Veröffentlicht am: 15.03.2023 um 11:12 Uhr:

Bundesregierung: Rede der Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock, zur Vorstellung der Leitlinien zur Feministischen Außenpolitik

Am 1. März 2023 hat die Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock, zur Vorstellung der Leitlinien zur Feministischen Außenpolitik folgende Rede in Berlin gehalten...

» Sehr geehrte Gäste,
vor allen Dingen sage ich heute aber: liebe Kolleginnen und Kollegen,

denn so viele von Ihnen und Euch haben an dem mitgearbeitet, was wir jetzt hier in den Händen halten oder unter den Stühlen liegen haben – unsere neuen Leitlinien zur feministischen Außenpolitik.

Ich muss zugeben, dass ich mich in diesem Prozess immer wieder gewundert habe, was das für ein „Triggerwort“ ist, dieses kleine Wort „feministisch“. Dabei ist das, was wir mit diesen Leitlinien anstreben, etwas, was im 21. Jahrhundert eigentlich selbstverständlich sein sollte – nämlich, dass alle Menschen die gleichen Rechte, Freiheiten und Chancen haben, egal welchen Geschlechts, egal welcher Religion sie angehören, egal wer ihre Eltern sind, wie sie aussehen oder wen sie lieben.

Und Frauen stellen bekanntermaßen in jedem Land die Hälfte einer Gesellschaft. Feministische Außenpolitik ist also kein Kampfbegriff, sondern leitet sich bei uns aus dem Grundgesetz ab. Und das ist sicher kein Gedöns. Es ist eine harte Sicherheitsfrage.

Denn „wenn Frauen nicht sicher sind, dann ist niemand sicher“. So hat es mir eine Ukrainerin gesagt, als wir nahe der Kontaktlinie im Osten der Ukraine standen, und zwar noch vor dem 24. Februar 2022, vor Russlands brutalem Angriffskrieg. Dieser Satz hat mich seitdem begleitet. Weil wir alle wissen, was danach folgte: Krieg, Leid, furchtbare Gewalt. Weil dieser Satz uns zeigt, dass Frauenrechte zu oft ein Gradmesser sind für den Zustand unserer Gesellschaften. Zu oft ist Repression nach innen ein Warnsignal für zukünftige Aggressionen nach außen – wie im Falle Russlands.

Wenn Frauen nicht sicher sind, dann ist niemand sicher. Was aber auch wahr ist: Wo Frauen sicher sind, dort sind wir alle sicherer. Das ist die positive Botschaft. Wir wissen, dass Friedensverträge stabiler sind, wenn sie von Frauen mitgeschrieben werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Abkommen halten, steigt um 20 Prozent, wenn Frauen eingebunden werden.

Andersherum gilt: Wenn weite Teile der Weltbevölkerung ausgegrenzt sind, können Frieden und Sicherheit nicht dauerhaft erreicht werden, weil Gerechtigkeit damit nicht geschaffen ist. Und wenn weite Teile der Bevölkerung keine Möglichkeit der gleichberechtigten Teilhabe haben, kann keine Gesellschaft ihr Potenzial voll ausschöpfen.

Ökonomen sehen ein globales Wachstum von 26 Prozent in drei Jahren, wenn Frauen weltweit gleichberechtigt am Arbeitsmarkt teilhätten. Deswegen ist feministische Außenpolitik in unser aller Interesse. Deswegen ist sie nicht – wie manche so leicht despektierlich sagen – eine reine Werteangelegenheit, sondern feministische Außenpolitik ist in unserem Sicherheitsinteresse, in unserem ökonomischen Interesse.

Rechte, Repräsentanz, Ressourcen. Darum geht es bei der feministischen Außenpolitik. Im Zeichen dieser „drei R“ stehen unsere Leitlinien.

Wie der Name sagt, sollen sie uns leiten. Sie sind also nicht in Stein gemeißelt. Vielmehr sind sie eine Einladung, uns immer wieder selbst zu überprüfen, von anderen zu lernen und wenn nötig uns auch zu korrigieren, uns selbst zu reflektieren, um Dinge besser zu machen.

Feministische Außenpolitik setzt das fort, was wir in der Innenpolitik „Gendermainstreaming“ nennen – auch das war vor ein paar Jahren so ein „Triggerwort“ –, also der strategische Ansatz bei allen politischen und gesellschaftlichen Vorhaben und Entscheidungen die unterschiedlichen Lebenslagen von Menschen in all ihrer Vielfalt zu berücksichtigen.

So wie das Leitbild der Geschlechtergerechtigkeit auf der Erkenntnis basiert, dass es in vielen Bereichen keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt, weil unterschiedliche Geschlechter und unterschiedliche Menschen in unterschiedlicher Weise von politischen Entscheidungen und Verwaltungsakten betroffen sein können, gilt das auch in der Außenpolitik.

Und ich möchte an dieser Stelle auch sagen, weil es einige offensichtlich missverstanden haben oder es missverstehen wollen: Diese Leitlinien sind kein missionarisches Pamphlet, mit dem wir naiv die Welt verbessern wollen. Im Gegenteil. Mir geht es darum, uns geht es darum, von anderen zu lernen. Weil wir sehen, dass in anderen Regionen der Welt man uns auch in manchem voraus ist. Wenn wir uns etwa den Anteil von Frauen in den Parlamenten von Ruanda, Mexiko und Südafrika anschauen, dann sehen wir, dass er deutlich höher ist als bei uns hier in Deutschland.

Je mehr Länder mit dabei sind, desto besser können auch wir selbst werden. Und das Gute ist auch hier: Wir werden immer mehr. Gerade bei der Münchner Sicherheitskonferenz haben sich viele von uns getroffen – von rund um den Globus, von Spanien bis nach Chile und Kanada. Und auf der Münchener Sicherheitskonferenz hat mir meine Kollegin aus der Mongolei gesagt, dass sie im Juni zur feministischen Außenpolitik eine Konferenz veranstaltet, weil ihr Land als erster asiatischer Staat eine solche feministische Außenpolitik verfolgt.

Und heute Morgen haben wir gemeinsam, Svenja Schulze und ich, im Kabinett die Leitlinien zur feministischen Außenpolitik und zur feministischen Entwicklungspolitik des BMZ vorgestellt. Weil wir gemeinsam nicht nur weltweit, sondern in der Bundesregierung an einem Strang ziehen.

Jetzt fragen sich vielleicht einige – und das haben einige auch heute Morgen gefragt – nicht im Kabinett natürlich, sondern davor die Journalisten auf der Straße: „Haben wir Frauenrechte nicht schon immer gefördert? Das ist doch etwas, das wir schon die ganze Zeit machen – was ist denn da wirklich anders?“

Natürlich ist das keine Revolution. Es wäre auch traurig, wenn das nötig wäre. Aber es sind drei Dinge, die aus meiner Sicht einen Unterschied machen.

