Veröffentlicht am: 31.05.2023 um 20:19 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Empfang für die Verfassungsgerichtspräsidenten der Europaratmitgliedstaaten

Beim Empfang für die Verfassungsgerichtspräsidenten der Europaratmitgliedstaaten hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier 4. Mai 2023 in Berlin nachfolgende Rede gehalten...

» So viele Richterinnen und Richter habe ich selten zu Gast. Herzlich willkommen im Schloss Bellevue! So wenig alltäglich Ihr Besuch hier ist, so allgegenwärtig ist das Thema, das Sie in diesem Jahr beschäftigt: der Klimawandel. Genauer gesagt, der „Klimawandel als Herausforderung für Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit“.

Der Kampf gegen den Klimawandel – daran besteht wohl kein Zweifel – muss verstärkt werden. Wir werden größere Anstrengungen brauchen, gerade auf internationaler Ebene. Ich komme eben zurück von einer Reise nach Kanada, die mich auch zu den Inuit in der arktischen Region geführt hat. Diese Volksgruppe ist buchstäblich in ihren Lebensgrundlagen und ihrer Lebensweise bedroht. Sie mag klein sein. Doch sie zeigt uns heute, was morgen der ganzen Menschheit droht, wenn wir den Trend der Erderwärmung nicht zum Halten bringen. Der Klimawandel ist ein globales Phänomen und keine Herausforderung, der ein Staat allein begegnen kann. Die Bedingungen und Anforderungen erfolgreicher Klimapolitik sind international äußerst komplex und anspruchsvoll. Sie lassen sich nicht in einem einfachen Vollzug von Gesetzen erledigen.

Eine besondere Brisanz hat daher die Frage, ob und inwieweit Gerichte den Kampf gegen den Klimawandel überprüfen oder gar als Akteure tätig werden können. Das Bundesverfassungsgericht wurde schon mehrfach mit dem Klimaschutz befasst – einmal bereits mit sehr breiter öffentlicher Resonanz, als es am 24. März 2021 seinen Klimaschutz-Beschluss erließ. Die Entscheidung werden Sie alle mit großem Interesse gelesen haben.

Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, verankert in Artikel 20a des Grundgesetzes, die Grundrechte des Grundgesetzes in einer intertemporalen Dimension und die deutsche Gesetzgebung zur Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens – das sind die verfassungsrechtlichen Ansatzpunkte, die das Bundesverfassungsgericht dafür wählte. Das Grundgesetz verpflichtet nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts den Gesetzgeber zur Sicherung grundrechtsgeschützter Freiheit über die Zeit und zur verhältnismäßigen Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen. Das Grundgesetz verpflichte den Staat dazu, tätig zu werden. Es verpflichte den Staat, „mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen und sie der Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten".

Der Klimaschutz-Beschluss hat nicht nur, aber überwiegend Zustimmung in der deutschen Öffentlichkeit gefunden und hierzulande viele einzelne Menschen und Nichtregierungsorganisationen dazu motiviert, die Bundesregierung, die Landesregierungen oder auch große Konzerne vor Gericht zu verklagen, um sie auf diesem Wege dazu zu zwingen, die Vorgaben des Pariser Klimaschutzabkommens einzuhalten und das 1,5-Grad-Limit zu erreichen. Erst im November 2022 wurde die Landesregierung Baden-Württemberg aufgrund einer Klage der Deutschen Umwelthilfe von dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg dazu verurteilt, ein Konzept zum Klimaschutz zu beschließen. Vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg sollen demnächst weitere Klimaklagen verhandelt werden. Auch in anderen Staaten sind Klimaklagen anhängig. In den Niederlanden war bereits im Jahr 2019 eine Klimaklage erfolgreich, als das Oberste Gericht in Den Haag die Entscheidung der Vorinstanz bestätigte, die die Regierung zu mehr Klimaschutz verpflichtet hatte.

Andere Gerichte außerhalb Deutschlands stehen Klimaschutzklagen eher skeptisch gegenüber. So hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg zwar schon Deutschland und Frankreich wegen Nichteinhaltung der europäischen Richtlinien zur Luftreinhaltung verurteilt – eine Subjektivierung hingegen hat er abgelehnt, als er im Dezember 2022 die Klage eines Pariser Bürgers auf 21 Millionen Euro Schadensersatz abwies. Viele Klagen sind inzwischen anhängig. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wurde im vergangenen Herbst von jungen Menschen aus Deutschland angerufen, in diesem Frühjahr von 2.000 „Klimaseniorinnen" aus der Schweiz. Das Thema, das Sie auf Ihrer diesjährigen Konferenz diskutieren, beschäftigt die Menschen – grenzüberschreitend, generationsübergreifend –, und sie nutzen die Instrumente, die ihnen das Recht zur Verfügung stellt.

