Veröffentlicht am: 29.10.2023 um 06:58 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim 21. Donaueschinger Regionalgespräch
» In der Tat, ich hätte schon vor zwei Jahren, drei Jahren hier sein sollen. Und ich hab eben als ich herkam festgestellt: Die Pandemie ist nicht mehr da, diejenigen, die sie leugnen, schon. Wahlkampfreden hören Sie zur Zeit in Bayern und Hessen. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg stehen die Wahlkämpfer in den Startlöchern. Ich habe Ihnen heute eine eher nachdenkliche Rede mitgebracht, die uns hoffentlich Stoff zur anschließenden Diskussion liefert. Beobachtungen, das sage ich vorneweg, die nicht jeder teilen muss, über die wir uns aber austauschen müssen.
Zu Anfang will ich Ihnen aber sagen: Ich freue mich sehr, heute Abend bei Ihnen zu sein. Das sage ich nicht als Floskel, sondern aus voller Überzeugung, wenn ich hier in den Saal blicke. Denn ich sehe lauter Menschen, die Verantwortung übernehmen, die hart arbeiten und dieses Land am Laufen halten. Viele von Ihnen engagieren sich in der Kommunal- und Landespolitik oder sie arbeiten ehrenamtlich in Vereinen, sie führen mittelständische Unternehmen und Handwerksbetriebe. Kurz gesagt: Die Mitte der Gesellschaft ist heute hierhergekommen. Darüber freue ich mich sehr. Schön, dass Sie da sind!
Hier im Südwesten, ich weiß das, sind wirtschaftlicher Erfolg und Gemeinsinn zu Hause, hier paart sich Pragmatismus mit Innovationsgeist, hier leben und arbeiten Weltmarktführer mit Heimatliebe. Und wenn man sich so umschaut, dann könnte man denken: In diesem Land ist alles in bester Ordnung.
Aber, wenn Sie den harten Gegenschnitt entschuldigen, auch das ist Realität: Im vergangenen Jahr wurden mehr als vierhundert Waffen aus den Händen von Extremisten allein hier in Baden-Württemberg eingezogen. Allein hier im Land wurden im vergangenen Jahr mehr als tausend öffentlich Beschäftigte Opfer von Gewalt – dazu zählen Mitarbeiter in Krankenhäusern und Jobcentern, Lehrerinnen und Lehrer, Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter. Da wird einer Bürgermeisterin ein Galgen in den Garten gestellt, weil jemand mit einem Bebauungsplan nicht einverstanden ist. Gemeinderäten werden Fäkalien in den Briefkasten gesteckt, weil sie angeblich falsch abgestimmt haben. Und all das sehen wir natürlich auch in den anderen Bundesländern. Nur, da werden Sie einer Meinung sein, das macht es nicht besser. Gerade eben haben Rechtsextreme versucht, einen Vorsitzenden Richter in einem Prozess gegen mutmaßliche Mitglieder einer rechtsextremen Kampfsportgruppe per Video einzuschüchtern. Und vor Kurzem sind eine Lehrerin und ein Lehrer an einer Schule im Spreewald in Brandenburg nach fortgesetzten Bedrohungen durch Rechtsextremisten nicht nur aus der Schule, sondern auch aus dem Wohnort vertrieben worden.
Auch das ist unser Land. Leider! Und das klingt nach einzelnen Fällen. Schlimm genug. Aber es geht längst um mehr! Es sind kleine und große Angriffe auf unser Zusammenleben, auf unsere Demokratie. Und das müssen wir ernster nehmen, als wir es gelegentlich tun!
Denn auch wenn unsere Gesellschaft stark ist, und dafür sind Sie alle der Beweis: Ich glaube, die Gefahr war selten größer, dass unsere Demokratie von innen heraus angefochten und angefeindet wird.