Erstens „mainstreamen“ wir alle „drei R“ – also Rechte, Ressourcen, Repräsentanz – in allen Politikfeldern. Mainstreaming ist ein sperriges Wort. Deswegen möchte ich an Beispielen deutlich machen, was wir meinen.

Mainstreaming heißt zum Beispiel, dass wir in der humanitären Hilfe in Krisengebieten nicht nur sagen: wir stellen jetzt 100 Millionen Euro für Erdbebenopfer oder für Jemen bereit, sondern, dass wir uns fragen: Für wen genau sind diese Mittel, wen wollen wir erreichen? Wer lebt eigentlich in diesen Flüchtlings- oder Erdbebencamps?

Und dann sehen wir, dass da nicht nur Leute leben, die aussehen wie die drei Herren hier in der Mitte, sondern dass auch viele Frauen und Kinder mit dabei sind. Und wir sehen, dass ein 18-jähriger Teenager einen ganz anderen Bedarf hat als ein acht Monate alter Säugling.

Mainstreaming in der humanitären Hilfe heißt dann aber nicht: manche kriegen gar nichts mehr, der 18-Jährige oder das acht Monate alte Baby, sondern es heißt, dass wir unsere Bedarfe gezielt anpassen. Wenn viele Babys da sind – dass wir natürlich auch Mittel bereitstellen für Windeln. Und dass wenn viele ältere Leute da sind, wir auch Mittel dafür bereitstellen, dass manche von ihnen nicht mehr zu Fuß mobil sind.

Oder dass, weil bekanntermaßen die Hälfte von Gesellschaften Frauen sind, wir in solchen Situationen auch daran denken, dass Frauen besondere Hygieneartikel brauchen. In Flüchtlingscamps war das zum Beispiel bisher keine Selbstverständlichkeit – auch wenn manche denken, das sei ein No-Brainer. Bei meinen Reisen führe ich allerdings auch Strichlisten über Hotels – wahrscheinlich sieht es viel schlechter aus in den Hotels als in den Flüchtlingscamps, weil man das da offensichtlich nicht mitdenkt. Das klingt banal und wie eine Anekdote – aber es unterstreicht für mich immer wieder: Es ist eben keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen uns immer wieder selbst vergegenwärtigen, was es heißt, andere mitzudenken.

Auf der anderen Seite kann Mainstreaming auch ganz einfach sein, weil es uns selbst spiegelt, unser Verhalten spiegelt, so wie wir auftreten. Wenn wir uns bewusst im Auswärtigen Amt entscheiden, dass wir bei Einstellungen unser Ziel von 50 Prozent Frauen erreichen wollen– und auf der politischen Ebene ist das ein bisschen einfacher, weil ich das entscheiden kann. Oder wenn wir mit einer Delegation reisen, wo die Hälfte – angefangen vom BKA über die politischen Berater bis zu den Übersetzerinnen – Frauen sind. Dann kommt es manchmal vor, dass bei uns plötzlich nur Frauen am Tisch sitzen. Und dann passieren interessante Dinge. Dann ist der erste Satz – wenn auf der anderen Seite eines Delegationstisches zufälligerweise nur Männer sitzen – nach dem „Guten Tag“ meistens: „Bei uns ist heute leider die Übersetzerin krank“. Und wir haben da noch gar nichts gesagt.

Und das ist das, was man nicht unterschätzen darf: Wenn wir über Mainstreaming und Repräsentanz sprechen – dann wird natürlich auch genau beobachtet, wie wir anreisen. Und da haben wir bei uns besonderen Bedarf mit Blick auf unterschiedliche Herkünfte.

Mainstreaming heißt, dass wir die Lage von Frauen und marginalisierten Gruppen immer mitdenken – nicht nur ab und zu oder nach dem Motto „mitgemeint ist auch gleich mitgedacht“. Und das ist – da müssen wir ehrlich sein – eine komplexe Aufgabe, gerade auch bei uns hier im Haus.

Deswegen gehört für mich dazu, dass wir – und das ist mein zweiter Punkt – selbstkritisch reflektieren und uns ehrlich machen, was der Anfang dazu ist. Und das heißt, dicke Bretter zu bohren.

Das haben wir erlebt mit Blick auf Iran. Wir haben im November entschieden, eine Sondersitzung des VN-Menschenrechtsrates einzuberufen, um eine Kommission einzusetzen, die die brutale Niederschlagung der Proteste untersucht. Und ehrlich gesagt wussten wir selbst am Tag der Abstimmung, als ich in diesen Saal gekommen bin und meine Rede halten sollte, nicht, wie diese Abstimmung am Ende ausgeht. Und daher hatten viele – als wir gesagt haben, wir müssen das in den Menschenrechtsrat bringen – uns davon massiv abgeraten: „Wir wissen nicht, ob es reicht, wir wissen nicht, was das dann für ein Zeichen ist.“

Aber für mich ist gerade das Teil einer feministischen Außenpolitik: Dinge anzustoßen, wenn wir nicht sicher sind, dass der Erfolg sich sofort einstellt. Bereit zu sein, dicke Bretter zu bohren – selbst wenn man scheitern kann oder scheitert. Weil das Bohren dieser dicken Bretter bereits Veränderung schafft.

Wir haben uns dann – auch einige hier im Raum – die Finger wund telefoniert. Unsere Botschafterin vor Ort in Genf hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, hat mit jedem Botschafter einzeln noch einmal eine Tasse Kaffee getrunken, um unsere Partner mit an Bord zu holen. Und am Ende war das Ergebnis für uns ein Erfolg, nämlich 25 Ja-Stimmen, sechs Nein und 16 Enthaltungen. Vor allem die 16 Enthaltungen waren ein Erfolg, weil Länder im direkten Gespräch, weil Personen im direkten Gespräch, gesagt haben: „Eigentlich kann ich das nicht mit einem Nein unterstützen, diese Gewalt im Iran.“

Das war richtig – aber hier sind auch einige im Raum, die gefragt haben: „Und was folgt jetzt daraus?“ Denn wir sehen derzeit, dass die Mission nicht einreisen kann, auch wenn sie bereits Beweise von außen sammelt.

Klar ist: Wir sind nicht naiv. Feministische Außenpolitik heißt nicht, dass man glaubt, wenn man ein Thema einmal anspricht, dann stellt sich der Erfolg von selbst ein. Feministische Außenpolitik ist kein Zauberstab, mit dem wir das Unrecht dieser Welt im Handumdrehen wegzaubern könnten.