Die Möglichkeit, vor Gerichten für mehr Klimaschutz zu klagen, ist abhängig von einem Rechtsweg für solche Sachverhalte. Dass sich Individuen an Gerichte wenden können, ist ein zentrales Element des Rechtsstaates. In Deutschland wird der Anspruch auf rechtliches Gehör vom Bundesverfassungsgericht als „Urrecht des Menschen" charakterisiert. Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert ihn in Artikel 6 als Recht auf ein faires Verfahren. Ohne diese rechtsstaatlichen Garantien könnten der Klimaschutz und die Einhaltung der Klimaschutzziele kaum von Gerichten verhandelt werden.

Das Bundesverfassungsgericht fasst das Zusammenwirken der Verfassungsgerichte in Europa, des Europäischen Menschengerichtshofs in Straßburg und des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg mit dem Begriff des „Verfassungsgerichtsverbundes" zusammen. Diesen Terminus finden wir weder in der Europäischen Menschenrechtskonvention noch im Recht der Europäischen Union, und wir finden ihn natürlich ebenfalls nicht im Recht der Nationalstaaten. Trotzdem überzeugt er. Er beschreibt eine Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, die bislang Ausdruck einer weitgehenden Einigkeit, eines Common Sense war. Einigkeit darüber, dass die Ausübung politischer Herrschaft demokratisch legitimiert sein muss, sich wiederkehrend in demokratischen Wahlen zu verantworten hat, dass die Ausübung der Herrschaft verfassungsgebunden erfolgt und diese Verfassungsbindung einer unabhängigen gerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt. Bei allen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten des Europarates: Dies ist unsere gemeinsame Verfassungstradition und Grundlage unserer gemeinsamen europäischen politischen Tradition.

Wir leben in unruhigen Zeiten, in Zeiten von Unsicherheit und des Umbruchs, in Zeiten von Krisen. Und das nicht erst seit dem völkerrechtswidrigen und verbrecherischen Überfall von Russland auf die Ukraine. Dieser Angriff ist indes der sichtbarste Ausdruck der Attacken, denen unsere demokratische Lebensform ausgesetzt ist.

Gerade die Menschen in der Ukraine kämpfen tagtäglich darum, Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Aber auch wir, die wir nicht im Krieg sind, werden schon länger mit aktiver, manchmal aggressiver Ablehnung unserer liberalen, demokratischen und rechtsstaatlichen Überzeugungen konfrontiert. Dadurch wird unsere demokratisch-rechtsstaatliche Gesellschaftsform auch innerhalb unserer Staatengemeinschaft angefochten. Freiheit, Menschrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stehen unter Druck: Auch einige von jenen, die politische Macht demokratisch errungen haben, beschneiden offen oder verdeckt Grundrechte, schränken Minderheitenrechte ein oder beseitigen sie und versuchen, die politische Opposition verstummen zu lassen und unabhängige Medien unter die Kontrolle der Regierung zu bringen. Alles, um das Risiko etwaigen Machtverlustes auszuschließen.

Gegenüber all diesen Bedrohungen müssen wir deutlich machen: Es gehört zu den grundlegenden und unverzichtbaren Regeln unseres demokratischen und rechtsstaatlichen Systems, dass individuelle Freiheit der politischen Gestaltung Bindungen auferlegt. Das gilt namentlich für die politisch relevante Meinungs- und Versammlungsfreiheit oder für die Rechte der Medien, die die Politik kritisieren und kontrollieren. Das gilt für Regeln über die Wahlen, die politische Machtausübung zeitlich begrenzen und sicherstellen, dass die Regierung immer neu für ihr politisches Handeln durch die Wähler zur Verantwortung gezogen werden kann. Und das gilt insbesondere für die Überprüfung politischen Handelns am Maßstab der Verfassung durch unabhängige Gerichte! Die Staaten des Europarates, aus denen Sie alle kommen, haben sich auf diesen grundlegenden Kanon geeinigt. Wir müssen unsere demokratisch-rechtsstaatlichen Systeme stabilisieren und da, wo es nötig ist, weiterentwickeln. Und dort, wo Demokratie und Rechtsstaat eingeschränkt worden sind, müssen wir zu den grundlegenden und unverzichtbaren Regeln und damit zu unseren gemeinsamen Grundwerten zurückkehren.

Als Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter tragen Sie ganz besondere Verantwortung. Denn: Die Unabhängigkeit der Gerichte ist ein hohes Gut, aber auch eine hohe Verantwortung und Verpflichtung. Die Rechtsprechung kann leicht in einen Gegensatz zum politischen Willen der Regierung geraten. Das ist in der Verfassungsbindung angelegt, und das müssen die Gerichte nicht nur aushalten. Sie müssen auch deutlich machen, dass genau das ihre Aufgabe ist: Recht sprechen nicht etwa nach den Vorgaben oder Erwartungen der Politik, sondern allein nach Gesetz und Recht. Rechtsstaatlichkeit zielt auf Begrenzung und Bindung staatlicher Herrschaftsgewalt – nicht zuletzt, um individuelle Freiheit zu garantieren.

