Veröffentlicht am: 18.09.2023 um 12:50 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Kulturabend „Von Verlust und Zuflucht. Exil“
» „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer.“ So soll, nach dem Zeugnis der hebräischen Bibel, ein uraltes Glaubensbekenntnis Israels beginnen: „Du sollst vor dem Herrn, deinem Gott, folgendes Bekenntnis ablegen: Mein Vater war ein heimatloser Aramäer […]“
Schon ganz am Anfang der Menschheitsgeschichte steht also die Erfahrung des Exils, der Heimatlosigkeit, des Lebens in der Fremde. Und die drei großen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam, die gemeinsam Abraham als ihren Urvater benennen, berufen sich auf einen Emigranten, der seine Heimat verlassen musste: „Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde.“ So heißt es im ersten Buch der Bibel.
Wenn wir den heutigen Abend dem Thema Exil widmen, wenn wir heute Stimmen hören von Künstlerinnen und Künstlern, die hier bei uns in Deutschland im Exil leben, die aus ihrer Heimat geflohen sind, weil sie an Leib und Leben bedroht waren oder weil sie keine Freiheit des Redens und Handelns mehr hatten, dann berühren wir also ein Thema, das weit in die Geschichte, ja sogar bis an den Ursprung der Religionsgeschichte zurückreicht.
Die Heimat verlassen zu müssen ist ein uraltes Trauma der Menschheit – und in jedem einzelnen Schicksal kehrt es wieder. Ins Exil gehen zu müssen, das rührt immer an die Wurzeln jeder Existenz, nicht nur der künstlerischen, vielmehr an den innersten Kern jedes Lebens.
Wir in Deutschland haben aus unserer Geschichte eine besondere Verpflichtung, diesen Menschen, die als Kulturschaffende in ihrer Heimat politisch verfolgt, ihrer Rechte und Beteiligungsmöglichkeiten beraubt, an Leib und Leben bedroht sind, denen, die fliehen und ins Exil gehen müssen, eine sichere Heimstatt zu gewähren. In der Zeit des Nationalsozialismus sind Hunderttausende, und gerade viele unserer besten Künstlerinnen und Künstler und unserer Intellektuellen, gezwungen gewesen, ihre deutsche Heimat zu verlassen. Sie waren darauf angewiesen, dass man ihnen Schutz und Zuflucht bot. Die deutsche Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, und gerade die deutsche Kulturgeschichte, ist wesentlich eine Geschichte der Emigration, des Exils.
Immer wieder wurde und wird uns diese Geschichte in Erinnerung gerufen. Am 10. November 1994, in der ersten Sitzung der 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, hielt traditionsgemäß der Alterspräsident die Eröffnungsansprache. Es war der Schriftsteller Stefan Heym. In seiner Rede erinnerte er sehr knapp an das Ende der Weimarer Republik, an den Beginn der Diktatur des „Dritten Reiches“ und an seine eigene Lebensgeschichte: „Das Reichstagsgebäude, in dem wir uns heute befinden, brannte. Ich selber habe den Brand gesehen. Kurz darauf musste ich Deutschland verlassen und sah es erst in amerikanischer Uniform wieder.“
Vier Jahre zuvor hatte ein anderer Emigrant als Alterspräsident den ersten gesamtdeutschen Bundestag eröffnet: Willy Brandt.
Stefan Heym war, wie wir wissen, nicht der einzige Kulturschaffende, der nach dem Krieg in amerikanischer Uniform zurückkam. Er gehörte zu den alliierten Truppen, die in der Normandie landeten. Auch Georg Stefan Troller, den wir gerade gesehen und gehört haben, war Soldat der U. S. Army. Und viele andere, die ins Exil getrieben wurden oder in die Emigration gegangen waren, hatten sich den Streitkräften oder Geheimdiensten der Alliierten zur Verfügung gestellt, die Deutschland von der Diktatur befreien sollten: Klaus Mann und Hans Habe, Ernst Cramer und Friedrich Torberg, Alfred Döblin und Carl Zuckmayer und so viele andere. Gerade in der Uniform der Befreiungstruppen lebten diese Emigranten ihre Liebe zur Heimat – und gerade im Exil taten sie, was sie konnten, um diese Heimat von Diktatur und vom mörderischen Unrecht zu befreien. Wenn Sie so wollen: Patrioten in fremder Uniform.
Am berühmtesten unter ihnen allen war wohl ein wirklicher deutscher Weltstar: Marlene Dietrich. Die Betreuung der amerikanischen Truppen war ihr ein solches Herzensanliegen, dass sie, auch nach dem Krieg noch, nach ihren Konzerten stundenlang mit den anwesenden Veteranen zusammen sein wollte, „my boys“, wie sie sagte.
Die Heimat hat es all denen nicht immer gedankt, und so kehrten manche nicht zurück. Marlene Dietrichs Sarg war unter der Trikolore in der Madeleine in Paris aufgebahrt, und Thomas Mann starb in der Schweiz, seinem letzten Exil.