Nein, feministische Außenpolitik kennzeichnet, dass wir einen langen Atem brauchen. Sie muss daher pragmatisch ausloten, was realistisch möglich ist. Und das heißt, dass wir uns Dilemmata stellen und sie aushalten müssen. Wenn wir uns ihnen nämlich nicht stellen, wenn wir sagen „Wir sprechen das jetzt mal lieber nicht an“, dann passiert das, was aus meiner Sicht zu oft in der Vergangenheit passiert ist. Dann fallen die Frauenrechtsthemen unter den Tisch.

Für mich ist das in der letzten Zeit deutlich geworden mit Blick auf Afghanistan. Mit Blick auf das erste R, nämlich die Rechte. Wir haben erlebt – seit der Wiedermachtergreifung der Taliban – wie massiv Frauenrechte mit Füßen getreten werden, der Zugang zur Schule verweigert wird, zur Universität, ja selbst zum Spazierengehen im Park. Und dann haben wir um Weihnachten herum die Nachricht bekommen, dass jetzt auch die Arbeit von Frauen, insbesondere in der humanitären Hilfe, insbesondere im Bereich Gesundheitsversorgung und Lebensmittelversorgung, unmöglich gemacht wird, weil Frauen dort nicht mehr arbeiten sollten.

Und das ist ein Moment, in dem man sich fragt: Was machen wir jetzt? Natürlich haben wir das als erstes verurteilt und gesagt: Das geht nicht. Aber die Frage, die sich dann stellte – und das ist der Moment wo sich zeigt, ob man bereit ist, Dilemmata auszusprechen – war: Was ist, wenn wir jetzt einfach die Gelder weiterzahlen? Und bereit zu sein, das zu Ende zu denken – wissentlich, dass das ein ganz, ganz schwieriges Ende wird – ist das, wo für mich feministische Außenpolitik beginnt. Nicht beim Verkünden der großen, tollen Ergebnisse am Ende – sondern beim Stellen der schwierigen Fragen.

Und deswegen haben wir, habe ich als Außenministerin bei den Vereinten Nationen gefragt: „Was machen wir? Zahlen wir jetzt einfach weiter?“ Das würde ja heißen, wir würden Frauen dafür bezahlen, dass sie zu Hause bleiben in ihrem – so fühlen es viele Frauen – häuslichen Gefängnis. Und auf der anderen Seite kam natürlich sofort die Frage: „Aber wenn wir kein Geld mehr geben, was passiert dann mit den 26 Millionen Menschen, die weiter auf humanitäre Hilfe angewiesen sind? Lassen wir dann nicht auch Frauen und Kinder im Stich?“

Und dann hätte man es sich einfach machen und sagen können: Wir tun einfach so, als sehen wir das gar nicht richtig. Und wir sagen den Taliban nochmal: Nein, nein, nein, das geht nicht – und dann zahlen wir einfach weiter, denn das Geld wird ja an unterschiedliche Organisationen, zum Teil auch hier im Raum, gezahlt – oder an die Vereinten Nationen.

Aber wenn man sich selbst verpflichtet mit einer feministischen Außenpolitik, da haben wir gesagt: Nein, wir verschließen nicht die Augen, sondern wir stellen uns dieser Frage. Und als wir sie bis zum Ende durchdacht haben, stellte sich gar nicht mehr die Frage: Lassen wir dann 26 Millionen im Stich? Denn wenn Frauen nicht mehr in der humanitären Hilfe arbeiten können, im Gesundheitsbereich, im Bereich Wasser und Lebensmittel, dann werden Frauen in Afghanistan auch nicht erreicht, weil Frauen von fremden Männern keine Lebensmittel annehmen dürfen. Das heißt, wir hätten die Frauen und Kinder sogar doppelt bestraft. Das war nicht einfach und ich habe von einigen auch gehört: „Ach, jetzt kommt sie mit ihrem Frauenthema und lässt dafür die armen Kinder und andere im Stich.“

Aber was wir durch diesen Diskurs, durch das Stellen der kritischen Fragen erreicht haben, ist, dass wir innerhalb der Vereinten Nationen und der EU gesagt haben: Wir können dieser Frage nicht aus dem Weg gehen und wir stellen sie hart. Und haben gemeinsam den Taliban gegenüber deutlich gemacht: Wir können nicht akzeptieren, dass Frauen dort nicht mehr arbeiten, weil es dann keine Gesundheitsversorgung mehr geben wird, weil ihr – die Taliban – es nicht wollt. Und zum Glück – das weiß man vorher nie – konnten wir jetzt erreichen, dass in den Bereichen Frauen wieder arbeiten dürfen. Das heißt, wir die humanitäre Hilfe leisten können, 26 Millionen erreichen. Wir wissen natürlich nicht, wie lange das trägt.

Aber was ich weiß, ist, dass wir weiter hinschauen werden, weil andere auch hinschauen. Huthis zum Beispiel, die im Norden von Jemen eine ähnliche Regel schon auf den Weg gebracht haben. Und die sich genau angeschaut haben, was passiert, wenn man gesagt hätte: „Wir können das so akzeptieren“.

Es ist für mich ein klares Signal an das Regime, dass wir nicht hinnehmen, dass Frauen ausgeschlossen werden. Und zugleich alles dafür tun, dass die 26 Millionen Menschen, die auf unsere internationale Hilfe angewiesen sind, diese Hilfe weiter bekommen. Das zeigt auch, dass feministische Außenpolitik nicht einfach ist, dass sie mit wahnsinnig schwierigen Entscheidungen verbunden ist. Weil es eben nicht um schöne Worte geht, sondern es geht um reale Probleme von realen Menschen. Es geht um Realfeminismus.

Und dafür werden wir unsere Instrumente neu anpassen. Das ist mein dritter Punkt und damit bin ich beim dritten R, den Ressourcen. Dem Genderbudgeting – noch ein sperriger Begriff. Wir haben uns in unseren Leitlinien zum Ziel gesetzt – und das BMZ hat das ganz ähnlich gemacht – bis zum Ende der Legislaturperiode 85 Prozent der von uns finanzierten Projekte gendersensibel und acht Prozent gendertransformativ einzusetzen. Gendersensibel, das heißt nicht, dass ab jetzt nur noch die Hilfe an Frauen geht. Also keine Sorge, das habe ich heute Morgen auch in der Zeitung gelesen: „Frau Baerbock, jetzt vergessen Sie bitte die Männer nicht.“ Keine Sorge, alle kriegen weiter unsere Unterstützung. Denn es geht bei der feministischen Außenpolitik ja gerade nicht darum, weniger Menschen zu erreichen, sondern mehr Menschen, nämlich alle Menschen in einer Gesellschaft.

