Veröffentlicht am: 31.10.2023 um 07:06 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung des 54. Deutschen Historikertages
» Am 4. September 1989, vor 34 Jahren, war hier, im Hof der Kirche, ein Transparent zu sehen. Ein Transparent mit einer damals unerhörten Forderung: „Für ein offenes Land mit freien Menschen“, stand darauf. Wie viel Mut hatten die Bürgerrechtlerin Gesine Oltmanns und ihre Freunde, die dieses Transparent entrollten! Und wie viel Mut hatten die Menschen hier in Leipzig und in vielen anderen Städten in der damaligen DDR, die Montag für Montag auf die Straße gingen. Sie begehrten auf gegen Unrecht und Willkür. Sie kämpften für dieses offene Land mit freien Menschen, friedlich und ohne Gewalt.
Es waren diese Mutigen, die damals die Mauer zum Einsturz brachten. Sie standen auf gegen eine bis an die Zähne bewaffnete Staatsmacht, von der zu befürchten war, dass sie massive Gewalt anwenden würde. Den Mutigen von 1989, hier im Osten Deutschlands, aber auch überall im Osten Europas, verdanken wir es, dass unser Land und unser Kontinent wieder vereint wurden. Sie haben Demokratiegeschichte geschrieben!
Die Nikolaikirche ist ein Ort der deutschen Freiheitsgeschichte, und ich freue mich sehr, heute hier zu sein. Vielen Dank für die Einladung. Wenn Sie jetzt zum ersten Mal nach der Pandemie wieder zu einem Historikertag in Präsenz zusammenkommen, dann ist das ein Treffen in schwierigen Zeiten. Wir erleben eine Zeit der Ungewissheit, der Verunsicherung. Eine Zeit, in der in Europa ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg entfesselt wurde, zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine Zeit, in der wir alle die Folgen dieses Krieges spüren. Eine Zeit, in der liberale Demokratien angefochten sind, und das von außen wie von innen.
Es ist auch eine Zeit, in der sich die Wissenschaft und auch die Geschichtswissenschaft neu behaupten und verteidigen müssen. Wenn Fakten fragil werden, wenn falsche Behauptungen bis hin zu Verschwörungstheorien rasend schnell und millionenfach verbreitet werden können; wenn die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge immer mehr verschwimmt; wenn Wahrheit nicht mehr auf rationaler Erkenntnis beruht, sondern eine gefühlte ist; und wenn solche gefühlten Wahrheiten immer stärker auch politische Debatten bestimmen: Wenn Vergangenheit einfach erfunden wird, dann ist Ihre Aufgabe, dann ist die Arbeit von Historikerinnen und Historikern umso wichtiger.
Reinhart Koselleck hat das einmal so beschrieben: „Die Aufgabe der Historiker besteht […] darin, dass sie die historische Wahrheit […] rekonstruieren.“
Und genau das tun Sie. Sie ermitteln Fakten und stellen uns Deutungsmuster für die Geschichte zur Verfügung. Sie helfen uns, Vergangenes zu verstehen; zu verstehen, warum wir geworden sind, was wir sind. Und dafür möchte ich Ihnen allen heute von ganzem Herzen danken.
Mein Dank geht auch an die Geschichtslehrerinnen und -lehrer unter Ihnen. Sie alle setzen sich Tag für Tag dafür ein, historisches Wissen und historisches Urteilsvermögen an junge Leute zu vermitteln. Für ein Land wie Deutschland, dessen Identität so stark durch die jüngere Geschichte geprägt ist, ist das unverzichtbar. Und das gilt umso mehr, als Lehrerinnen und Lehrer heute mitunter ganz persönlich die Anfechtungen spüren, denen auch unsere Demokratie ausgesetzt ist: Wenn Schüler Menschen anderer Hautfarbe oder Religion abwerten oder gar angreifen, wenn sie Gewalt verherrlichen oder Hitler einen großen Mann nennen. Dieser Historikertag ist auch der Ort, den Lehrerinnen und Lehrern den Rücken zu stärken, die in solchen Situationen Freiheit und Demokratie lehren.
