Veröffentlicht am: 30.10.2023 um 07:03 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei einer Festveranstaltung zum 50. Gründungsjubiläum des Verbandes der Islamischen Kulturzentren

Bei einer Festveranstaltung zum 50. Gründungsjubiläum des Verbandes der Islamischen Kulturzentren hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier am 16. September 2023 in Köln folgende Rede gehalten...

» 1965 gab es, gar nicht weit weg von hier, eine kleine Sensation: Gebetsteppiche im Kölner Dom. Hunderte Muslime feierten neben dem Dreikönigsschrein das Ende des Ramadan. Das Domkapitel hatte den muslimischen Gläubigen das Nordschiff für ihr Fest zur Verfügung gestellt, und als Dank spendeten diese für den Wiederaufbau des Doms. Die Kölnische Rundschau sprach von einem „Tag, der Religionsgeschichte gemacht hat“.

Auch die Gründung des Verbandes der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) vor fünfzig Jahren, so meine ich, war ein Tag der Religionsgeschichte. Zu Ihrem Geburtstagsfest heute bin ich jedenfalls gerne gekommen und überbringe Ihnen meine herzlichen Glückwünsche zum 50. Jubiläum!

Auf dem Papier war diese Verbandsgründung eigentlich ein schlichter Organisationsakt, aber für viele Muslimas und Muslime in unserem Land bedeutete sie sehr viel mehr: Der Islam bekam nun eine weitere Heimat in Deutschland. Mit der Verbandsgründung entstanden nach und nach immer mehr Orte fürs Gebet und für den Austausch. Und so war es dann nicht mehr notwendig, Ramazan Bayramı im Kölner Dom zu feiern. Der Islam, die muslimische Religion, das muslimische Leben, die muslimische Kultur haben Wurzeln geschlagen in unserem Land.

Der Verband der Islamischen Kulturzentren war dabei immer mehr als nur ein Raum für den Glauben und die spirituellen Bedürfnisse der Muslime. Er war ein Ort der gegenseitigen Unterstützung; vielleicht, um sich in einer neuen Welt, in einem neuen Land zurechtzufinden, sich auszutauschen; vielleicht auch, um sich seiner selbst zu vergewissern. Auch heute ist der VIKZ ein Ort, an dem man sich umeinander kümmert, füreinander da ist: sei es, um die religiösen Feste des Lebens zu feiern, Trauung wie Beerdigung; sei es, um sich bei Alltagsproblemen zu unterstützen; sei es beim gemeinsamen Gebet. Die religiöse Gemeinschaft gibt Halt.

Die Gläubigen, die sich im Verband der Islamischen Kulturzentren finden, suchen innerlich Nähe zu Gott, durch eine Form der Einkehr, der inneren Ruhe, auch durch gemeinschaftliche Rezitation aus dem Koran. Die Schönheit Ihrer Rezitationen ist weit gerühmt. Auch wir Geburtstagsgäste haben eben einen Eindruck davon gewinnen können. Es ist eine Konzentration auf das innere Empfinden, auf die tiefe theologische Grundüberzeugung.

Der VIKZ zeigt eindrücklich, dass es einander nicht ausschließt, sich einerseits religiös nach innen zu kehren und andererseits für die Gemeinschaft tätig zu sein. Dass man gerade aus dem Finden einer inneren Ruhe in der Religion auch Kraft schöpfen kann, sich für andere einzusetzen. Sie zeigen: Religion kann verbinden – auch über die eigene Religion hinaus.

Ich bin dankbar für die Initiativen, die der VIKZ und all die angeschlossenen Moschee- und Bildungsvereine angestoßen haben. Sie bringen Leben in den interreligiösen Dialog: durch den Tag der offenen Moschee, durch gemeinsames Fastenbrechen, durch unzählige Diskussionsveranstaltungen. Und bemerkenswert finde ich auch: Schon seit den 1980er Jahren bildet der VIKZ seine Imame in Deutschland aus. Heute sind die männlichen wie weiblichen Hocas meist hier geboren oder aufgewachsen und repräsentieren die Verwurzelung des Islam in unserem gemeinsamen Land. Ich kann Sie nur alle weiter ermuntern: Nehmen Sie Ihren Platz in der Mitte unserer gemeinsamen Gesellschaft ein!