Und es geht auch darum, Transparenz zu schaffen. Wenn wir wissen, mit welchen Geldern wir wen erreichen, wie unsere Gelder verwendet werden, dann sorgt das auch für viel mehr Klarheit, für viel mehr Effizienz bei unserer Mittelverwendung. Wenn wir zum Beispiel dabei helfen, ein Dorf im Nordosten Nigerias wiederaufzubauen, das vor Jahren von Boko Haram verwüstet wurde, dann ist es für uns wichtig zu überlegen: Wer plant das Dorf eigentlich? Wer darf Ideen einbringen und wer setzt das Ganze um? Denn natürlich kann man mit dem nötigen Geld einfach sagen: „Wir beauftragen jetzt einen Architekten, den wir schon immer kennen. Der hat das schon in anderen Dörfern super gut gemacht. Das macht er jetzt auch wieder hier.“

Oder man kann die Menschen vor Ort fragen: „Wen hättet ihr denn gerne? Wer soll das planen?“ Und dort, in Nigeria haben uns die Dorfbewohnerinnen und -bewohner gesagt: „Wir kennen eine nigerianische Architektin, mit der würden wir das gemeinsam gerne umsetzen.“ Und die hat dann die unterschiedlichen Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner gefragt: „Was ist euch wichtig? Was ist euch wichtig, wenn wir eine Straße, einen Weg planen? Was ist euch wichtig mit Blick auf die Hygiene und Sanitäreinrichtungen? Wo sollen die eigentlich liegen?“

Und ich wette, vor ein paar Jahrzehnten hätte man vielleicht gesagt „Ach lass das mal, wir brauchen die gar nicht alle fragen. Es kostet viel zu viel Zeit und viel zu viel Geld. Wir haben die alle schon mitgedacht.“

Ich wette aber auch, dann hätte dieses Dorf komplett anders ausgesehen. Denn auch zu unserer Überraschung haben sich die Frauen dort gewünscht, dass um ihre Häuser, kleine Häuser, eine relativ hohe Mauer gebaut wird, weil sie erfahren hatten, was es bedeutet, wenn Boko Haram in ihren Ort einzieht und sofort in ihre Tür eindringen kann. Und niemand von uns wäre auf die Idee gekommen zu sagen: „Wir bauen jetzt mal in dem neuen Dorf hohe Mauern.“

Aber es hat dazu geführt, dass alle Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner, aber vor allen Dingen die Frauen und die Kinder, wieder zurückgekehrt sind in dieses Dorf. Und ich wette auch, dass die Anlagen für Wasser und Sanitär an einer ganz anderen Stelle gestanden hätten, wenn man nicht die Bewohnerinnen und Bewohner gefragt hätte.

Weil es natürlich für ein Kind, das zehn Jahre alt ist oder auch für eine Frau, einen großen Unterschied macht, ob der Brunnen mitten im Dorf ist, ob die Toiletten mitten im Dorf sind oder ganz am Ende des Dorfes, wo man nach deutschen Hygienestandards und aus Geruchsgründen vielleicht gesagt hätte, die sollten wir lieber dort an den Rand bauen, der aber nicht beleuchtet ist.

Gendersensibilität bedeutet also, dass wir sensibler sind, dass wir aufmerksamer darauf achten, was die Belange aller sind und dass wir so unsere Hilfe auch effektiver einsetzen. Deshalb ist Genderbudgeting auch in unserem eigenen ökonomischen Interesse.

Zuhören; jenen eine Stimme geben, die leise sind oder leise gehalten werden und gemeinsam Veränderungen anstoßen – darum geht es bei der feministischen Außenpolitik. Aber natürlich fängt diese wichtige Arbeit bei uns selbst an.

Und wenn wir uns ehrlich machen und nicht einfach Dinge schönreden und sagen: „Wir haben halt nur 26 Prozent Frauen an den Botschaften, weil Frauen sich nicht beworben haben“, sondern hinterfragen, warum das eigentlich so ist. Dann fängt auch da die Arbeit erst richtig an. Von 226 Auslandsvertretungen haben bisher nur 60 weibliche Botschafterinnen. Und das ist kein Zufall. Das hat strukturelle Gründe. An diese strukturellen Gründe müssen wir ran, auch wenn es uns selbst manchmal schwerfällt.

Weil wir uns dann fragen müssen, warum zum Beispiel an einer unserer Botschaften in einem EU-Mitgliedstaat letztens bei einer Veranstaltung ein anderer Botschafter freundlich ausgeladen werden musste Und die Antwort ertragen müssen, dass dieser mit seinem Rollstuhl leider nicht in unsere Residenz kommen konnte. Genau das wollen wir ändern. Das war kein Zufall, dass er nicht kommen konnte, sondern es war eine Hürde. Man kann auch sagen, eine strukturelle Diskriminierung.

Darum bedeutet feministische Außenpolitik für uns hier im Haus, beim Bohren dicker Bretter, dass wir dafür sorgen, was eigentlich selbstverständlich ist, dass alle Beschäftigten jeden Morgen gerne zur Arbeit gehen – hoffentlich. Dass sie alle die gleichen einfachen Zugänge haben und gleichbehandelt werden und es keine strukturellen Hürden gibt. Ob das nun physische Hürden sind, psychische Hürden oder, wie Kolleginnen und Kollegen zu Recht beklagen, die fehlende Telefontechnik für Beschäftigte mit Hörbeeinträchtigung. Oder die unsichtbaren Hürden, die Glasdecken. Wir wollen daran arbeiten, das zu ändern.

Hier sitzen auch einige Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag, die dann mit freundlichen schriftlichen Fragen hoffentlich – das ist eine freundliche Einladung – immer mal wieder fragen: Wie weit sind Sie denn jetzt eigentlich gekommen, Frau Ministerin, mit Ihrer Anhebung der 26 Prozent? Und ja, das ist wichtig.

Deswegen haben wir uns auch „85 Prozent gendersensibel“ zum Ziel gesetzt und nicht 100 Prozent und ich hoffe, wir kommen zumindest an die 85 Prozent heran. Wir werden uns richtig anstrengen müssen. Aber das Wichtige ist, dass wir endlich damit anfangen, dass wir uns nicht davor fürchten, Hürden einzureißen und uns nicht davor fürchten, dass wir vielleicht am Ende nicht 100 Prozent erreicht haben.

Denn ja, es stimmt: wenn Frauen sicher sind, dann sind alle sicherer. Was aber auch stimmt: Wenn wir eine Politik machen wollen, die genau das erreicht, die aufmerksam hinschaut, auf die Sicherheit aller, die unsere Gesellschaft ausmachen, dann müssen auch wir unsere Gesellschaft in unserer gesamten Vielfalt abbilden.

Eine Politik, die einschließt und nicht ausschließt. Eine Politik von allen und für alle. 84 Millionen, ob laut oder leise. Je besser wir sie vertreten, desto besser können auch wir unser Land in der Welt vertreten. Das ist für mich eine feministische Außenpolitik im 21. Jahrhundert. Das ist für mich eine Außenpolitik auf der Höhe der Zeit.