Doch die Sehnsucht nach der Heimat hat wohl keinen der Emigranten losgelassen. So beschrieb die jüdische Autorin Mascha Kaléko, die so selbstverständlich in allen Cafés des Kudamms zu Hause gewesen war, in ihrem Exil in New York die Sehnsucht nach Berlin:
„Manchmal, mitten im freien Manhattan,
Unterwegs auf der Jagd nach dem Glück,
Hör ich auf einmal das Rasseln von Ketten.
Und das bringt mich wieder auf Preußen zurück.
Ob dort die Vögel zu singen wagen?
Gibts das noch: Werder im Blütenschnee …
Wie mag die Havel das alles ertragen,
Und was sagt der alte Grunewaldsee?“
„Manchmal, angesichts neuer Bekanntschaft
Mit üppiger Flora, – glad to see –
Sehnt sichs in mir nach magerer Landschaft,
Sandiger Kiefer, weiß nicht wie.
Was wissen Primeln und Geranien
Von Rassenkunde und Medizin …
Ob Ecke Uhland die Kastanien
Wohl blühn?“
Ich freue mich sehr darüber, dass wir heute Abend hier in dieser Weise zusammengekommen sind. Ich freue mich darüber, dass heute Künstlerinnen und Künstler unter uns sind, die bei uns in Deutschland Zuflucht gefunden haben. Einige von ihnen kommen jetzt gleich zu Wort, und deswegen will ich selber darüber nicht allzu viel sagen.
Nur das: Unter denen, die bei uns Zuflucht gefunden haben, sind nicht nur große und bedeutende Künstlerinnen und Künstler, sie sind auch engagierte Kämpferinnen und Kämpfer für ihr Land wie die, die seinerzeit Deutschland verlassen mussten.
Gemeinsam denken wir heute Abend an die vielen, die keine rettende Zuflucht gefunden haben, sondern in ihren Ländern weiter der Willkür ihrer Häscher ausgesetzt sind, verfolgt oder in Gefangenschaft oder dort gestorben sind. Beispielhaft denken wir an die 22-jährige Jina Mahsa Amini, die vor einem Jahr von der iranischen Sittenpolizei festgenommen wurde und auf der Polizeiwache gewaltsam zu Tode kam. Beispielhaft denken wir an Osman Kavala und Ahmet Altan, die in der Türkei im Gefängnis sitzen oder ihr Land nicht verlassen dürfen. Und wir denken an Maria Kolesnikowa und die vielen anderen, die in Belarus in Haft sind, nur weil sie nach Recht und Freiheit und Demokratie gerufen haben.
Wir wissen, dass die Haftbedingungen seit Monaten für sie immer schlimmer und brutaler werden, dass die Häftlinge medizinisch völlig unzureichend versorgt werden, dass sie keinen Zugang mehr zu anwaltlicher Betreuung und viele seit Monaten kein vertrautes Gesicht mehr gesehen haben. Ich will eine deutliche Nachricht an den Machthaber Lukaschenko richten: Ihr Regime ist verantwortlich für das Leben dieser Menschen. Wir schauen nicht weg. Wir vergessen Maria Kolesnikowa und Maxim Znak und all die anderen nicht!
Dieser Abend findet nicht zufällig hier und heute statt. Demnächst beginnen wieder die von der Körber-Stiftung initiierten „Tage des Exils“, in diesem Jahr zum ersten Mal in Berlin und in Zusammenarbeit mit der Stiftung Exilmuseum. Ich freue mich sehr darüber, und ich freue mich, dass sich für diese „Tage des Exils“ über 40 Institutionen sowie Einzelakteure und -akteurinnen engagieren.
An dieser Stelle möchte ich neben der Körber-Stiftung und der Stiftung Exilmuseum für ihre wertvolle Arbeit auch dem „Writers in Exile“-Programm des PEN-Zentrums Deutschland danken – einige von Ihnen sind heute Abend hier –, dem Deutschen Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek, der Akademie der Künste Berlin, der Martin-Roth-Initiative, dem internationalen ICORN-Programm und vielen anderen. Sie alle machen sich dafür stark, dass verfolgte Schriftstellerinnen, Künstler und Intellektuelle nicht vergessen werden, sondern, wenn immer möglich, Hilfe, Zuflucht und Schutz finden.
Heute Abend, und dafür danke ich sehr herzlich, wirken mit: Herta Müller, Senthuran Varatharajah, Yassin Al-Haj Saleh, Asl? Erdo?an und Kateryna Mishchenko. Und Cymin Samawatie und Mona Matbou Riahi gestalten das musikalische Programm.
Liebe Gäste, der Wunsch, den die vertriebene Berlinerin Mascha Kaléko einst in New York aufschrieb, möge für alle, die in ihrer Heimat nicht mehr bleiben können, in Erfüllung gehen:
„Herr, gib du allen, die das Schwert vertrieb
Ein Dach, ein Brot, ein Kind, ein eigen Kissen.“ «
Quelle: Bulletin 86-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 25. August 2023