Wer das Verständnis von Demokratie auf die wiederkehrende Abhaltung von Wahlen reduziert, wer individuelle Grundrechte, Presse- und Medienfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz nicht als Grundbedingung von Demokratie anerkennt, verabschiedet sich aus der Familie der liberalen Demokratien. Demokratie ist entweder liberal, oder sie ist nicht Demokratie. Die Behauptung illiberaler Demokratie bereitet den Weg zur Tyrannei der Mehrheit. Für mich gehört zum Verständnis von Demokratie, dass der Mehrheitswille durch Gewaltenteilung und Grundrechte, durch Minderheitenschutz, durch rechtsstaatliche Garantien und verfassungsgerichtliche Kontrolle durch unabhängige Richter gezügelt wird.

Es verwundert nicht, dass autoritäre Regierungen oft als eine der ersten Maßnahmen den Versuch machen, nicht nur die Pressefreiheit, sondern vor allem die Rechtskontrolle durch unabhängige Gerichte einzuschränken oder zu beseitigen, indem sie die Gerichte mit willfährigen Parteigängern besetzen oder indem sie die rechtlichen Rahmenbedingungen für Entscheidungen ändern. Solche illiberalen und autoritären Grundströmungen gibt es schon länger. Das muss uns Sorgen bereiten, zumal dann, wenn es sich um Staaten handelt, in denen die Menschen lange in Unfreiheit unter einer totalitären Ideologie leben mussten. Aber nicht nur dort sind Menschen von den vermeintlich einfachen Lösungen autoritärer Politik fasziniert. Diese Entwicklung dürfen wir nicht zulassen! Im Gegenteil, wir müssen immer wieder deutlich machen: Es gibt keine Freiheit für alle ohne Demokratie und Rechtsstaat!

Wesentliches Kennzeichen der Rechtskultur in unseren europäischen Gesellschaftsordnungen ist die Begrenzung der Macht durch Recht. Maßgeblich war und ist der Respekt vor dem Recht. Unsere Gesellschaften sind sich einig in der Idee, auf der Grundlage des Rechts zusammenzuleben. Eines Rechts, dessen Anwendung und Vollzug durch die Verfassungsgerichte, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg kontrolliert werden. Europa ist eine Gemeinschaft von Staaten, die sich in der Geschichte immer wieder feindlich gegenüberstanden. Wir blicken zurück auf fanatischen Nationalismus, verheerende Kriege, auf Millionen von Opfern der Gewaltherrschaft. Wir alle wissen, welchen Anteil Deutschland im 20. Jahrhundert an dieser Erniedrigung des Menschen und der Verachtung des Rechts hatte. In dieser Erinnerung ist es für mein Land von besonderer Bedeutung, den Fortschritt von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu würdigen und zu verteidigen. Heute verstehen wir uns in Europa als Partner, auf der Grundlage gemeinsamer Werte und einer gemeinsamen Rechtstradition. Europa ist in der Europäischen Union, aber auch im Europarat eine Rechtsgemeinschaft geworden, die die Rechte des Einzelnen schützt und die Stärke des Rechts über das Recht des Stärkeren stellt.

Dass dieser Grundkonsens in manchen Staaten in Frage gestellt wird, muss auch diejenigen unter uns nachdenklich stimmen, deren Rechtsstaatlichkeit solchen Gefahren nicht ausgesetzt ist. Ich appelliere an Sie alle, für unsere gemeinsamen Überzeugungen und Grundwerte zu werben und zu arbeiten. Sie können mit Ihrer Rechtsprechung und mit Ihrer Haltung Verfassungsbindung, Machtkontrolle, Machtbegrenzung sichtbar werden lassen. Freiheit durch Recht, das erfahren die Menschen durch Sie, indem Sie den Schwachen in Ihren Gesellschaften zu ihren Rechten verhelfen.

Unsere gemeinsame Rechtsüberzeugung wird sichtbar in Ihrer Zusammenarbeit, in Ihrem Gedanken- und Erfahrungsaustausch. Zusammenkünfte und Treffen sind ein Zeichen für den europaweiten Geltungsanspruch des Rechtsprinzips, sie fördern das gegenseitige Verständnis für die jeweilige andere Rechtsordnung, für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Außerdem entstehen – und das darf man nicht zu geringschätzen – persönliche Beziehungen und Freundschaften. Mit Ihrer Arbeit leisten Sie einen unverzichtbaren Beitrag zum Zusammenwachsen Europas, zur Fortentwicklung unserer gemeinsamen Rechtskultur und zu deren Festigung im Rahmen des Europarates. Das verdient höchste Anerkennung und Respekt. Dafür danke ich Ihnen allen! «


Quelle: Bulletin 51-3 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 11. Mai 2023

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