Herzlichen Dank.

Rede der Bundesministerin des Auswärtigen,
Annalena Baerbock,

zur Vorstellung der Leitlinien zur Feministischen Außenpolitik
am 1. März 2023 in Berlin:

Sehr geehrte Gäste,
vor allen Dingen sage ich heute aber: liebe Kolleginnen und Kollegen,

denn so viele von Ihnen und Euch haben an dem mitgearbeitet, was wir jetzt hier in den Händen halten oder unter den Stühlen liegen haben – unsere neuen Leitlinien zur feministischen Außenpolitik.

Ich muss zugeben, dass ich mich in diesem Prozess immer wieder gewundert habe, was das für ein „Triggerwort“ ist, dieses kleine Wort „feministisch“. Dabei ist das, was wir mit diesen Leitlinien anstreben, etwas, was im 21. Jahrhundert eigentlich selbstverständlich sein sollte – nämlich, dass alle Menschen die gleichen Rechte, Freiheiten und Chancen haben, egal welchen Geschlechts, egal welcher Religion sie angehören, egal wer ihre Eltern sind, wie sie aussehen oder wen sie lieben.

Und Frauen stellen bekanntermaßen in jedem Land die Hälfte einer Gesellschaft. Feministische Außenpolitik ist also kein Kampfbegriff, sondern leitet sich bei uns aus dem Grundgesetz ab. Und das ist sicher kein Gedöns. Es ist eine harte Sicherheitsfrage.

Denn „wenn Frauen nicht sicher sind, dann ist niemand sicher“. So hat es mir eine Ukrainerin gesagt, als wir nahe der Kontaktlinie im Osten der Ukraine standen, und zwar noch vor dem 24. Februar 2022, vor Russlands brutalem Angriffskrieg. Dieser Satz hat mich seitdem begleitet. Weil wir alle wissen, was danach folgte: Krieg, Leid, furchtbare Gewalt. Weil dieser Satz uns zeigt, dass Frauenrechte zu oft ein Gradmesser sind für den Zustand unserer Gesellschaften. Zu oft ist Repression nach innen ein Warnsignal für zukünftige Aggressionen nach außen – wie im Falle Russlands.

Wenn Frauen nicht sicher sind, dann ist niemand sicher. Was aber auch wahr ist: Wo Frauen sicher sind, dort sind wir alle sicherer. Das ist die positive Botschaft. Wir wissen, dass Friedensverträge stabiler sind, wenn sie von Frauen mitgeschrieben werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Abkommen halten, steigt um 20 Prozent, wenn Frauen eingebunden werden.

Andersherum gilt: Wenn weite Teile der Weltbevölkerung ausgegrenzt sind, können Frieden und Sicherheit nicht dauerhaft erreicht werden, weil Gerechtigkeit damit nicht geschaffen ist. Und wenn weite Teile der Bevölkerung keine Möglichkeit der gleichberechtigten Teilhabe haben, kann keine Gesellschaft ihr Potenzial voll ausschöpfen.

Ökonomen sehen ein globales Wachstum von 26 Prozent in drei Jahren, wenn Frauen weltweit gleichberechtigt am Arbeitsmarkt teilhätten. Deswegen ist feministische Außenpolitik in unser aller Interesse. Deswegen ist sie nicht – wie manche so leicht despektierlich sagen – eine reine Werteangelegenheit, sondern feministische Außenpolitik ist in unserem Sicherheitsinteresse, in unserem ökonomischen Interesse.

Rechte, Repräsentanz, Ressourcen. Darum geht es bei der feministischen Außenpolitik. Im Zeichen dieser „drei R“ stehen unsere Leitlinien.

Wie der Name sagt, sollen sie uns leiten. Sie sind also nicht in Stein gemeißelt. Vielmehr sind sie eine Einladung, uns immer wieder selbst zu überprüfen, von anderen zu lernen und wenn nötig uns auch zu korrigieren, uns selbst zu reflektieren, um Dinge besser zu machen.

Feministische Außenpolitik setzt das fort, was wir in der Innenpolitik „Gendermainstreaming“ nennen – auch das war vor ein paar Jahren so ein „Triggerwort“ –, also der strategische Ansatz bei allen politischen und gesellschaftlichen Vorhaben und Entscheidungen die unterschiedlichen Lebenslagen von Menschen in all ihrer Vielfalt zu berücksichtigen.

So wie das Leitbild der Geschlechtergerechtigkeit auf der Erkenntnis basiert, dass es in vielen Bereichen keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt, weil unterschiedliche Geschlechter und unterschiedliche Menschen in unterschiedlicher Weise von politischen Entscheidungen und Verwaltungsakten betroffen sein können, gilt das auch in der Außenpolitik.

Und ich möchte an dieser Stelle auch sagen, weil es einige offensichtlich missverstanden haben oder es missverstehen wollen: Diese Leitlinien sind kein missionarisches Pamphlet, mit dem wir naiv die Welt verbessern wollen. Im Gegenteil. Mir geht es darum, uns geht es darum, von anderen zu lernen. Weil wir sehen, dass in anderen Regionen der Welt man uns auch in manchem voraus ist. Wenn wir uns etwa den Anteil von Frauen in den Parlamenten von Ruanda, Mexiko und Südafrika anschauen, dann sehen wir, dass er deutlich höher ist als bei uns hier in Deutschland.

Je mehr Länder mit dabei sind, desto besser können auch wir selbst werden. Und das Gute ist auch hier: Wir werden immer mehr. Gerade bei der Münchner Sicherheitskonferenz haben sich viele von uns getroffen – von rund um den Globus, von Spanien bis nach Chile und Kanada. Und auf der Münchener Sicherheitskonferenz hat mir meine Kollegin aus der Mongolei gesagt, dass sie im Juni zur feministischen Außenpolitik eine Konferenz veranstaltet, weil ihr Land als erster asiatischer Staat eine solche feministische Außenpolitik verfolgt.

Und heute Morgen haben wir gemeinsam, Svenja Schulze und ich, im Kabinett die Leitlinien zur feministischen Außenpolitik und zur feministischen Entwicklungspolitik des BMZ vorgestellt. Weil wir gemeinsam nicht nur weltweit, sondern in der Bundesregierung an einem Strang ziehen.

Jetzt fragen sich vielleicht einige – und das haben einige auch heute Morgen gefragt – nicht im Kabinett natürlich, sondern davor die Journalisten auf der Straße: „Haben wir Frauenrechte nicht schon immer gefördert? Das ist doch etwas, das wir schon die ganze Zeit machen – was ist denn da wirklich anders?“

Natürlich ist das keine Revolution. Es wäre auch traurig, wenn das nötig wäre. Aber es sind drei Dinge, die aus meiner Sicht einen Unterschied machen.