Die Frage ist ja: Was verändert sich da eigentlich? Warum erleben wir Dinge, die der politischen Kultur in diesem Land Gott sei Dank sehr lange fremd waren? Warum verschieben sich die früher anerkannten Grenzen zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen – und das nicht nur in den sozialen Medien? Wir müssen etwas genauer hinschauen, auf das, was uns da auseinandertreibt – und was aus Unzufriedenheit offenbar bei vielen Wut macht und im Extremfall zu Hass führt. Ich will zunächst über drei Dinge sprechen: Populismus, Spaltung und Rückzug.
Und ich fange bei uns selbst an. Wer kennt ihn nicht: diesen Impuls, wenn nichts vorwärts geht und keiner weiß warum. Fast jeder wird dann schon mal den Wunsch verspürt haben, die komplexen Probleme, die gewachsenen Verkrustungen, die widersprüchlichen Regelungen, das ganze Dickicht, die gewachsene Unübersichtlichkeit, das sollte mal ein für alle Mal beseitigt werden. Ein ganz verständlicher Impuls.
Und ich kann mir vorstellen, Herr Pauly, was nicht nur Sie, was die Bürgermeister gerade alles auf ihren Marktplätzen zu hören bekommen. Die Unternehmer in ihren Betrieben auch. Die Angestellten von ihren Kollegen. Und in der Tat, es ist ja so: In den letzten Jahren hat sich eine Krise an die nächste gereiht, viele Menschen haben ganz konkrete Sorgen. Und sie fragen sich: Kann ich demnächst noch meine Rechnungen bezahlen, wie teuer wird das Heizen im kommenden Winter? Gerät da etwas grundsätzlich aus dem Gleichgewicht, wenn die Mieten weiter steigen, wenn keiner mehr Lehrer werden will oder zu wenige jedenfalls, wenn das Gesundheitswesen unter Überlastung ächzt oder – es liegt auf der Hand – wenn uns allenthalben Fachkräfte fehlen? Berechtigte Fragen sind das, das will ich Ihnen sagen. Aber darüber hinaus baut sich etwas auf, das mehr ist als nur so ein Grummeln gegen Berlin. Es wächst da eine Mischung aus Angst und stiller Wut, und auf den Marktplätzen kann man diese Mischung manchmal erleben. Will der Staat, so wird gefragt, mir morgen verbieten, meinen Garten zu wässern, in den Urlaub zu fliegen, mit meinen Freunden ein Steak vom Grill zu essen? Populisten schüren diese Ängste, beuten sie aus, verkürzen Zusammenhänge oder verbreiten Falschaussagen – immer mit dem Ziel, daraus politisches Kapital zu schlagen. Das gipfelt dann in wilden Annahmen – ich glaube, da draußen vor der Halle werden sie auch gerade ausgetauscht –, dass die Politik vielleicht gar den großen, geheimen Plan zum Schaden der eigenen Bevölkerung verfolgt. Die These von der großen Verschwörung, die ist schnell bei der Hand. Und Sie wissen, und es ist eine Erfahrung: Populisten triumphieren immer dann, wenn Menschen sich Sorgen machen.
Sie erinnern sich an einen Wahlkampf vor sieben Jahren in den USA, der uns fassungslos gemacht hat, und an eine Präsidentschaft Trump, die Europa und die USA – und das war meine und unsere Besorgnis – doch für kurze Zeit entfremdet hat. Vielleicht, ich sage das nicht zum ersten Mal, haben wir bei uns in Deutschland zu lange geglaubt, dass wir die besseren Demokratien sind, zu lange geglaubt, dass unsere Geschichte uns ein für alle Mal gelehrt hat, nicht einfachen Antworten aufzusitzen, nicht den Sündenbock zu suchen. Die Realität, die ich gerade mit einigen Strichen gezeigt habe, zwingt uns, auch darüber neu nachzudenken. In einer Gesellschaft, die unter Veränderungsdruck steht, ist offenbar auch heute noch der einfachste aller Reflexe die Suche nach den schlichten Lösungen und vermeintlich Schuldigen. Und die sind schnell gefunden: mal ist es der Föderalismus – wenn wir über Bildung reden –, mal die Parteien, mal Koalitionen, mal deren Repräsentanten oder gleich die ganze „Elite“ aus Politik und Wirtschaft, die schuld ist. Da ist eine große Sehnsucht nach dem einen Hebel, den wir bloß umlegen müssen, um alle Herausforderungen zu bewältigen. Populisten bedienen diese Sehnsucht. Die gaukeln uns vor, es gebe ihn, diesen einen Hebel. Die gewählten Politiker seien nur zu blöd, ihn zu bedienen.
