Veröffentlicht am: 09.03.2023 um 10:15 Uhr:

Bundesregierung: Rede der Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock, bei der Außenpolitischen Jahrestagung der Heinrich-Böll-Stiftung

Bei der Außenpolitischen Jahrestagung der Heinrich-Böll-Stiftung hat die Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock, am 10. Februar 2023 folgende Rede in Berlin gehalten...

» 45 Sekunden. 45 Sekunden, um die Großmutter, die Tochter, den kleinen Bruder in Sicherheit zu bringen. 45 Sekunden, um sich unter den Küchentisch zu flüchten, weil der Weg in den Keller zu lang ist. 45 Sekunden, so lange dauert es, bis nach dem Warnsignal die russischen Raketen in Charkiw einschlagen.

Als ich Anfang Januar dort war, habe ich erlebt, was das heißt, 45 Sekunden. Da wurde mir gesagt: „Sie können einfach im Auto sitzen bleiben und bis 45 zählen. Dann wissen Sie, was passiert ist.“ Zum Glück ist bei uns nichts passiert. Aber das gilt nicht für die Menschen in Charkiw. Ich habe Wohnblocks gesehen, die wie Pappkartons zerdrückt wurden. Ich habe einen Bürgermeister getroffen, in dessen Stadt mehr als 150.000 Menschen ihr Zuhause verloren haben. Ich habe Schülerinnen und Schüler in einer Wärmestube besucht, die dort Zuflucht suchen, weil die Kälte draußen unerträglich ist. Das ist Alltag in der Stadt, die seit Monaten einen Überlebenskampf führt. Eine Schülerin hat mir dort in dieser Wärmestube erzählt, dass sie früher Volleyball gespielt hat – am liebsten fünf gegen fünf. Aber in 45 Sekunden kann man sich nicht aus der Volleyballhalle flüchten. In 45 Sekunden schafft man es auch nicht, eine Schule zu evakuieren. Deswegen sitzen diese Schüler seit Monaten zu Hause. Sie spielen kein Volleyball, sie gehen nicht zur Schule, sie gehen kaum raus. Sie warten und zählen immer wieder bis 45. Und der sehnlichste Wunsch dieser Schülerin und ihrer Mitschüler ist, endlich wieder zur Schule zu gehen, endlich wieder Volleyball zu spielen. Endlich zu hören, dass dieser Krieg aufhört. Das ist das, was mich jeden Tag antreibt.

Seit einem Jahr tötet Russlands Krieg in der Ukraine täglich Menschen. Dieser Krieg darf für uns niemals zur Normalität werden. Deswegen müssen und werden wir weiter hinsehen, was in der Ukraine passiert.

Deshalb ist es für mich so wichtig, den Menschen dort sagen zu können: „Sie können sich auf unsere Unterstützung verlassen“. Denn genau das hat mich diese Schülerin am Ende unseres Gesprächs auch gefragt: „Können wir uns auf euch verlassen?“ Und ehrlich gesagt zuckt mir bei solchen Fragen immer ganz kurz der Atem. Weil ein Versprechen, das man gibt, auch gehalten werden muss. Und wir wissen nicht, ob dieses „Ja“ ein paar Wochen bedeutet, ein paar Monate oder eben auch ein paar Jahre. Aber ich habe „Ja“ gesagt, aus voller Überzeugung. Weil es auch unsere 45 Sekunden sind.

Das ist für mich eine der großen Lehren aus dem letzten Jahr. Das Vertrauen unserer Partnerinnen und Partner in unser Land ist eine, vielleicht sogar die wichtigste Währung deutscher Außenpolitik. Wir Deutschen werden nie vergessen, dass wir unser Leben in Frieden und in Sicherheit und in Freiheit nach der Wiedervereinigung unseren Freundinnen und Freunden in der Welt zu verdanken haben, auf die wir uns verlassen konnten, auch wenn die Stimmung in ihren Ländern manchmal kippte.