Ich möchte Sie alle heute bitten: Lassen Sie nicht nach in Ihrem Angebot von Orientierung! Bringen Sie jungen Leuten bei, Geschichte zu verstehen und zu bewerten. Um Geschichtsbewusstsein und Urteilsvermögen zu entwickeln, sind Ihr Engagement und Ihre Leidenschaft von unschätzbarem Wert. Unsere ganze Gesellschaft braucht Sie!
In einer Demokratie ist das Wissen über die Geschichte nicht nur wünschenswert – es ist unverzichtbar: Nur mit dem Wissen um die Vergangenheit können wir die Ereignisse der Gegenwart einordnen; können wir uns eine Meinung bilden; können wir längere Linien, aber auch Brüche erkennen. Und gerade für uns Deutsche ist der Blick zurück, sind die Lehren aus der Vergangenheit, ein konstitutiver Teil unserer Identität.
Kurzum: Historisches Wissen gehört zum Wesenskern einer Demokratie. Und es ist die Grundlage für eine aktive, aufgeklärte Beteiligung in der Demokratie.
„Geschichte ist Verunsicherung“, schreibt Volkhard Knigge. Nicht nur Fakten werden neu bewertet, auch Deutungen verändern sich im zeitlichen Horizont. Geschichtswissen ist durchaus dynamisches Wissen. Und das muss es sein.
Die Voraussetzung dafür ist eine unabhängige, kritische, auch unbequeme Geschichtswissenschaft. Sapere aude, dieser Leitgedanke der Aufklärung lässt uns nach dem Warum und damit auch nach dem Wahrheitsgehalt von Aussagen fragen. Es ist die Demokratie, die kritische Reflektion zur öffentlichen Sache macht.
Das unterscheidet eine Demokratie von autoritären Regimen, in denen sich das Argument der Macht beugt; in denen keine Freiheit der Wissenschaft herrscht; in denen keine Kritik erwünscht ist; in denen Geschichte oft zu politischen Zwecken missbraucht und umgedeutet wird.
Wir brauchen dafür nur ins Russland dieser Tage zu schauen: Wir sehen, wie Putin Geschichte umdeutet und bereits die Geschichtsbücher umschreiben lässt. Wenn er den Hitler-Stalin-Pakt als Friedensprojekt bemäntelt, wenn er Polen die Hauptschuld am Zweiten Weltkrieg gibt. Wir sehen, dass er die Ukraine mit ihrem jüdischen Präsidenten als faschistischen Staat verleumdet – das ist dann auch noch seine Begründung für den Überfall auf ein unabhängiges, friedliches Nachbarland. Wir sehen, wie Lüge als Wahrheit ausgegeben wird und in Russland nicht ausgesprochen werden darf, was ein Faktum ist: der Krieg gegen die Ukraine. Putin missbraucht Geschichte als Waffe!
Allerdings – und wer wüsste das besser als Sie: Geschichte befand sich schon immer in einem Spannungsfeld. Sie war schon immer Grundlage von Politik – ein Mittel der Politik und ein Mittel der politischen Rhetorik. Dass dabei Geschichte auch umgedeutet und verfälscht wird, das erleben wir nicht nur in autoritären Staaten, sondern leider auch in liberalen Demokratien, und dabei geht es nicht nur um den Krieg in der Ukraine.
Geschichte ist in unserer Zeit sehr präsent. Es sind geschichtsmächtige Zeiten.
Weil auch unsere liberalen Demokratien in Europa und Nordamerika stärker angefochten werden; weil in vielen Ländern rechtspopulistische oder nationalistische Parteien Zulauf haben und immer häufiger in Regierungen sitzen; weil auch in unseren Demokratien politische Kräfte erstarken, die die Spaltung unserer Gesellschaften vertiefen wollen, aus all diesen Gründen gerät die Geschichte, besser gesagt, geraten Historikerinnen und Historiker auch bei uns stärker unter Druck.