Sie wissen wie ich: Die Wirklichkeit in einer pluralen Gesellschaft mit einer Vielzahl von unterschiedlichen, teils auch gegensätzlichen Interessen ist komplizierter. Populisten öffnen ein Ventil für Wut und Angst; sie sind nicht gefragt nach konkreten Lösungen. Wer einmal genau hinschaut, der sieht doch, dass Populisten immer dann nicht mit von der Partie sind, wenn es um das Aushandeln von Lösungen geht. Dafür braucht es nämlich Geduld, Hartnäckigkeit und die Bereitschaft, auch Kompromisse einzugehen. Populismus hilft uns nie, um vorwärts zu kommen und zueinander zu kommen. Populismus sucht Antworten auf die Fragen der Zukunft regelmäßig in der Vergangenheit. Und so gewinnen wir die Zukunft nicht!
Nun muss ich mahnen, verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will niemandem raten, seine Unzufriedenheit herunterzuschlucken. Im Gegenteil. Ja, man darf mit Fug und Recht zu jeder Zeit unzufrieden sein mit dem, was eine Regierung beschließt. Auch mit dem, was sie nicht beschließt. Und man kann mit Fug und Recht von den verantwortlich Handelnden erwarten, dass sie ihre Entscheidungen erklären. Will sagen: Nicht jede kritische Frage ist schon verantwortungsloser Populismus. Aber das Wichtige ist: Erlauben Sie niemandem, Ihre Unzufriedenheit auszunutzen, um pauschal gegen „die da oben“ zu hetzen. Nicht nur, weil Sie hier im Saal – die meisten von Ihnen jedenfalls – immer mitgemeint sind, wenn am Stammtisch von „denen da oben“ geredet wird. Wenn die Autorität demokratischer Institutionen und der Respekt vor demokratischen Verfahren erst einmal zerredet und diskreditiert worden sind, dann, da bin ich mir ziemlich sicher, werden auch Wahlen mit anderen Mehrheiten daran nur schwer wieder etwas ändern können. Meine dringende Bitte ist: Reden wir mit Verantwortung über eine Demokratie, die uns siebeneinhalb Jahrzehnte getragen hat, mit der wir Krisen bewältigt, Wiedervereinigung geschafft und Europa gestaltet haben.
Und das gilt im Großen wie im Kleinen: Es gibt Gründe für Unzufriedenheit, aber wir sollten nicht darin verharren. Formulieren wir Forderungen statt Denkzettel. Diskutieren wir es aus. Wo immer möglich: miteinander und weniger gegeneinander.
Lassen wir uns nicht die Demokratie von wenigen kaputtmachen. Wir haben nämlich keine zweite. Und denken wir immer daran: Demokratie ist nie endgültig, Demokratie ist immer im Werden, vor allen Dingen aber nicht auf Ewigkeit garantiert. Sie ist allerdings die einzige Staatsform, die sich selbst korrigieren kann. Autokratische Systeme können das nicht, Autokratien „können nicht irren“ oder aus dem Irrtum Schlüsse ziehen. Demokratie lebt jedoch nicht von den Paragraphen des Grundgesetzes, sondern sie lebt vom Willen und vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger.
Die Hartnäckigkeit, mit der Sie hier im Südwesten Wohlstand erarbeitet haben, immer wieder Zukunft neu erschaffen haben – nutzen wir diese Hartnäckigkeit in unserem ganzen Land für die Lösung der Probleme unserer Zeit. Demokratie braucht Sie alle. Und deshalb auch meine Bitte: Bringen Sie sich ein! Treten wir den Vereinfachern gemeinsam entgegen, mit den Antworten, die Vereinfacher nicht haben! Ich bin froh, Sie darin an meiner Seite zu wissen.
