Veröffentlicht am: 09.03.2023 um 06:12 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Festakt „150 Jahre Villa Hügel“

Beim Festakt „150 Jahre Villa Hügel“ hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier am 10. Februar 2023 in Essen nachfolgende Rede gehalten...

» „Speisenfolge: Geflügelsuppe, Gekochter Rheinsalm, Rindslendenstück auf Gärtner-Art, Gefüllte Trüffeln, Houdan-Masthuhn auf dem Rost gebraten, Salat, Gedämpfte Tafelpilze, Englischer Sellerie, Pistazien-Gefrorenes, Käsestangen, Obst – Dessert“

Wenn Sie jetzt annehmen, ich hätte Ihnen die Menükarte für ein Staatsbankett im Schloss Bellevue vorgelesen, so irren Sie sich. Die Feier, bei der all diese Speisen serviert wurden, fand in einer eigens aufgestellten Festhalle hier auf dem Hügel statt, am 3. August 1912. Und eingeladen waren nicht etwa Konzernlenker und Wirtschaftsmagnaten, sondern Jubilare der Firma Krupp, die für ihre lange Betriebszugehörigkeit mit einem feierlichen Essen geehrt wurden

Alfred Krupp und seine Nachfolger waren eben nicht nur die Inkarnation des deutschen Großindustriellen, der als sprichwörtlicher „Herr im Haus“ einen autokratischen Führungsstil pflegte, sondern sie standen auch für einen wohltätigen Paternalismus. So konnten durch den Kruppschen Wohnungsbau viele Beschäftigte zumindest Herr in der eigenen Wohnung werden. Und bis heute zählt, wie ich weiß, die Margarethenhöhe zu den schönsten und begehrtesten Wohngegenden in Essen.

Die starke Verbindung der Angehörigen zu ihrer Firma, das Selbstbewusstsein, ein „Kruppianer“ zu sein, speiste sich aber nicht nur aus solchen Gesten. Wer „Kruppscher Beamter“ war, wie man damals sagte, der war eben auch abgesichert, fühlte sich respektiert und wertgeschätzt. Und so könnte es sein, dass diese große Villa Hügel, die als prächtiger Wohnsitz der Eigentümerfamilie auch darauf angelegt war, ihre Besucher zum Staunen zu bringen, dass dieses große Haus an jenem Abend die Belegschaft eben auch stolz darauf machte, dazuzugehören.

Den eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Respekt und Wertschätzung zu zeigen, das geht heute sicher auf andere Art und Weise. Aber die Sache selber bleibt in einem Unternehmen wesentlich für Zusammengehörigkeit und Betriebsklima, auch für das Anwerben und für das Behalten der Besten. Und sie erhält gerade in Zeiten des Fachkräftemangels sicher noch einmal neue Bedeutung.

Übrigens ist die Vermutung, es könne sich bei der zitierten Speisenfolge auch um die Menükarte für ein Staatsbankett handeln, ja doch nicht ganz fernliegend. War die Villa Hügel doch zu allen Zeiten auch ein Ort, an dem hohe und höchste Besuche stattfanden. Kaiser und Könige waren hier zu Gast, Staats- und Regierungschefs. Die Krupps empfingen sie in fast selbstverständlicher Weise auf Augenhöhe.

Und auch die Bilder, die später den unvergessenen Berthold Beitz mit den Bundespräsidenten, die zu Besuch kamen, oder mit den ausländischen Gästen zeigen, lassen das große Selbstbewusstsein ahnen, das hier zu Hause war. Die Villa Hügel repräsentierte – in ihrer eindrucksvollen Architektur und mit ihrer Ausstattung auf damals technologischem Höchststand – die Leistungsfähigkeit, aber auch die politische Bedeutung, die ein Unternehmen wie Krupp zu den verschiedenen Zeiten seiner Geschichte gewonnen hatte. Kein Zweifel: Die Villa Hügel steht für ein Stück Industriegeschichte Deutschlands – und auch für die starke, in bestimmten Zeiten aber manchmal auch verhängnisvolle Verbindung, die immer wieder zwischen Staat und Wirtschaft gesucht und gefunden wurde.