Deshalb ist es heute an uns, ihnen die Hände zu reichen und zu sagen: „Wir stehen an eurer Seite. Ihr könnt euch auf uns verlassen, auch wenn Debatten heftiger und härter werden.“ Denn in einer Zeit, in der in Europa ein Krieg tobt, ist dieses Vertrauen unsere gemeinsame Lebensversicherung. Aber dieses Vertrauen ist eben nicht selbstverständlich. Wir müssen es uns immer wieder neu erarbeiten.

Ich weiß, es ist nicht besonders originell, in einer Rede bei der Heinrich-Böll-Stiftung Heinrich Böll zu zitieren. Aber ich mache es trotzdem, weil er viele kluge Dinge gesagt hat, an die wir uns immer wieder erinnern sollten. Ich zitiere: „Freiheit wird nie geschenkt, immer nur gewonnen.“

Dieser Satz ist heute aktueller denn je. Denn die Ukraine verteidigt nicht nur ihren Frieden – dass Kinder wieder zur Schule gehen können – sondern eben auch die Freiheit. Einen Frieden in Freiheit. Dass das keine Selbstverständlichkeit ist und kein Automatismus, sieht man im Nachbarland. Das sieht man in Belarus. Dort muss man dieser Tage zum Glück nicht wegen Raketeneinschlägen bis 45 zählen. Aber frei sind ganz viele dennoch nicht. Deswegen ist dieser Satz von Heinrich Böll für mich auch eine Antwort auf diejenigen, die immer wieder sagen: „Ja, dann lasst doch die Waffen schweigen, ob nun die gesamte Ukraine ukrainisch ist oder nicht – sei's drum.“

Aber das würde auch bedeuten, dass diese Schüler in Charkiw weiter bis 45 zählen muss, weil die Raketen aus Russland kommen und die Grenze nur 40 Kilometer weg ist und deswegen die Luftabwehr nicht wie an anderen Orten der Ukraine greifen kann. Das würde bedeuten, dass Kinder und Jugendliche in der Ost-Ukraine, mit denen man noch nicht mal sprechen kann, weil man dort nicht hinreisen kann, die unter russischer Besatzung leben, dass sie nicht frei in Frieden leben würden. Daher bedeutet für mich eine Forderung nach einem Waffenstillstand, auch wenn Waffenstillstand immer so einfach klingt, nicht automatisch Frieden und erst recht nicht Frieden in Freiheit. Denn ein diktierter Waffenstillstand unter den jetzigen Bedingungen, bei denen ein Teil der Ukraine besetzt ist und weiter Raketen und Bomben fliegen – ein diktierter Waffenstillstand dient nicht dem Frieden in der Ukraine, sondern der Unterwerfung der Ukraine. Denn die Abwesenheit von Krieg bedeutet nicht automatisch Frieden in Freiheit. Ein Diktatfrieden ist das Gegenteil von einem gerechten Frieden. Denn ein solcher Friedensbegriff, ein diktierter Frieden, akzeptiert das Recht des Stärkeren und tritt damit auch das Völkerrecht mit Füßen.

Deshalb ist es so wichtig gewesen, dass wir im letzten Jahr gemeinsam auf der ganzen Welt darüber diskutiert haben: Was bedeutet Frieden für die Ukraine? Und viele, die ich gesprochen habe, haben am Anfang gesagt: „Das ist euer Krieg. Es ist euer Frieden. Das ist Europa. Wo wart ihr, als wir euch gebraucht haben?“ Und diese Frage stimmt. Dieser Frage müssen wir uns immer wieder selbstkritisch stellen. Aber nichtsdestotrotz habe ich immer wieder darum geworben, zu sagen „Ihr habt recht mit dieser kritischen Frage. Aber wem dient es, wenn wir Fehler der Vergangenheit jetzt wiederholen; wenn andere wegsehen, wenn das Völkerrecht mit Füßen getreten werden?“ Denn die Freiheit, sie wird niemandem auf der Welt geschenkt. Sie muss immer wieder neu gewonnen werden. Daher ist es so wichtig, dass wir in diesem Moment, in diesem bedrohlichen Sicherheitsumfeld, nicht nur in unsere europäische Sicherheit investieren, sondern auch in das Vertrauen unserer Freunde und Partner weltweit.