Unser Land ist stark, auch, weil es so vielfältig ist. Viele kamen schon in den 1960er und 1970er Jahren aus Südeuropa als damals sogenannte Gastarbeiter hierher, viele ausländische Studentinnen und Studenten studieren an den Hochschulen im Land, Flüchtlinge, zuletzt insbesondere aus der Ukraine, sind hinzugekommen. All die starken Unternehmen Ihres Landes haben jahrzehntelange Erfahrung darin, die unterschiedlichen Erfahrungen der Menschen im Land zu ihrem Besten zu nutzen. Und doch bringt unsere offene Gesellschaft auch Stress mit sich: neue Rollenbilder, Traditionen, die unter Druck geraten, Minderheiten, die ihren Platz einfordern, unterschiedliche Wertvorstellungen, die aufeinanderprallen. Das ist anstrengend, für jeden von uns.
Die einen reagieren darauf mit Verständnis und Mitgefühl, andere mit Abschottung, Abwertung und Ressentiments. Und ganz ohne Frage, wir müssen wir in Europa endlich zu einer Verständigung kommen, wie wir Migration nach Europa so steuern, dass Überlastungen einzelner Länder und damit auch der Kommunen in Deutschland vermieden werden. Und es ist zynisch, dass einige Länder sich bisher der fairen Regelung, nach der wir suchen, immer noch verweigern. Aber es geht auch nicht, dass die Menschen mit Migrationshintergrund, die hier sind, missbraucht werden, um Unzufriedenheit, die vielleicht ihre Quelle ganz woanders hat, loszuwerden. Mindestens ist auffällig, dass der Protest manchmal dort sehr laut ist, wo der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund ausgesprochen gering ist. Am Samstag rede ich in einem islamischen Kulturzentrum in Köln, und ich könnte jetzt schon aufschreiben, was Sie an unerträglicher Hetze am Wochenende auf meinem Instagram-Account sehen werden.
Und ich weiß, denn ich bin viel unterwegs: Auch in unseren Parlamenten, vom Gemeinderat bis zum Bundestag, ist manches Unsägliche sagbar geworden. Seit der Corona-Pandemie und dem Streit ums Impfen ist vieles neu in unserem Land. Da verunglimpfen Agitatoren auch in Stadtratssitzungen unsere Demokratie als „System“, als „Unrechtsregime“ oder – ich habe es gehört! - auch „Diktatur“. Die Erinnerungskultur, die doch Teil unseres nationalen Selbstverständnisses geworden ist, wird angegriffen, ein Ende des „Schuldkults“ wird neuerdings propagiert. Aber auch: Ganze Gruppen werden pauschal verunglimpft oder einzuschüchtern versucht.
Ich mache mir Sorgen um diese sprachliche und manchmal auch intellektuelle Verrohung: Wenn es auf einmal üblich wird, über Minderheiten herzuziehen, wenn Kinder an unseren Schulen als „Kopftuchmädchen“ bezeichnet werden und man mit aggressiver Missgunst und Neid über ukrainische Flüchtlingsfamilien spricht, dann öffnet das die Tür für Hass und Hetze. Und ein Klima, in dem Extremisten Rechtfertigung für Gewalttaten suchen – siehe Halle, Hanau, Walter Lübcke.
Aber auch viele Kommunalpolitiker wissen, wovon ich spreche. Da wird das Demonstrationsrecht missbraucht, um Kommunalpolitiker unter massiven Druck zu setzen, indem man sie bis vor ihre Privathäuser verfolgt und dort bedroht – so war das in Altenburg, wo Hunderte von Demonstranten gegen die Coronamaßnahmen beim Bürgermeister Sturm klingelten und dessen Kinder im oberen Stockwerk mit Angst und Schrecken saßen. Hier müssen Versammlungsbehörden alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Menschen, um Verantwortungsträger und ihre Familien zu schützen. Und auch im Gemeinderat, wenn dort verbale Grenzen verletzt werden, müssen die anderen über Parteigrenzen hinweg zusammenstehen und laut werden. Jedes einzelne dieser Beispiele mag uns für sich genommen nicht als brandgefährlich erscheinen. Aber nicht jeder hat ein dickes Fell. Und nicht jeder ist stark genug, diese Angriffe auszuhalten. Und manche, die wir gerade in der Kommunalpolitik brauchen, haben sich zurückgezogen. Was ich sagen will: Wenn Extremisten auf diese Weise erst einen Fuß in die Tür der Demokratie bekommen, dann können sie und dann werden sie sich in unserer Mitte breitmachen.