Unser Land ist seit Jahrhunderten von religiöser Vielfalt geprägt. Der Reichtum, den diese Vielfalt bedeutet, aber auch die Spannungen und Reibungen, die sie mit sich bringt, sind uns allen miteinander nicht neu.

Heute gehört auch die Vielfalt des Islam, die Vielfalt von über fünf Millionen Muslimas und Muslimen zu unserem Land. Den einen Islam gibt es nicht. Verschiedene Sichtweisen und konfessionelle Strömungen existieren in unserem demokratischen, freien und offenen Land nebeneinander, in der Auslegung, auch in der Glaubenspraxis. Keine Glaubensrichtung, aber auch keine Religion kann dabei Anspruch erheben, die einzige Wahrheit zu besitzen. Es ist allgegenwärtig, dass andere Glaubensrichtungen und andere Religionen existieren und dass man miteinander lebt.

Deutschland ist ein weltanschaulich neutraler Staat. Aber Religionsfreiheit heißt eben gerade nicht, dass unser Land frei von Religion sei – nein, es heißt, den Religionen Raum zu geben und die Freiheit der Gläubigen, aller Gläubigen zu schützen.

Ich bin davon überzeugt, dass die Vielfalt der Religionen uns und unserem Land hilft. Denn sie erfordert Respekt, Offenheit, Kompromisse, oder ich könnte auch sagen: ein demokratisches Miteinander. Der Glaube kann uns darin bestärken, die Welt zu hinterfragen, auch Ungerechtigkeiten zu erkennen. Und gleichzeitig kann er helfen, Halt zu finden in einer Welt, in der sich vieles verändert.

Für ganz viele ist Religion Quelle von Kraft. Und wir sollten alles daransetzen, die Kraft der Religionen für den Zusammenhalt in unserem Land zu nutzen. Denn die Herausforderungen der Welt, sie betreffen uns alle gleichermaßen: Fragen von Krieg und Frieden, Fragen zur Zukunft unserer Erde und unserer Kinder angesichts des Klimawandels, Fragen, wie wir in Zukunft leben, arbeiten und auch glauben werden.

Ich selbst als Christ weiß, wie sehr Religion die Menschen aufrichten und ermutigen kann. Und das ganz besonders in Zeiten, in denen man den Eindruck bekommen kann, dass die Welt um uns herum aus den Angeln gehoben ist.

Und weil ich um diese Kraft des Glaubens weiß, verurteile ich es zutiefst, wenn Religion missbraucht wird, um Andersgläubige abzuwerten oder unseren Staat und unsere demokratischen Werte in Frage zu stellen. Sei es Muslimfeindlichkeit, Antisemitismus oder Christenhass: Ein solches Gift ist allen friedliebenden Gläubigen fremd, und es ist unserer Demokratie fremd. Auch religiöser Zwang muss allen friedliebenden Gläubigen fremd sein – und wer sich gegen diesen Zwang auflehnt, wie es mutige Frauen im Iran getan haben und weiter tun, der verdient unseren Respekt. Heute, am Jahrestag ihres gewaltsamen Todes, denken wir besonders an Jina Mahsa Amini.

Aus der ökumenischen Annäherung der christlichen Kirchen stammt der Begriff der „versöhnten Verschiedenheit“, der sich, so denke ich, auch größer denken lässt: dass wir in unserer Gesellschaft der religiösen Vielfalt die Eigenständigkeit und Einzigartigkeit der verschiedenen Religionen würdigen. Dass wir versöhnt, mit Respekt und Hochachtung im Dialog einander gegenübertreten.

So kann Religion einen Beitrag dazu leisten, dass unser Land das ist, was wir sein wollen: ein offenes Land mit gelebter Vielfalt, mit Menschen, die aufeinander zugehen und füreinander da sind. In diesem Sinne: nochmals herzlichen Glückwunsch zum 50. Jubiläum! «


Quelle: Bulletin 95-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 21. September 2023

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