Das gilt zu allererst für die Unterstützung für die Menschen in der Ukraine. Von Tag eins seit Beginn des russischen Angriffskrieges waren wir für sie da – mit humanitärer Hilfe, mit finanzieller Hilfe und mit militärischer Hilfe. Aber nicht nur wir. So viele Länder aus der ganzen Welt – manche haben das nicht kundgetan, weil sie Sorge hatten, dass sie dann Repressalien erleiden müssen – so viele Länder auf der ganzen Welt unterstützen die Ukraine militärisch, aber vor allen finanziell und humanitär.

Und ja, es war richtig, dass wir uns mit unseren Partnern im Januar abgestimmt haben, gemeinsam auch Kampfpanzer in die Ukraine zu liefern. Und zwar nicht, weil wir Panzer toll und erst recht nicht harmlos finden. Aber weil wir uns immer wieder fragen müssen, was wäre, wenn wir gewisse Entscheidungen nicht treffen würden? Wir haben auch eine Verantwortung für das, was wir nicht tun.

Wir haben uns entschieden, dass wir in dieser Situation – wie in den Monaten davor – denjenigen beistehen müssen, die ihre Freiheit verteidigen und die dem Wunsch dieser Schülerin, einfach wieder zur Schule zu gehen, gerecht werden wollen. Weil es das ist, was die Ukraine jetzt braucht und aus meiner Sicht auch das ist, was das internationale Recht von uns erwartet, verbrieft in der Charta der Vereinten Nationen.

In dem Moment, in dem der Sicherheitsrat mit seinen fünf Mitgliedern ausfällt und nicht für den Weltfrieden sorgt, ist es eine Frage für die Generalversammlung. Und die Generalversammlung hat diese Frage im März gemeinsam mit einer sehr, sehr großen Mehrheit beantwortet: Wir stehen auf der Seite des Völkerrechts.

Wenn man sich entscheiden muss zwischen Recht und Unrecht, zwischen einem Aggressor und den Opfern – dann stehen wir auf der Seite des Rechts und auf der Seite der Menschen. Denn wir akzeptieren nichts, das in Europa oder anderen Orten der Welt Grenzen mit Gewalt verschoben werden und das Millionen Menschen unsagbares Leid zugefügt wird. Wir akzeptieren nicht, dass Wladimir Putin uns die Logik vergangener Jahrhunderte aufzwingen will, in der das Recht des Stärkeren mehr zählt als das Völkerrecht. Und das ist, das war die brutale Lehre für viele andere Länder der Welt.

Es ist keine abstrakte Angst. Insbesondere nicht für Moldau und Georgien, selbst in Armenien sieht man das als ganz reale Gefahr. Auch an anderen Orten der Welt sieht man das. Wenn wir akzeptieren würden, dass ein stärkerer Aggressor seinen schwächeren Nachbarn überfällt, dann könnte kein Land auf der Welt zukünftig ruhig schlafen. Die Länder in der russischen Nachbarschaft hören daher sehr genau hin, wenn sie einen Satz wie den von Wladimir Putin hören, nach dem der Zerfall der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sein soll.

Jan Philipp Albrecht hat es gerade angesprochen: Bei ein paar Dingen hat man vor ein paar Jahren gesagt: „Ist ja nicht so gemeint“. Jetzt sehen wir in der Ukraine, dass es genau so gemeint war. Deswegen ist diese Frage nach Vertrauen eben keine abstrakte Frage. Deswegen erwartet nicht nur die Ukraine, sondern erwarten auch die Länder in der Nachbarschaft der Ukraine, dass dieses Vertrauen auch in Zukunft gilt. Deshalb stellen wir jetzt gemeinsam mit unseren Partnerinnen und Partnern, unseren Freundinnen und Freunden in Europa unsere Sicherheit neu auf.