Wer hasserfüllt spricht, der hilft nicht der Demokratie, sondern dem Hass. Wer den politischen Gegner zum Feind stilisiert, hat nichts anderes im Sinn, als andere mundtot zu machen. Wer Fake News verbreitet, macht dies zur Durchsetzung seiner eigenen Interessen, der will die Gesellschaft daran hindern, Kompromisse zu finden, mit denen möglichst viele leben können. Wer spaltet, will den Zusammenhalt zerstören, der unser Land – nicht nur in Donaueschingen – immer stark gemacht hat.
Das sind keine neuen Erkenntnisse. Wir haben das alle miteinander schon gewusst. Aber vielleicht müssen wir uns wieder erinnern, was uns stark gemacht hat: Einsatz und Engagement, Selbstbewusstsein, Tatkraft, Zuversicht und der Blick über den eigenen Tellerrand hinaus.
So unterschiedlich wir auch sein mögen: Die Vorstellung, dass es jenseits unterschiedlicher Einzelinteressen darüber etwas gemeinsames Ganzes, ein gemeinsames Interesse gibt – das ist eigentlich immer der Schlüssel für das Miteinander in der Demokratie. Und Sie hier in Donaueschingen wissen das aus Ihrem Alltag: Dieses Miteinander ist, gerade in Zeiten des Fachkräftemangels und des Innovationswettlaufs, eben auch Voraussetzung für unseren wirtschaftlichen Wohlstand. Also, mein Schluss daraus: Stärken wir alles, was uns miteinander verbindet!
Was wir brauchen, das ist eine starke Mitte, die sich zu Wort meldet. Allein hier im Saal ist mit Ihnen allen so viel Lebenserfahrung, so viel Fachwissen, so viel Klugheit und Geschick versammelt. Heben wir diesen Schatz, und erheben Sie Ihre Stimme – wir brauchen Sie dringend.
Ich kann schon verstehen, dass diese Bitte nicht nur Begeisterung hervorruft. Die meisten haben genug zu tun mit den Sorgen des eigenen Lebens, der Familie, den Kindern, dem Job. Vielen fehlen Zeit und Energie, um sich zu beteiligen an Diskussionen, die gefühlt ewig dauern und meistens zu wenig führen. Manch einer schweigt inzwischen lieber, weil er sich darum sorgt, ob er noch die richtige Sprache findet oder ob er für einen sprachlichen Fehltritt am digitalen Pranger endet. Und wer hat schon Lust, sich in eine politische Diskussion zu begeben, wenn dort Streit und Krawall dominieren, wenn wir erlauben, dass wenige Laute die vielen Leisen niederbrüllen.
Ich rede viel über die Demokratie auf der kommunalen Ebene, weil wir alle ahnen: Demokratie wächst von unten auf. Wir brauchen die Jungen, wir brauchen auch Frauen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen in den Kommunen und dafür Zeit und Arbeit investieren. Und die Älteren könnten sagen: Es lohnt sich! Nicht nur für die Demokratie, sondern auch für die Erweiterung des eigenen Horizonts. Die Dinge von mehreren Seiten betrachten zu müssen, berechtigte Interessen auszugleichen, Kompromisse zu schmieden, das schult auch fürs Leben. Das bringt einen weiter, finde ich.
