, dass die Spendenbereitschaft bisher in diesem Jahr insgesamt höher ist als je zuvor.
Als Bundespräsident bin ich dafür zutiefst dankbar, zeigt es doch, dass wir auch in schweren Zeiten als Gesellschaft die Werte von Humanität und Solidarität leben. Dass wir auch in schweren Zeiten zusammenstehen. Ich finde: Aus dieser Mitmenschlichkeit können wir Zuversicht schöpfen! Und ich möchte heute allen danken, die die Arbeit und die Projekte der Welthungerhilfe unterstützen. Sie leisten einen so unendlich wichtigen Beitrag, damit die Welt zu einem besseren Ort wird!
Mein größter Dank aber geht heute an Sie, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Welthungerhilfe. Sie alle arbeiten unter schwierigen Bedingungen. Wenn Krisen und Konflikte zunehmen, dann hat das auch Folgen für Ihre Arbeit, die in vielen Ländern gefährlicher geworden ist. Und doch geben Sie nicht auf! Ihre Arbeit, Ihr Engagement, wird von der Überzeugung getragen, dass der Kampf gegen den Hunger genau das ist: eine Menschheitsaufgabe – und dass es möglich ist, diese Aufgabe zu lösen. „Hunger und Armut sind kein unabwendbares Schicksal“, haben Sie gesagt, liebe Frau Thieme. Hunger ist menschengemacht. Und es liegt an uns Menschen, ihn zu überwinden!
Liebe Frau Thieme, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Welthungerhilfe, meinen herzlichen Glückwunsch zu diesem runden Geburtstag! Und wenn ich mir noch etwas wünschen darf: Lassen Sie sich nicht entmutigen! Machen Sie weiter! Wir brauchen, nein, die Welt braucht Menschen und Organisationen wie Sie! Und ich hoffe, dass Sie auch in Zukunft all die Unterstützung hier im Land und weltweit bekommen, die Sie brauchen! «
Quelle: Bulletin 162-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 19. Dezember 2022