Wir investieren massiv in unsere Sicherheit. Und wir tun das nicht nach manchen Logiken aus dem letzten Jahrhundert, indem wir sagen: Das hier sind unsere westlichen Partner und Freunde. Für mich ist es nicht der Westen. Das kann jeder für sich selbst definieren, aber ich bin 42, ich bin nicht mit diesem Bild von „Osten und Westen“ aufgewachsen.

Den größten Teil meines Lebens habe ich in einem wiedervereinigten Deutschland im Herzen eines gemeinsamen Europas verbracht. Deswegen bezieht sich mein Verständnis, wie wir uns neu aufstellen, eben nicht nur auf G7, Nato und Europäische Union (EU).

Der russische Präsident hat ja darauf gesetzt, dass die EU nicht beieinandersteht, aber vor allen Dingen, dass die Organisation für Sicherheit in Europa (OSZE) und der Europarat auseinanderfliegen. Weil man davon ausgegangen ist, dass sich die EU-Staaten, die G7-Staaten zusammentun und alleine schauen, wie sie vorgehen. Aber das Gegenteil war der Fall. Einer der wichtigsten Sitzungen, obwohl sie medial die wenigste Aufmerksamkeit bekommen hat, war im letzten Jahr für mich das Treffen der OSZE-Außenministerinnen und -Außenminister.

Bei diesem Treffen haben wir intensiv gerungen über die Frage „Sind wir gescheitert oder sind wir nicht eigentlich enger zusammengewachsen?“ Aber am Ende dieser zwei Tage war das Ergebnis, dass die OSZE weiterhin Bestand hat, dass sie – obwohl sie gar keinen Haushalt hat, weil Russland das blockiert, obwohl keine Gelder gezahlt werden können, zum Teil an die eigenen Beschäftigten –, dass die OSZE für andere Regionen in Europa Missionen auf den Weg bringt, um bei Grenzstreitigkeiten aktiv zu werden. Das zeigt doch, dass selbst unter der härtesten Attacke auf das Völkerrecht, auf unsere gemeinsamen Regeln, dieses Recht stärker ist.

Wir müssen nur jeden Tag dafür eintreten und uns nicht einschüchtern lassen, sondern sagen: „Jetzt erst recht. Jetzt arbeiten wir erst recht für die Sicherheit in Europa zusammen.

Deswegen ist für mich auch die große Aufgabe im Jahr 2023, dass wir dieses Verständnis, jetzt erst recht die internationale Zusammenarbeit zu stärken, jetzt erst recht das Völkerrecht zu stärken, zur obersten Aufgabe unserer Diplomatie machen. Auch in den Ländern, die wegen ihrer Geschichte oder ihrer geografischen Lage besonders eng mit Russland verwoben sind.

Als ich im letzten Oktober nach Kasachstan gereist bin, habe ich mich dort mit meinem Amtskollegen in Astana über einen Windpark gesprochen, den eine deutsch-schwedische Firma dort bauen will – auf einer Fläche, die so groß wie Brandenburg ist. Solche Projekte sind essenziell im Kampf gegen die Klimakrise, der größten Sicherheitskrise unserer Zeit. Sie erlauben es Kasachstan aber auch, seine Wirtschaftskontakte zu diversifizieren und mit Windparks seine eigene Sicherheit zu stärken.

Denn Kasachstan teilt mit Russland die längste Landgrenze der Welt, auf über 7.500 Kilometern. Fast die Hälfte aller kasachischen Importe kommen aus Russland. Und Astana war immer einer der engsten Verbündeten Moskaus. Aber der Krieg gegen die Ukraine hat eben auch dieses Vertrauen und diese Beziehungen erschüttert.

Als wir in den Vereinten Nationen russischen Angriffskrieg verurteilt haben, da hat sich Kasachstan nicht auf die Seite von Russland geschlagen. Als Russland die Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk erklärt hat, da hat Astana bei dieser Farce nicht mitgemacht.