Erstens „mainstreamen“ wir alle „drei R“ – also Rechte, Ressourcen, Repräsentanz – in allen Politikfeldern. Mainstreaming ist ein sperriges Wort. Deswegen möchte ich an Beispielen deutlich machen, was wir meinen.

Mainstreaming heißt zum Beispiel, dass wir in der humanitären Hilfe in Krisengebieten nicht nur sagen: wir stellen jetzt 100 Millionen Euro für Erdbebenopfer oder für Jemen bereit, sondern, dass wir uns fragen: Für wen genau sind diese Mittel, wen wollen wir erreichen? Wer lebt eigentlich in diesen Flüchtlings- oder Erdbebencamps?

Und dann sehen wir, dass da nicht nur Leute leben, die aussehen wie die drei Herren hier in der Mitte, sondern dass auch viele Frauen und Kinder mit dabei sind. Und wir sehen, dass ein 18-jähriger Teenager einen ganz anderen Bedarf hat als ein acht Monate alter Säugling.

Mainstreaming in der humanitären Hilfe heißt dann aber nicht: manche kriegen gar nichts mehr, der 18-Jährige oder das acht Monate alte Baby, sondern es heißt, dass wir unsere Bedarfe gezielt anpassen. Wenn viele Babys da sind – dass wir natürlich auch Mittel bereitstellen für Windeln. Und dass wenn viele ältere Leute da sind, wir auch Mittel dafür bereitstellen, dass manche von ihnen nicht mehr zu Fuß mobil sind.

Oder dass, weil bekanntermaßen die Hälfte von Gesellschaften Frauen sind, wir in solchen Situationen auch daran denken, dass Frauen besondere Hygieneartikel brauchen. In Flüchtlingscamps war das zum Beispiel bisher keine Selbstverständlichkeit – auch wenn manche denken, das sei ein No-Brainer. Bei meinen Reisen führe ich allerdings auch Strichlisten über Hotels – wahrscheinlich sieht es viel schlechter aus in den Hotels als in den Flüchtlingscamps, weil man das da offensichtlich nicht mitdenkt. Das klingt banal und wie eine Anekdote – aber es unterstreicht für mich immer wieder: Es ist eben keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen uns immer wieder selbst vergegenwärtigen, was es heißt, andere mitzudenken.

Auf der anderen Seite kann Mainstreaming auch ganz einfach sein, weil es uns selbst spiegelt, unser Verhalten spiegelt, so wie wir auftreten. Wenn wir uns bewusst im Auswärtigen Amt entscheiden, dass wir bei Einstellungen unser Ziel von 50 Prozent Frauen erreichen wollen– und auf der politischen Ebene ist das ein bisschen einfacher, weil ich das entscheiden kann. Oder wenn wir mit einer Delegation reisen, wo die Hälfte – angefangen vom BKA über die politischen Berater bis zu den Übersetzerinnen – Frauen sind. Dann kommt es manchmal vor, dass bei uns plötzlich nur Frauen am Tisch sitzen. Und dann passieren interessante Dinge. Dann ist der erste Satz – wenn auf der anderen Seite eines Delegationstisches zufälligerweise nur Männer sitzen – nach dem „Guten Tag“ meistens: „Bei uns ist heute leider die Übersetzerin krank“. Und wir haben da noch gar nichts gesagt.

Und das ist das, was man nicht unterschätzen darf: Wenn wir über Mainstreaming und Repräsentanz sprechen – dann wird natürlich auch genau beobachtet, wie wir anreisen. Und da haben wir bei uns besonderen Bedarf mit Blick auf unterschiedliche Herkünfte.

Mainstreaming heißt, dass wir die Lage von Frauen und marginalisierten Gruppen immer mitdenken – nicht nur ab und zu oder nach dem Motto „mitgemeint ist auch gleich mitgedacht“. Und das ist – da müssen wir ehrlich sein – eine komplexe Aufgabe, gerade auch bei uns hier im Haus.

Deswegen gehört für mich dazu, dass wir – und das ist mein zweiter Punkt – selbstkritisch reflektieren und uns ehrlich machen, was der Anfang dazu ist. Und das heißt, dicke Bretter zu bohren.

Das haben wir erlebt mit Blick auf Iran. Wir haben im November entschieden, eine Sondersitzung des VN-Menschenrechtsrates einzuberufen, um eine Kommission einzusetzen, die die brutale Niederschlagung der Proteste untersucht. Und ehrlich gesagt wussten wir selbst am Tag der Abstimmung, als ich in diesen Saal gekommen bin und meine Rede halten sollte, nicht, wie diese Abstimmung am Ende ausgeht. Und daher hatten viele – als wir gesagt haben, wir müssen das in den Menschenrechtsrat bringen – uns davon massiv abgeraten: „Wir wissen nicht, ob es reicht, wir wissen nicht, was das dann für ein Zeichen ist.“

Aber für mich ist gerade das Teil einer feministischen Außenpolitik: Dinge anzustoßen, wenn wir nicht sicher sind, dass der Erfolg sich sofort einstellt. Bereit zu sein, dicke Bretter zu bohren – selbst wenn man scheitern kann oder scheitert. Weil das Bohren dieser dicken Bretter bereits Veränderung schafft.

Wir haben uns dann – auch einige hier im Raum – die Finger wund telefoniert. Unsere Botschafterin vor Ort in Genf hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, hat mit jedem Botschafter einzeln noch einmal eine Tasse Kaffee getrunken, um unsere Partner mit an Bord zu holen. Und am Ende war das Ergebnis für uns ein Erfolg, nämlich 25 Ja-Stimmen, sechs Nein und 16 Enthaltungen. Vor allem die 16 Enthaltungen waren ein Erfolg, weil Länder im direkten Gespräch, weil Personen im direkten Gespräch, gesagt haben: „Eigentlich kann ich das nicht mit einem Nein unterstützen, diese Gewalt im Iran.“

Das war richtig – aber hier sind auch einige im Raum, die gefragt haben: „Und was folgt jetzt daraus?“ Denn wir sehen derzeit, dass die Mission nicht einreisen kann, auch wenn sie bereits Beweise von außen sammelt.

Klar ist: Wir sind nicht naiv. Feministische Außenpolitik heißt nicht, dass man glaubt, wenn man ein Thema einmal anspricht, dann stellt sich der Erfolg von selbst ein. Feministische Außenpolitik ist kein Zauberstab, mit dem wir das Unrecht dieser Welt im Handumdrehen wegzaubern könnten.

Nein, feministische Außenpolitik kennzeichnet, dass wir einen langen Atem brauchen. Sie muss daher pragmatisch ausloten, was realistisch möglich ist. Und das heißt, dass wir uns Dilemmata stellen und sie aushalten müssen. Wenn wir uns ihnen nämlich nicht stellen, wenn wir sagen „Wir sprechen das jetzt mal lieber nicht an“, dann passiert das, was aus meiner Sicht zu oft in der Vergangenheit passiert ist. Dann fallen die Frauenrechtsthemen unter den Tisch.