Und wenn es nicht das Mandat im Gemeinderat ist, dann kann es ja auch ein Ehrenamt sein. Viele Organisationen, Vereine und Initiativen klagen heute schon über Nachwuchsmangel. Die Millionen dort Engagierter sind doch das eigentliche Rückgrat unserer Demokratie; dieses stabile Rückgrat der Ehrenamtlichen brauchen wir mit Blick auf die Zukunft dringender denn je. Und weil das so ist, habe ich die Idee einer sozialen Pflichtzeit mit in die Diskussion gebracht. Ich freue mich darüber, dass die Debatte läuft. Wer auf all das, auf die Bitte nach Engagement und Beteiligung immer nur sagt: was geht mich das an?, dem müssen wir leider antworten: „Was geht mich das an?“ – dieser Satz ist eigentlich kein demokratischer Satz. Demokratie kann nämlich nur funktionieren, wenn sie die Sache aller ist! Und Gleichgültigkeit, das wissen wir, ist der größte Feind der Demokratie. Deshalb bin ich viel unterwegs im Land. Deshalb gehe ich mit meinem Format „Ortszeit“ jeweils für drei Tage in kleinere und mittelgroße Städte, bei Ralf Broß in Rottweil war ich auch schon, tauche während dieser „Ortszeit“ tief ein in das örtliche Gespräch, rede mit den Menschen, diskutiere und werbe für Respekt für die Demokratie mit all ihren Unzulänglichkeiten. Und ich werbe für Engagement, damit wir das, was noch nicht gut ist, besser machen. Was ich dort sage auf den „Ortszeiten“, das sage ich auch hier: Stärken wir denen den Rücken, die das Kreuz für unsere Gesellschaft breit machen! Übertönen wir die Schreihälse mit den vielen verschiedenen Stimmen einer starken, erfolgreichen Gesellschaft, die zusammenhält. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung in diesen Zeiten, das ist auch die Verantwortung einer starken Mitte, die nicht zulässt, dass unsere Demokratie kaputtgeredet wird!
Damit sage ich auch: Nicht nur die Regierenden in Land und Bund, auch Bürgerinnen und Bürger tragen ihren Teil der Verantwortung für unsere Demokratie. Aber ein Blick in diesen Saal genügt, und ich weiß: Wir haben Grund zur Zuversicht!
Ja, wir leben in einer Zeit von vielen aufeinanderfolgenden Krisen, weltweite Finanzkrise 2008/2009, Eurokrise in den Jahren 2011 folgende, die eine Million Flüchtlinge 2015/2016, dann die Pandemie; und die Pandemie war noch nicht zu Ende, da begann der russische Angriffskrieg, mit in der Folge Preissteigerungen und all den wirtschaftlichen Auswirkungen, die schon angeklungen sind. Und dazu all die Zukunftsaufgaben, der klimafreundliche Umbau unserer Wirtschaft und Gesellschaft, die digitale Erneuerung, der demographische Wandel. Große Aufgaben stehen an, in der Tat, um unser Land wieder auf den Wachstumspfad zu bringen. Große Aufgaben, die viele wichtige Branchen unseres Landes besonders fordern, die auch Geld kosten und die vor allen Dingen mühsam sind.
Die Wiedergewinnung von ausreichendem Wachstum ist kein Selbstläufer. Aber sollten wir nicht mit etwas mehr Selbstbewusstsein an diese Aufgaben herangehen? Nur zur Erinnerung: Wir sind mit fast sechs Millionen Arbeitslosen in das Jahrtausend gestartet. Die Last, Arbeitslosigkeit zu finanzieren, nahm gänzlich den Spielraum für Zukunftsaufgaben, internationale Wettbewerbsfähigkeit hatten wir fast verloren. Auch aus dieser essenziellen Krise haben wir uns befreit. Und es folgten eineinhalb Jahrzehnte im Rückenwind, die vieles möglich gemacht haben, auch, Reserven für spätere Krisen zu schaffen, durch die wir besser gekommen sind als viele unserer europäischen Nachbarn. Der Rückenwind ist aus, ja. Jetzt stehen wir vor Jahren mit Gegenwind. Das ist schwerer. Und die wirtschaftliche Lage ist verdammt nicht einfach. Aber die Segler unter Ihnen wissen: Manchmal kann man zwar den Wind nicht ändern, aber man muss die Segel richtig setzen.