Denn klar ist auch dort: Ein Land, das seine Nachbarn überfällt und Energie als Waffe einsetzt, dessen führende Politiker die Eigenstaatlichkeit Kasachstan öffentlich infrage stellen, so ein Land ist kein verlässlicher Partner, für niemanden. Das spürt man logischerweise nicht nur in Kasachstan. Deshalb ist es jetzt für uns so entscheidend, dass wir auch darüber hinaus deutlich machen können, auch außerhalb Europas, dass sie auf unsere Zusammenarbeit bauen können. Wir tun das in Europa mit Blick auf Kasachstan oder auch Usbekistan, wo wir neue Partnerschaften suchen.

Wir sind da, wenn Länder wie Georgien, Moldau oder auch die Staaten des westlichen Balkans den Weg in die EU suchen, wenn sie resilienter werden wollen gegen russische Desinformation oder wenn sie ihre Infrastruktur gegen Hackerangriffe schützen wollen. Auch das waren Momente in diesem Jahr des Schreckens, in denen wir gesehen haben, dass wir gemeinsam stark sind: Zum Beispiel als wir Bosnien und Herzegowina Blick den EU-Kandidatenstatus zuerkannt haben. Aus meiner Sicht war das vor drei, vor fünf Jahren unvorstellbar, dass sich die EU einstimmig darauf verständigt.

Und wir sind da, wenn sich in Bergkarabach ein Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien zuspitzt, der seit 30 Jahren riesiges menschliches Leid verursacht. Wir haben gemeinsam als EU beschlossen, dass wir eine neue EU-Mission dort auf den Weg bringen. Es freut mich, dass ein deutscher Leiter diese Mission vor Ort anführen wird.

Ich weiß, dass sich viele hier im Jahr Saal seit Jahrzehnten in der Region engagieren, mit Gesprächsformat, mit Austauschprogrammen für Schulklassen, mit Spendensammeln, mit Menschenrechtsaktionen. Ihr, Sie alle haben so viel geleistet für die Zivilgesellschaften in diesen Ländern, mit denen wir jetzt genau in diesem Moment des Angriffskrieges unsere Zusammenarbeit ausbauen können, weil es ein stabiles Fundament dafür gibt.

Die Büros der unterschiedlichen Stiftungen, gerade auch der Heinrich-Böll-Stiftung, sind für viele Menschen vor Ort ein zweites Zuhause der Demokratie und Freiheit geworden, wo diskutiert, gearbeitet, gelernt und zum Glück auch viel gelacht wird. Freiheit wird nie geschenkt, immer nur gewonnen. Dieser Satz treibt viele dort, aber auch viele von euch und Ihnen an. Niemand weiß so gut wie ihr alle, worum es hier bei diesem Engagement geht: Darum, Millionen von Menschen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft zusammenzubringen. Das ist auch das, was meinen Ansatz von Außenpolitik leitet. Es sind nicht nur die Besuche zwischen Ministerinnen und Ministern in Hauptstädten, sondern es geht darum, Menschen zueinander miteinander ins Gespräch zu bringen. Diese Staaten repräsentieren Millionen von Menschen mit unterschiedlichen Geschichten und Traditionen, mit unterschiedlichen Träumen und Bedürfnissen.

Diese Vielfalt wollen wir stärker in den Blick nehmen. Es geht jetzt nicht darum, dass wir, wenn wir sagen „wir verteidigen unsere Freiheit, unseren Frieden, unsere gemeinsamen Werte“, dass wir dann alles plötzlich gleichmachen müssen, sondern es geht darum, in unserer Vielfalt für das einzustehen, was uns alle verbindet. Weil wir Menschen sind, weil wir alle von Frieden und Freiheit träumen.

