Veröffentlicht am: 09.05.2023 um 19:12 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur Übergabe der Empfehlungen der Expertenkommission Paulskirche
» Es ist gar nicht so furchtbar lange her, gut zweieinhalb Jahre, dass wir hier, in diesem Hause, miteinander versammelt waren zu einem kleinen, wenn ich das so sagen darf, Paulskirchen-Gipfel – mit Vertretern der Wissenschaft, der Museen, des Bundes, des Landes Hessen und der Stadt Frankfurt. Wir haben miteinander ausgeleuchtet, wie dieser wunderbare Ort Paulskirche eigentlich für die Zukunft weiterentwickelt werden könnte – unter dem Gesichtspunkt, dass er zu einem Ort moderner Geschichtsvermittlung und lebendiger Demokratieerziehung wird. Und wir haben damals, vor gut zweieinhalb Jahren, empfunden, dass es wohl das Klügste wäre, wenn wir dazu eine Kommission mit wirklich klugen Köpfen einrichten. Das hat stattgefunden. Die Kommission hat gearbeitet, und ich freue mich mit Stolz darauf, dass wir gemeinsam heute Morgen der Öffentlichkeit das Ergebnis ihrer Arbeit und ihre Empfehlungen präsentieren können.
Für mich ist die Paulskirche Teil eines größeren Bemühens. Die meisten wissen das. Ich versuche, seit Beginn meiner Amtszeit, seit jetzt mehr als sechs Jahren, darauf hinzuweisen, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist, dass sie nicht vom Himmel gefallen ist, dass sie auch nicht auf ewig garantiert ist, dass sie vom Engagement und vom Respekt gegenüber den Institutionen und den Bürgerinnen und Bürgern lebt. Die Demokratie ist eben, auch das muss uns bewusst sein, nicht das Ende der Geschichte, wie manche optimistisch Anfang der 1990er Jahre geglaubt haben. Wenn ich den letzten Democracy Report richtig lese, hat sich die Zahl der sogenannten klassischen Demokratien im Zeitraum der letzten fünf Jahre noch einmal verringert. Es ist dringend Zeit, dass wir uns über die Zukunft der Demokratie Gedanken machen. Das haben wir in vielen Veranstaltungen in den vergangenen Jahren hier gemacht. Aber darüber darf nicht vergessen werden, dass wir uns auch über die Vergangenheit, über die Geschichte der Demokratie weiter Gedanken machen müssen und damit beschäftigen müssen. Warum sage ich das? Ich komme aus einer Zeit, aus einem Schulunterricht, einem Geschichtsunterricht, in dem ich gelernt habe, dass wir unsere Demokratiegeschichte eigentlich regelmäßig als eine Geschichte des Scheiterns einander erzählen. Ich kann mich erinnern, und wir haben versucht, ein wenig dagegen anzuarbeiten, dass auch Weimar falsch erzählt wird, wenn wir nämlich diesen ersten Demokratieversuch in Deutschland nur als eine Geschichte des Scheiterns erzählen und dasselbe gilt für 1848/49.
Man kann es als Scheitern verstehen, wenn man zum Maßstab macht, dass alle Ziele derjenigen, die damals buchstäblich auf die Barrikaden gegangen sind, sich nicht verwirklicht haben. Aber wir können es auch erzählen als eine Geschichte des Gelingens, wenn wir wissen, welchen Mut diejenigen hatten, die gefallen sind oder die damals für Freiheit und Demokratie aufgestanden sind, wenn wir uns bewusst machen, wie viel dieses Mutes und wie viel der Ziele der damaligen Kämpfer für Freiheit und Demokratie sich heute auch im Grundgesetz wiederfinden.
Die Pflege der Demokratiegeschichte muss uns am Herzen liegen. Wir müssen uns bewusst machen, welche die Wegbereiter, welche die Protagonisten von Demokratie und Freiheit waren. Man sieht es nicht in diesem Raum, aber wir haben uns das auch zur Selbstverpflichtung hier im Schloss Bellevue gemacht. Natürlich nicht, indem wir die monarchische Geschichte, die in diesem Schloss verkörpert ist, verdrängen, aber indem wir gesagt haben: Nur Portraits von Monarchen sind in einem Amtssitz des Bundespräsidenten auch nicht ausreichend. Deshalb haben wir in die Ausstattung zunächst die preußische Aufklärung mit internationalen Zügen zur europäischen Aufklärung hereingenommen, und nebenan befindet sich jetzt seit zwei Jahren ein Robert-Blum-Saal, der sich auch mit der Frankfurter Paulskirche beschäftigt, sodass die Geschichte des Kampfes um Freiheit und Demokratie inzwischen auch hier im Schloss Bellevue bilderreich dokumentiert ist.
Die Paulskirche – ich glaube, da sind wir uns einig, sonst wären Sie nicht hier – ist einer der herausragenden Orte der deutschen Demokratiegeschichte: mit Blick auf die Nationalversammlung, die dort vor 175 Jahren tagte; mit Blick auf die Verfassung und die Grundrechte. Ich glaube, das alles markiert einen der großen Wendepunkte, an dem in Deutschland aus Untertanen Bürger wurden; der Ruf nach Freiheit, die Sehnsucht nach Freiheit, ließ sich dann auch in den folgenden Jahrzehnten nicht mehr dauerhaft unterdrücken.
Ich habe bei unserer ersten Zusammenkunft den leisen Verdacht geäußert, dass die Paulskirche bisher unter ihren Möglichkeiten geblieben ist. Sie wird genutzt für Veranstaltungen, für honorige Preisverleihungen, an denen ich auch teilgenommen habe, oder bei denen ich geredet habe. Aber ich bin ganz sicher, dass der Paulskirche weithin in der deutschen Bevölkerung nicht die Wertschätzung zukommt, die sie eigentlich verdient. Insofern machte es Sinn, dass wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir dieses Potential der Paulskirche für die aktuelle Demokratiedebatte noch stärker nutzen können. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich insbesondere dieses Themas angenommen haben: Wie wir in Zukunft mit der Paulskirche umgehen, mit der Architektur, mit der Geschichtsvermittlung; ob das Ganze nur in der Paulskirche oder aber auch in einem selbstständigen Haus der Demokratie geschehen kann und geschehen muss. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich damit intensiv beschäftigt haben und in wirklich überschaubaren Zeiträumen zu gemeinsamen Ergebnissen gekommen sind. Diese Ergebnisse, die ich natürlich schon zur Kenntnis genommen habe, sind, glaube ich, wirklich zielführend für die weitere Debatte, die sich jetzt anschließen muss.
Ich will mich ganz herzlich beim Kommissionsvorsitzenden bedanken, bei allen Mitgliedern der Kommission, die ihre Erfahrung, ihr Wissen aus den ganz unterschiedlichen Bereichen, die ich am Anfang genannt habe, eingebracht haben: aus der Geschichtswissenschaft, der historisch-politischen Bildung, der Denkmalpflege, der Architektur, des Städtebaus und vielen anderen. Wir sind uns der großen Vergangenheit der Paulskirche bewusst. Sie ist eine Herausforderung der deutschen Demokratiegeschichte, ein Schatz von nationaler Bedeutung, den wir gemeinsam ein bisschen stärker zum Glänzen bringen wollen. «
Quelle: Bulletin 45-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 26. April 2023