Und das Gute ist: Wir haben ein Bild vor Augen, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen kann und aussehen muss. Unser Land in der Mitte Europas soll bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral sein – und gleichzeitig wollen wir eine starke Industrienation bleiben, technologisch führend und weltweit vernetzt, aber eben auch widerstandsfähiger und weniger verwundbar. Und deshalb sind viele ja schon dabei, einseitige Abhängigkeiten gegenüber anderen Ländern und Lieferanten zu reduzieren. Wir nutzen den digitalen Fortschritt und sehen zu, dass wir bei Künstlicher Intelligenz mithalten. Ich bin mir sicher: Viele der Unternehmen hier in Donaueschingen haben sich schon auf den Weg gemacht.
Wie wir diesen Umbau schaffen können, darum muss sich unsere politische Debatte drehen. Um konkrete Lösungen, um technische Innovationen, darum, wie wir unser Leben verändern können und wollen. „Werkstatt des Wandels“ heißt eine Reihe, mit der ich Beispiele für eine gelingende Transformation besuche – in ganz Deutschland. Ob grüner Stahl im Westen bei Thyssen in Duisburg oder Elektromobilität im Osten bei VW in Zwickau, das ganze Spektrum von Maschinenbau bis KI hier in Baden-Württemberg – unsere technologische Basis für den Wandel ist da. Wir dürfen, und das wissen die Unternehmen, auf diesem Weg die Menschen nicht aus dem Blick verlieren, auch die nicht, die unsicher sind oder noch Zweifel haben. Denn klar ist auch: Wir werden diesen gewaltigen Wandel – neudeutsch: Transformation – nur schaffen, wenn wirklich alle etwas zu gewinnen haben.
Diese Herausforderungen verlangen uns eine ganz neue Art der Beweglichkeit ab – jedem und jeder Einzelnen von uns. Auf diesem Weg hin zu neuen Gestaden müssen wir in der Lage sein zur vielfachen Veränderung. Hier im Südwesten sehe ich, dass wir das können. Denn in den vielen kleinen, mittleren und gar nicht so kleinen Unternehmen, die es hier gibt, wird genau das schon lange gelebt. Hier, wo die vielen Weltmarktführer seit Jahren das Ranking der Patentanmeldungen in unserem Land anführen. Hier weiß man auch: Wer mit seinem Produkt bestehen will, muss ständig danach trachten, es zu verbessern, zu modernisieren, nicht nur das Produkt, sondern auch die Verfahren. So gesehen, tragen Sie eigentlich hier die Idee der permanenten Erneuerung quasi in ihrer DNA. Daher darf ich Sie bitten: Helfen Sie mit, diese Veränderungsbereitschaft, die hier gelebt wird, und auch die Zuversicht in unsere Gesellschaft zu tragen!
Wir müssen keine Angst davor haben, dass unser Land nicht in der Lage wäre, den Umbau zu meistern. Wir haben so viel technisches Know-how, Ingenieure und gute Facharbeiter – wir sollten wissen, mit welchen Schritten wir uns in die richtige Richtung bewegen.
Und ich bin fest davon überzeugt: Nur die Demokratie ist so beweglich, dass wir diese Veränderung und diesen Umbau meistern können. Denn besonders in Zeiten von großen Umbrüchen, wo wir neue Antworten auf neue Herausforderungen brauchen, brauchen wir die Debatte, den Wettstreit, auch die Kritik und die Möglichkeit zur Selbstkorrektur. Und: Nur wenn Sie sich auch daran beteiligen, kommen am Ende gute Lösungen für alle raus. Meine Losung bleibt, und das sage ich zum Schluss: Die Zukunft ist kein Schicksal. Machen wir was draus! Und wenn’s geht: Möglichst gemeinsam! «
Quelle: Bulletin 95-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 21. September 2023