Deswegen werden wir diese menschlichen Formate weiter stärken: mit der Zivilgesellschaft, aber auch im Jugendbereich, zwischen Schulklassen, zwischen Universitäten und mit den politischen Stiftungen. Ich freue mich deshalb, dass wir letzte Woche im Bundeskabinett beschlossen haben, dass Robin Wagener in Zukunft die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit der Republik Moldau, dem Südkaukasus und Zentralasien für die Bundesregierung koordinieren wird.

Lieber Robin, deine Arbeit wird genau für diesen Ansatz stehen: „Wir hören euch. Ihr könnt euch auf uns verlassen.“

Diese Botschaft werden wir gemeinsam auch an die Zivilgesellschaft von Belarus und Russland senden, gerade weil es momentan nicht möglich ist, in diese Länder zu reisen. Viele mutige Russinnen und Russen, die sich gegen diesen Krieg gestellt haben, sind nicht weg. Sie wurden zum Teil weggesperrt. Aber sie sind da und sie brauchen den Dialog mehr denn je. In Belarus sind noch immer über 1.500 politische Gefangene in Haft, weil Lukaschenko sein eigenes Volk unterdrückt. Für diese Menschen schaffen wir speziell zugeschnittene Gesprächskanäle und Projekte, die weder Putin noch Lukaschenko zerstören kann. Mit der russischen Zivilgesellschaft im Exil starten wir als Bundesregierung einen Runden Tisch, bei dem wir demokratische russische Kräfte im Exil zusammenbringen, damit sie weiter für ein freies, demokratisches Russland aktiv sein können.

Dazu sind heute neue Angebote nötig. Viel wichtiger als je zuvor sind in dieser Situation Visa, Stipendien und digitale Vernetzungsangebote. Gleichzeitig wollen wir auch darüber sprechen, wie wir die Zivilgesellschaft in Russland weiter unterstützen können. Allein dieses Jahr setzen wir nicht trotz, sondern gerade wegen des russischen Angriffskrieges über 50 Projekte um, an denen russische Nichtregierungsorganisationen und Aktivistinnen beteiligt sind. Dabei spielen auch die politischen Stiftungen eine wichtige Rolle.

Die Zivilgesellschaft in Belarus unterstützen wir weiter mit unserem Aktionsplan, mit dem wir unabhängige Medien fördern, Schutzprogramme für Oppositionelle anbieten und Menschenrechtsverletzungen des Regimes dokumentieren, damit sie irgendwann zur Anklage gebracht werden können. Denn klar ist: Wir werden die demokratischen Kräfte in Belarus und Russland nicht vergessen. Wir lassen diese Menschen nicht alleine. Auch dort gibt es Schüler, die vielleicht nicht bis 45 zählen bis zum nächsten Raketeneinschlag zählen müssen, aber die jeden Tag darauf warten, wieder in Freiheit leben können.

Wenn wir in Zentralasien und im Südkaukasus um stärkeres Vertrauen werben, dann liegt das auch in unserem ureigenen Interesse. Denn wenn unsere Nachbarschaft nicht sicher ist, dann sind auch wir nicht sicher. Aber auch in Lateinamerika, Asien und Afrika sind wir als weltweit vernetzte Volkswirtschaften auf unsere Partnerinnen und Partner angewiesen. Das hat dieses letzte Jahr des Schreckens gezeigt.

Wir können weltweit nur gemeinsam agieren. Wir sehen aber, dass in vielen Ländern die Perspektive auf den russischen Angriffskrieg eine völlig andere ist. Das brauchen wir uns überhaupt nicht schönzureden. Deshalb nützt es auch nichts, wenn wir dort hinfahren und sagen: „Folgt uns einfach, wir sagen euch schon, was ihr tun müsst.“ Damit haben wir keinen Erfolg.