Für mich ist das in der letzten Zeit deutlich geworden mit Blick auf Afghanistan. Mit Blick auf das erste R, nämlich die Rechte. Wir haben erlebt – seit der Wiedermachtergreifung der Taliban – wie massiv Frauenrechte mit Füßen getreten werden, der Zugang zur Schule verweigert wird, zur Universität, ja selbst zum Spazierengehen im Park. Und dann haben wir um Weihnachten herum die Nachricht bekommen, dass jetzt auch die Arbeit von Frauen, insbesondere in der humanitären Hilfe, insbesondere im Bereich Gesundheitsversorgung und Lebensmittelversorgung, unmöglich gemacht wird, weil Frauen dort nicht mehr arbeiten sollten.

Und das ist ein Moment, in dem man sich fragt: Was machen wir jetzt? Natürlich haben wir das als erstes verurteilt und gesagt: Das geht nicht. Aber die Frage, die sich dann stellte – und das ist der Moment wo sich zeigt, ob man bereit ist, Dilemmata auszusprechen – war: Was ist, wenn wir jetzt einfach die Gelder weiterzahlen? Und bereit zu sein, das zu Ende zu denken – wissentlich, dass das ein ganz, ganz schwieriges Ende wird – ist das, wo für mich feministische Außenpolitik beginnt. Nicht beim Verkünden der großen, tollen Ergebnisse am Ende – sondern beim Stellen der schwierigen Fragen.

Und deswegen haben wir, habe ich als Außenministerin bei den Vereinten Nationen gefragt: „Was machen wir? Zahlen wir jetzt einfach weiter?“ Das würde ja heißen, wir würden Frauen dafür bezahlen, dass sie zu Hause bleiben in ihrem – so fühlen es viele Frauen – häuslichen Gefängnis. Und auf der anderen Seite kam natürlich sofort die Frage: „Aber wenn wir kein Geld mehr geben, was passiert dann mit den 26 Millionen Menschen, die weiter auf humanitäre Hilfe angewiesen sind? Lassen wir dann nicht auch Frauen und Kinder im Stich?“

Und dann hätte man es sich einfach machen und sagen können: Wir tun einfach so, als sehen wir das gar nicht richtig. Und wir sagen den Taliban nochmal: Nein, nein, nein, das geht nicht – und dann zahlen wir einfach weiter, denn das Geld wird ja an unterschiedliche Organisationen, zum Teil auch hier im Raum, gezahlt – oder an die Vereinten Nationen.

Aber wenn man sich selbst verpflichtet mit einer feministischen Außenpolitik, da haben wir gesagt: Nein, wir verschließen nicht die Augen, sondern wir stellen uns dieser Frage. Und als wir sie bis zum Ende durchdacht haben, stellte sich gar nicht mehr die Frage: Lassen wir dann 26 Millionen im Stich? Denn wenn Frauen nicht mehr in der humanitären Hilfe arbeiten können, im Gesundheitsbereich, im Bereich Wasser und Lebensmittel, dann werden Frauen in Afghanistan auch nicht erreicht, weil Frauen von fremden Männern keine Lebensmittel annehmen dürfen. Das heißt, wir hätten die Frauen und Kinder sogar doppelt bestraft. Das war nicht einfach und ich habe von einigen auch gehört: „Ach, jetzt kommt sie mit ihrem Frauenthema und lässt dafür die armen Kinder und andere im Stich.“

Aber was wir durch diesen Diskurs, durch das Stellen der kritischen Fragen erreicht haben, ist, dass wir innerhalb der Vereinten Nationen und der EU gesagt haben: Wir können dieser Frage nicht aus dem Weg gehen und wir stellen sie hart. Und haben gemeinsam den Taliban gegenüber deutlich gemacht: Wir können nicht akzeptieren, dass Frauen dort nicht mehr arbeiten, weil es dann keine Gesundheitsversorgung mehr geben wird, weil ihr – die Taliban – es nicht wollt. Und zum Glück – das weiß man vorher nie – konnten wir jetzt erreichen, dass in den Bereichen Frauen wieder arbeiten dürfen. Das heißt, wir die humanitäre Hilfe leisten können, 26 Millionen erreichen. Wir wissen natürlich nicht, wie lange das trägt.

Aber was ich weiß, ist, dass wir weiter hinschauen werden, weil andere auch hinschauen. Huthis zum Beispiel, die im Norden von Jemen eine ähnliche Regel schon auf den Weg gebracht haben. Und die sich genau angeschaut haben, was passiert, wenn man gesagt hätte: „Wir können das so akzeptieren“.

Es ist für mich ein klares Signal an das Regime, dass wir nicht hinnehmen, dass Frauen ausgeschlossen werden. Und zugleich alles dafür tun, dass die 26 Millionen Menschen, die auf unsere internationale Hilfe angewiesen sind, diese Hilfe weiter bekommen. Das zeigt auch, dass feministische Außenpolitik nicht einfach ist, dass sie mit wahnsinnig schwierigen Entscheidungen verbunden ist. Weil es eben nicht um schöne Worte geht, sondern es geht um reale Probleme von realen Menschen. Es geht um Realfeminismus.

Und dafür werden wir unsere Instrumente neu anpassen. Das ist mein dritter Punkt und damit bin ich beim dritten R, den Ressourcen. Dem Genderbudgeting – noch ein sperriger Begriff. Wir haben uns in unseren Leitlinien zum Ziel gesetzt – und das BMZ hat das ganz ähnlich gemacht – bis zum Ende der Legislaturperiode 85 Prozent der von uns finanzierten Projekte gendersensibel und acht Prozent gendertransformativ einzusetzen. Gendersensibel, das heißt nicht, dass ab jetzt nur noch die Hilfe an Frauen geht. Also keine Sorge, das habe ich heute Morgen auch in der Zeitung gelesen: „Frau Baerbock, jetzt vergessen Sie bitte die Männer nicht.“ Keine Sorge, alle kriegen weiter unsere Unterstützung. Denn es geht bei der feministischen Außenpolitik ja gerade nicht darum, weniger Menschen zu erreichen, sondern mehr Menschen, nämlich alle Menschen in einer Gesellschaft.

