Veröffentlicht am: 14.08.2023 um 10:21 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Empfang für Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung
» Ein herzliches Willkommen Ihnen allen hier im Park von Schloss Bellevue! Als Bundespräsident heiße ich Sie nicht nur hier und heute willkommen, sondern ganz grundsätzlich in Deutschland. Durch Sie kommt viel wissenschaftliche Expertise in unser Land: wissenschaftliche Expertise aus über achtzig Ländern, von Bosnien-Herzegowina bis Tansania, von Costa Rica bis zum Libanon, von Indien bis Israel. Ich freue mich, dass Sie dank der Stipendien und Forschungspreise der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in den verschiedensten Ecken unserer Republik leben und arbeiten können.
Man sieht an diesem Vormittag, wie inspirierend die Arbeit der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ist. Und das schon seit siebzig Jahren – ich weiß nicht, ob Sie es alle schon gehört haben: Die Stiftung feiert in diesem Jahr ihr Jubiläum. Und ich sage als Bundespräsident meinen herzlichen Glückwunsch dazu!
Ich bin mir sicher: Alexander von Humboldt hätte sich in dieser großen, vielfältigen Runde heute Morgen sehr wohlgefühlt. Und ich denke, einem Menschen mit seinem Entdeckergeist wären die vergangenen Jahre mit all den Einschränkungen der Pandemie ganz sicher nicht leichtgefallen. Humboldt hätte zu keiner seiner bedeutenden Exkursionen aufbrechen können. Und ohne diese Exkursionen hätte er niemals erkannt und zu Papier gebracht, dass und wie alles mit allem zusammenhängt. Kurz gesagt folgt für uns daraus: Die ganze Welt geht uns etwas an, die ganze Welt muss uns etwas angehen!
Ich will Ihnen daher, obwohl das in diesem Sommer sehr weit weg erscheint, eine kleine Geschichte aus der Kälte erzählen, aus dem – wie wir gedacht haben – ewigen Eis.
Ende April war ich für mehrere Tage in Kanada, und ich habe auf dieser Reise auch ein kleines Dorf ganz oben, nördlich des Polarkreises besucht, eine winzige Inuit-Gemeinde am Polarmeer. Tuktoyaktuk, so heißt dieses Dorf, und in einigen Jahrzehnten droht es zu verschwinden. Weil immer größere Teile des Ozeans eisfrei werden, baut der Wind so starke Wellen auf, dass sich das Meer in die schutzlose Küste hineinfressen kann. Gleichzeitig verwandelt sich der Permafrostboden in Matsch und Schlamm, lässt Häuser absinken oder unbewohnbar werden. Zudem ist dort oben, hoch im Norden, das Eis die Infrastruktur. Ohne das Eis kommen die Menschen nicht mehr zueinander, verlieren die Siedlungen Kontakt zueinander, wird die Versorgung und gegenseitige Unterstützung selbst mit dem Notwendigsten unmöglich.
Ich habe gesehen, wie engagiert sich die Menschen in Tuktoyaktuk gegen die Folgen des Klimawandels wehren. Sie kämpfen gegen den Verlust ihrer Heimat. Diese Fischer und Jäger leben im Einklang mit der Natur, und es sind nicht die Inuit selbst, die sich ihrer Lebensgrundlagen berauben. Wir sind es. Es ist unsere Lebensweise, unser Lebensstil, der die Erde erwärmt und der direkte Folgen für die Arktis hat.
Man sieht an diesem Beispiel, was sich hinter dem abstrakten Wort der Klimagerechtigkeit verbirgt.
Was in der Arktis geschieht, betrifft aber auch unser Leben, unsere Zukunft – denn alles hängt mit allem zusammen. Auch hier in Deutschland erleben wir den Klimawandel hautnah, brauchen immer neue Wörter für scheinbar immer neue Klimaphänomene: Die Extremwetterlage, das ist mittlerweile in unseren alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen. Der vergangene Dürrewinter ist noch in unserem Gedächtnis, und jetzt erwarten wir den nächsten Hitzesommer mit Extremtemperaturen und viel zu knappen und viel zu kurzen Regenperioden. Auch wenn es hier manchmal nicht alle wahrhaben wollen, die Menschen von Tuktoyaktuk sagen uns: Weniger Klimaschutz ist keine Option. Mehr Klimaschutz ist die einzige Option, die wir haben! Und den Kampf gegen den Klimawandel können wir am Ende nur alle gemeinsam miteinander gewinnen.
Ich möchte heute auch hinzufügen: Diesen Kampf können nur alle wissenschaftlichen Disziplinen gemeinsam gewinnen. Dafür brauchen wir Sie alle miteinander – und zwar gemeinsam mit den Technologieunternehmen, die zeigen, wie Klimaschutz in der Praxis funktioniert, auch mit Investoren, die auf klimafreundliche Geschäftsmodelle in der Industrie setzen, auch mit verantwortlich handelnden Politikerinnen und Politikern, gemeinsam natürlich mit den Bürgerinnen und Bürgern unserer Länder. Für mich ist klar: Es geht um viel mehr als nur darum, bloße Ziele zu beschwören. Es geht vor allem um den Weg dorthin: Wir alle müssen Fachleute im Kampf gegen den Klimawandel und für mehr Klimaschutz werden.
Der Klimawandel ist leider nicht die einzige Herausforderung, vor der unsere Welt in diesen Tagen steht. Seit 491 Tagen leiden die Menschen in der Ukraine unter dem furchtbaren russischen Angriffskrieg, seit 491 Tagen verteidigen Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Heimat. Unter Ihnen, liebe Gäste, sind heute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die aus der Ukraine geflohen sind, auch Forscherinnen und Forscher aus Russland. Sie alle können hier im Frieden und in Freiheit arbeiten.
Es ist wichtig, dass Europa, dass die Staatengemeinschaft weltweit diesen brutalen Angriffskrieg gemeinschaftlich verurteilt und die Angegriffenen unterstützt. Putin mag darauf gesetzt haben, dass die Verbündeten der Ukraine, dass wir irgendwann abstumpfen und wegschauen – aber so ist es nicht gekommen. Europa ist in dieser Auseinandersetzung zusammengewachsen. Und ich glaube, mittlerweile auch sagen zu können: Deutschland und Europa sind mit vielen anderen Staaten weltweit enger zusammengerückt. Es wird Putin mit seinem brutalen Angriff auf die Freiheit der Ukraine nicht gelingen, die freiheitlichen Demokratien zu spalten.
Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind Sie es genauso wie ich als Bundespräsident gewohnt – und auch dazu verpflichtet –, angesichts der Komplexität der Welt nicht zu verzweifeln, sondern täglich daran zu arbeiten, einen Umgang mit komplexen Problemen zu finden. Das schafft kaum jemand allein – auch Alexander von Humboldt tauschte sich zeitlebens intensiv mit vielen Kollegen zu seinen Erkenntnissen aus, das belegen zehntausende von Briefen, die er geschrieben hat, das belegen Begegnungen und Veranstaltungen in der ganzen Welt, die er damals bereist hat. Ich hoffe, dass Sie den heutigen Empfang hierzu nutzen können: Genießen Sie die Diskussionen über Fach- und Landesgrenzen hinweg, knüpfen Sie neue Kontakte, lassen Sie sich inspirieren, und lassen Sie uns heute und Tag für Tag an Lösungen für eine bessere, eine nachhaltige, eine friedliche Welt arbeiten. Ich freue mich auf die Gespräche und Begegnungen mit Ihnen! «
Quelle: Bulletin 76-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 30. Juni 2023