Worauf es ankommt, ist bereit zu sein, sich in die Perspektive des anderen zu versetzen. Wenn ich eine militärische Abhängigkeit von Russland habe, dann kann ich eben nicht so einfach sagen: „Na klar setze ich mal all eure Sanktionen um.“ Erst recht nicht, wenn mich gerade an meiner unmittelbaren Grenze mein eigenes Nachbarland bedroht. Deswegen ist es so wichtig, dass wir immer wieder bereit sind, die Sicht des anderen einzunehmen und zugleich nicht zu schweigen, wenn Argumente dem Völkerrecht widersprechen.

Aber zum Glück ist das Gegenteil der Fall. Zum Glück kommen da oftmals die gleichen Fragen wie in Charkiw. „Können wir uns auf euch verlassen?“ Diese Frage wurde mir auch in Sharm el Sheikh auf der letzten Klimakonferenz gestellt, als wir für einen Fonds für Schäden und Verluste, für Loss and Damage der Klimakrise geworben haben. Da waren einige überrascht, die mit der Haltung in die Gespräche gegangen sind: „Jetzt schlagen wir es doch vor. Jetzt sollten doch alle dankbar sein.“

Ich habe eine Sitzung vor Augen, wo ich erst gesagt habe: „Das kann doch nicht wahr sein.“ Da haben europäische Länder dafür geworben, dass wir mehr CO2-Reduktion machen und dass wir einen neuen gemeinsamen Fonds auflegen wollen. Und dann sagt ein afrikanisches Land: „Nein, wir lehnen das alles ab.“ Und auf die Rückfrage, dass es dann ja gar keine CO2-Reduktion gäbe und keine finanziellen Mittel, haben die Vertreter dieses Landes gesagt: „Ja, aber ihr habt uns das schon viel zu oft versprochen.“

Dabei stand im Hintergrund auch der Punkt, dass andere Länder natürlich Druck ausüben, dass sie in einer Gruppe waren, die bisher ihre Gruppe der Solidarität und des Vertrauens war, der sie sich automatisch anschließen, weil in Krisen bisher diese Länder diejenigen waren, die ihnen zur Hilfe gekommen sind.

Das heißt, wenn wir unsere Bündnisse ausweiten wollen, dann müssen wir uns auch immer wieder klarmachen, dass wir dort nicht automatisch einen Vertrauensvorschuss haben. Deshalb ist für mich bei der Frage der Friedenssicherung in Europa die Frage des Klimaschutzes so zentral. Nicht weil ich eine Grüne bin, sondern weil die Klimakrise eine riesige Sicherheitsgefahr für viele gerade kleinere Länder auf dieser Welt ist, die ganz genau wissen, warum die Charta der Vereinten Nationen ihr Lebenselixier ist. Diese Länder müssen wissen: Wir nehmen die größte Sicherheitsgefahr, die Klimakrise, sehr ernst.

Wir können dieses Vertrauen aber nur erreichen, wenn wir bei unseren Verpflichtungen, wie zum Beispiel bei den 100 Milliarden Dollar für die Klimafinanzierung, endlich dazu kommen, dass dieses Geld auch ankommt.

Für uns als Bundesrepublik Deutschland ist dieses Vertrauen eine zentrale Währung. Denn wenn wir wollen, dass andere Länder sich aus Abhängigkeiten lösen, so wie wir uns gelöst haben aus der Abhängigkeit von russischen Energien, wenn andere sich aus militärischen Abhängigkeiten in ihrer Region lösen wollen, dann geht es natürlich auch um finanzielle Sicherheit.

Das eine ist das Militärische – und zum Glück verbinden uns andere Länder nicht nur mit Militärmacht. Das heißt, in der Sicherheitsfrage sind im Zweifel andere gefragt. Aber uns verbindet man mit Verlässlichkeit, mit Vertrauen und Diplomatie – und als viertgrößte Volkswirtschaft natürlich auch mit unseren volkswirtschaftlichen Fähigkeiten.

Deswegen sind eine nachhaltige Wirtschaftspolitik und nachhaltige Wirtschaftsbeziehungen mit diesen Ländern in unserem ureigenen Sicherheitsinteresse. Sie ergänzen unsere Entwicklungszusammenarbeit, unsere Auswärtige Kultur- und Bildungsarbeit, die Arbeit der politischen Stiftung.