Und es geht auch darum, Transparenz zu schaffen. Wenn wir wissen, mit welchen Geldern wir wen erreichen, wie unsere Gelder verwendet werden, dann sorgt das auch für viel mehr Klarheit, für viel mehr Effizienz bei unserer Mittelverwendung. Wenn wir zum Beispiel dabei helfen, ein Dorf im Nordosten Nigerias wiederaufzubauen, das vor Jahren von Boko Haram verwüstet wurde, dann ist es für uns wichtig zu überlegen: Wer plant das Dorf eigentlich? Wer darf Ideen einbringen und wer setzt das Ganze um? Denn natürlich kann man mit dem nötigen Geld einfach sagen: „Wir beauftragen jetzt einen Architekten, den wir schon immer kennen. Der hat das schon in anderen Dörfern super gut gemacht. Das macht er jetzt auch wieder hier.“

Oder man kann die Menschen vor Ort fragen: „Wen hättet ihr denn gerne? Wer soll das planen?“ Und dort, in Nigeria haben uns die Dorfbewohnerinnen und -bewohner gesagt: „Wir kennen eine nigerianische Architektin, mit der würden wir das gemeinsam gerne umsetzen.“ Und die hat dann die unterschiedlichen Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner gefragt: „Was ist euch wichtig? Was ist euch wichtig, wenn wir eine Straße, einen Weg planen? Was ist euch wichtig mit Blick auf die Hygiene und Sanitäreinrichtungen? Wo sollen die eigentlich liegen?“

Und ich wette, vor ein paar Jahrzehnten hätte man vielleicht gesagt „Ach lass das mal, wir brauchen die gar nicht alle fragen. Es kostet viel zu viel Zeit und viel zu viel Geld. Wir haben die alle schon mitgedacht.“

Ich wette aber auch, dann hätte dieses Dorf komplett anders ausgesehen. Denn auch zu unserer Überraschung haben sich die Frauen dort gewünscht, dass um ihre Häuser, kleine Häuser, eine relativ hohe Mauer gebaut wird, weil sie erfahren hatten, was es bedeutet, wenn Boko Haram in ihren Ort einzieht und sofort in ihre Tür eindringen kann. Und niemand von uns wäre auf die Idee gekommen zu sagen: „Wir bauen jetzt mal in dem neuen Dorf hohe Mauern.“

Aber es hat dazu geführt, dass alle Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner, aber vor allen Dingen die Frauen und die Kinder, wieder zurückgekehrt sind in dieses Dorf. Und ich wette auch, dass die Anlagen für Wasser und Sanitär an einer ganz anderen Stelle gestanden hätten, wenn man nicht die Bewohnerinnen und Bewohner gefragt hätte.

Weil es natürlich für ein Kind, das zehn Jahre alt ist oder auch für eine Frau, einen großen Unterschied macht, ob der Brunnen mitten im Dorf ist, ob die Toiletten mitten im Dorf sind oder ganz am Ende des Dorfes, wo man nach deutschen Hygienestandards und aus Geruchsgründen vielleicht gesagt hätte, die sollten wir lieber dort an den Rand bauen, der aber nicht beleuchtet ist.

Gendersensibilität bedeutet also, dass wir sensibler sind, dass wir aufmerksamer darauf achten, was die Belange aller sind und dass wir so unsere Hilfe auch effektiver einsetzen. Deshalb ist Genderbudgeting auch in unserem eigenen ökonomischen Interesse.

Zuhören; jenen eine Stimme geben, die leise sind oder leise gehalten werden und gemeinsam Veränderungen anstoßen – darum geht es bei der feministischen Außenpolitik. Aber natürlich fängt diese wichtige Arbeit bei uns selbst an.

Und wenn wir uns ehrlich machen und nicht einfach Dinge schönreden und sagen: „Wir haben halt nur 26 Prozent Frauen an den Botschaften, weil Frauen sich nicht beworben haben“, sondern hinterfragen, warum das eigentlich so ist. Dann fängt auch da die Arbeit erst richtig an. Von 226 Auslandsvertretungen haben bisher nur 60 weibliche Botschafterinnen. Und das ist kein Zufall. Das hat strukturelle Gründe. An diese strukturellen Gründe müssen wir ran, auch wenn es uns selbst manchmal schwerfällt.

Weil wir uns dann fragen müssen, warum zum Beispiel an einer unserer Botschaften in einem EU-Mitgliedstaat letztens bei einer Veranstaltung ein anderer Botschafter freundlich ausgeladen werden musste Und die Antwort ertragen müssen, dass dieser mit seinem Rollstuhl leider nicht in unsere Residenz kommen konnte. Genau das wollen wir ändern. Das war kein Zufall, dass er nicht kommen konnte, sondern es war eine Hürde. Man kann auch sagen, eine strukturelle Diskriminierung.

Darum bedeutet feministische Außenpolitik für uns hier im Haus, beim Bohren dicker Bretter, dass wir dafür sorgen, was eigentlich selbstverständlich ist, dass alle Beschäftigten jeden Morgen gerne zur Arbeit gehen – hoffentlich. Dass sie alle die gleichen einfachen Zugänge haben und gleichbehandelt werden und es keine strukturellen Hürden gibt. Ob das nun physische Hürden sind, psychische Hürden oder, wie Kolleginnen und Kollegen zu Recht beklagen, die fehlende Telefontechnik für Beschäftigte mit Hörbeeinträchtigung. Oder die unsichtbaren Hürden, die Glasdecken. Wir wollen daran arbeiten, das zu ändern.

Hier sitzen auch einige Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag, die dann mit freundlichen schriftlichen Fragen hoffentlich – das ist eine freundliche Einladung – immer mal wieder fragen: Wie weit sind Sie denn jetzt eigentlich gekommen, Frau Ministerin, mit Ihrer Anhebung der 26 Prozent? Und ja, das ist wichtig.

Deswegen haben wir uns auch „85 Prozent gendersensibel“ zum Ziel gesetzt und nicht 100 Prozent und ich hoffe, wir kommen zumindest an die 85 Prozent heran. Wir werden uns richtig anstrengen müssen. Aber das Wichtige ist, dass wir endlich damit anfangen, dass wir uns nicht davor fürchten, Hürden einzureißen und uns nicht davor fürchten, dass wir vielleicht am Ende nicht 100 Prozent erreicht haben.

Denn ja, es stimmt: wenn Frauen sicher sind, dann sind alle sicherer. Was aber auch stimmt: Wenn wir eine Politik machen wollen, die genau das erreicht, die aufmerksam hinschaut, auf die Sicherheit aller, die unsere Gesellschaft ausmachen, dann müssen auch wir unsere Gesellschaft in unserer gesamten Vielfalt abbilden.

Eine Politik, die einschließt und nicht ausschließt. Eine Politik von allen und für alle. 84 Millionen, ob laut oder leise. Je besser wir sie vertreten, desto besser können auch wir unser Land in der Welt vertreten. Das ist für mich eine feministische Außenpolitik im 21. Jahrhundert. Das ist für mich eine Außenpolitik auf der Höhe der Zeit.

Herzlichen Dank. «


Quelle: Bulletin 28-3 des x vom 8. März 2023

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