Diese starke Verbindung hatte im Falle Krupp vor allem mit der Rüstungsproduktion zu tun. Ohne die sogenannte „Waffenschmiede des Reiches“ wäre im Zweiten Weltkrieg die Aufrüstung der Wehrmacht nicht möglich gewesen. Doch das Haus Krupp war, wie wir wissen, nicht nur passiver Auftragnehmer des nationalsozialistischen Staates, sondern es war bereits zuvor aktiver Förderer der NSDAP in den Wochen der Zerstörung der Weimarer Republik, der Ausschaltung demokratischer Parteien und freier Gewerkschaften. Bei der Finanzierung Adolf Hitlers und seiner Partei war Gustav Krupp ab Februar 1933 stark engagiert. Und dabei blieb es nicht. Von hier aus ging sein Weg zum „Wehrwirtschaftsführer“ und schließlich zur Anklage als einer der Hauptkriegsverbrecher im Nürnberger Prozess. Adolf Hitler war gern gesehener Gast bei Krupp, einmal auch gemeinsam mit dem italienischen Diktator Benito Mussolini. Auch daran ist zu erinnern, und auch an die ausgebeuteten und geschundenen Zwangsarbeiter, die mithalfen, jenen mit Blut und Tod erkauften Reichtum zu erhalten und zu vergrößern, für den die Villa Hügel eben auch steht.

Das Ruhrgebiet, die Stadt Essen und ihre Einwohner haben auch dafür einen hohen, schrecklichen Preis bezahlt. Kaum eine andere Region in Deutschland war nach dem Krieg so zerstört. Und so ist die Villa Hügel ein Erinnerungsort für eine Geschichte, die einer ganzen Region wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand gebracht hat, aber auch schweres Leid und Tod.

Hier in der Villa Hügel wird die Geschichte dieses Hauses, aber auch die Geschichte des Konzerns und der Krupp-Stiftung dargestellt, sehr anschaulich, sehr zugänglich, auch für ein großes, auch für ein an Forschung interessiertes Publikum. Dabei stellen Sie sich der ganzen Geschichte, auch mit ihren Schatten. Dass die Krupp-Stiftung im vergangenen Jahr eine unabhängige Untersuchung in Auftrag gegeben hat, das Verhältnis ihres Namensgebers zum Nationalsozialismus umfassend zu analysieren, das finde ich sehr gut und vorbildlich, und das ermutigt hoffentlich auch andere, bisher Versäumtes nachzuholen.

Wenn man heute vom Hügel auf die Ruhr hinunterschaut, dann bekommt man vielleicht noch eine leise Ahnung davon, wie grün und fast idyllisch das Ruhrgebiet aussah, bevor die Industrialisierung es so grundlegend verwandelt hat. Allerdings, die Essener wissen das, gehört schon der Baldeneysee selbst zu den Folgen der Veränderung. Wir wissen heute, dass wir die Natur und die Umwelt schützen müssen und nicht bloß ausbeuten dürfen. Wir wissen, dass wir in vielen Bereichen anders denken und anders handeln müssen, damit auch unsere Kinder und Enkelkinder ein gutes Leben auf diesem Planeten haben können. Dafür brauchen wir kluge Ingenieurinnen und Erfinder, innovative Denkerinnen und Macher, mutige Unternehmerinnen und Unternehmer.

All das symbolisiert auch die Villa Hügel. Ein schöpferisches, anregendes und auch aufregendes Industriedenkmal ist sie dann, wenn wir aus der Erinnerung auch Mut und Zuversicht für eine Zukunft schöpfen, die wir uns heute so wenig ausmalen können, wie es die Menschen in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts konnten, als hier eine Zukunft begann, die praktisch alles in der Welt veränderte.

Mit Veränderungen hat das Ruhrgebiet schon immer Erfahrungen gemacht. Die Veränderung ist sozusagen seine zweite Natur. Wenn die Villa jetzt 150 Jahre alt wird, dann begreifen Sie alle und wir alle das nicht als den Abschluss einer Geschichte. Wir denken am heutigen Tag zwar an vieles, was gerade in den vergangenen Jahrzehnten den Glanz und die Bedeutung der Villa ausgemacht hat, etwa die großen Ausstellungen. Aber gerade im Jubiläumsjahr schauen Sie, und das finde ich gut, auch nach vorne. 150 verschiedene Projekte, so habe ich gehört, wollen Sie fördern, die auch über den eigentlichen Ort der Villa Hügel hinausgehen.

Die Villa Hügel ist ein großer Schatz, ein Kapital, aus dem man immer wieder Neues machen kann. Dieses Haus hat die Besucher immer wieder das Staunen gelehrt, es hat mit großer Kunst konfrontiert, mit anderen Kulturen – und damit auch immer wieder mit der Frage, wer wir selber sind und wie wir Zukunft gestalten wollen.

Das soll und wird auch so weitergehen. Viele setzen sich mit großer Leidenschaft und mit Enthusiasmus für eine gute Zukunft der Villa Hügel ein. Ich wünsche Ihnen allen, besonders der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern alles Gute, viel Erfolg und hohe Besucherzahlen – und den Essener Bürgerinnen und Bürgern weiterhin viel Freude an und mit ihrer Villa. «


Quelle: Bulletin 20-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 14. Februar 2023

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