Deswegen ist es so wichtig, dass, wenn wir über Sicherheit sprechen, im erweiterten Sinne, zum Beispiel in der Nationalen Sicherheitsstrategie, wir das als eine integrierte Sicherheit zwischen all diesen Feldern verstehen. Dazu gehört auch die humanitäre Hilfe, nicht nur im Angesicht der furchtbaren Katastrophe in der Türkei und in Nordsyrien.

Ich höre immer mal wieder, gerade in einer schwierigen, angespannten Haushaltslage und mitten in den Haushaltsverhandlungen: „Aber wenn wir doch die viertgrößte Volkswirtschaft sind, warum sind wir dann der zweitgrößte Geber? Da könnten wir doch super kürzen.“

Meine Antwort darauf ist eine ganz simple: Weil als ein Land, das keine große Militärmacht, aber eine große Volkswirtschaft ist, Vertrauen unsere wichtigste Währung ist. Wenn wir in dem Moment, wo wir bei anderen darum werben, dass sie uns vertrauen sollen, dass sie uns bei der Sicherung unserer europäischen Friedensordnung unterstützen sollen, zugleich signalisieren, dass wir nicht mehr die Hilfe leisten, die wir in den vergangenen Jahren geleistet haben, dann ist dieses Vertrauen gebrochen. Deswegen werbe ich so dafür, dass wir das Gegenteil tun. Dass wir verstehen, dass auch nach der Zeitenwende die Frage von Sicherheit nicht plötzlich eine rein militärische geworden ist.

Ja, wir müssen viel stärker in unsere Wehrhaftigkeit investieren, weil wir offensichtlich verwundbar sind und weil offensichtlich gerade ein zentrales Land auf dieser Welt sich nicht an internationales Recht hält. Aber genauso müssen wir auch in die integrierte Sicherheit investieren – und die ist mehr als der Etat der Bundeswehr. Dabei ist für mich ganz entscheidend, dass wir unseren Partnerinnen und Partnern in Afrika, in Lateinamerika oder Asien faire und gute Angebote machen, die rein über die finanzielle Unterstützung in der Entwicklungsarbeit Zusammenarbeit hinausgehen.

Denn diese Länder wollen häufig nicht „Empfängerländer“ sein, sondern gemeinsam mit uns in ihre volkswirtschaftliche Entwicklung investieren. Dafür braucht es faire Angebote. Dafür braucht es das Vertrauen, dass wir keine „Deals“ machen, sondern langfristige Verträge, auf die sich beide Seiten verlassen können. Denn Vertrauen ist auch ihre Lebensversicherung, wenn der Meeresspiegel steigt oder wenn die nächste Dürre kommt oder die nächste Naturkatastrophe. Vertrauen ist in dieser Welt essenziell. Partner sind essenziell. Der Wunsch von uns allen – so vielfältig wir sind – ist eigentlich immer der gleiche: Darauf vertrauen zu können, dass uns in Notsituationen ein anderer hilft und sich nicht versteckt, weil er Sorge hat, dass ein Stärkerer machtvoller ist.

Das Vertrauen der Menschen in Charkiw setzt voraus, dass wir weiter hinschauen. Das Vertrauen der Menschen in Warschau, in Tallin und Vilnius setzt voraus, dass wir zeigen: Wir stehen für eure Sicherheit ein. Das Vertrauen der Menschen in Astana, in Neu-Delhi oder Accra setzt voraus, dass wir substanzielle und faire Angebote zur Zusammenarbeit machen.

Dieses Vertrauen ist nicht selbstverständlich. Wir müssen jeden Tag in dieses Vertrauen investieren. „Können wir uns auf euch verlassen.“ Wenn wir jeden Tag in das weltweite Miteinander investieren, dann werden darauf auch in Zukunft mit „Ja“ antworten können. «


Quelle: Bulletin 20-3 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 14. Februar 2023

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