Auch in westlich-liberalen Demokratien greifen Populisten die Freiheit der Wissenschaft an, weil historische Erkenntnisse ihren ideologischen Geschichtsdeutungen, ihrer Sehnsucht nach nationalen Heldenerzählungen widersprechen. Auch in Demokratien werden wissenschaftliche Veranstaltungen gestört, Schulbücher zensiert, kritische Fragen kriminalisiert und Wissenschaftler um ihre Existenz gebracht. Die Antwort darauf kann nur lauten: Ein klares Bekenntnis zur Freiheit der Wissenschaft! Wissenschaftsfreiheit ist ein konstitutives Element liberaler Demokratie. Überall!
Der Blick muss aber auch in unser eigenes Land gehen. Auch bei uns gibt es mitunter Versuche – nicht vom Staat, aber von anderen einflussreichen Akteuren – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einzuschüchtern. Auch in unserem Land gibt es politische Kräfte, die Geschichte bewusst umdeuten – das sage ich gerade hier, in der Nikolaikirche, ganz deutlich: Wer im Kampf gegen die Demokratie für sich das Erbe der Friedlichen Revolution von 1989 in Anspruch nimmt oder sogar zum Widerstand gegen eine angebliche Diktatur im heutigen Deutschland aufruft, der betreibt nichts anderes als eine zynische Umdeutung der Geschichte.
Wer so spricht, missbraucht den Begriff Widerstand! Wer so spricht, verhöhnt die Mutigen, die sich tatsächlich gegen die SED-Diktatur aufgelehnt und dafür sehr viel riskiert haben. Wer so spricht, verhöhnt auch alle Frauen und Männer, die in der Zeit des Nationalsozialismus tatsächlich Widerstand geleistet haben und die dafür meist mit ihrem Leben bezahlt haben.
Kritik, Widerspruch, Protest: All das ist notwendig in einer Demokratie. All das ist legitim in einem offenen Land mit freien Menschen. Aber lassen Sie mich hier – gerade an diesem geschichtsträchtigen Ort – sehr deutlich sagen: Nichts, aber auch gar nichts rechtfertigt die Gleichsetzung des Protests in einer Demokratie mit dem Widerstand gegen eine Diktatur!
Ich spreche hier nicht als Historiker, sondern – es wird Sie nicht überraschen – als Bundespräsident. Diese Rolle, dieses Amt bringt es mit sich, früher oder später selbst zum Gegenstand historischer Forschung zu werden, wie jedes Staatsoberhaupt. Meine Aufgabe ist es auch, Navigationshilfe zu geben im Dickicht des politischen Alltags und für die Zukunft unserer Demokratie. Die Beschäftigung mit unserer Vergangenheit ist dafür unabdingbar, denn sie ist ein Teil von uns.
Deshalb bin ich überzeugt: Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Geschichte gehört zur Selbstverständigung und Selbstvergewisserung in einer Demokratie – und damit gewissermaßen auch zu einem aufgeklärten Amtsverständnis eines Bundespräsidenten. Und jeder Bundespräsident setzt dabei eigene Akzente, die durch die jeweilige Zeit bestimmt sind und neu bestimmt werden. Selbstverständlich kann und darf ein Bundespräsident kein Geschichtsbild von oben herab verordnen – auch das unterscheidet unsere Demokratie von autoritären Regimen. Und selbstverständlich stehen in einer Demokratie verschiedene Deutungsmuster der Geschichte miteinander im Wettstreit.
Das ist ja gerade die vornehmste Legitimation unserer Demokratie, dass sie die Freiheit der Kontroverse garantiert. Wer diese Freiheit verächtlich macht oder gar abschaffen will, der muss den Bundespräsidenten gegen sich haben. Denn er steht über den Parteien, ja. Aber wie ich in meiner Antrittsrede vor sechs Jahren gesagt habe: Ich werde nicht unparteiisch sein, wenn es um die Sache der Demokratie geht!
Gerade weil auch unsere Demokratie angefochten ist, kann es für mich als Bundespräsidenten gar kein anderes Thema geben als den Zustand und die Zukunft dieser Demokratie. Und dafür ist es wichtig, dass wir uns ihrer Geschichte bewusst sind.
Einen wichtigen Beitrag dazu leistet der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten – in diesem Jahr haben wir seinen 50. Geburtstag gefeiert. Ins Leben gerufen hat ihn einer meiner Vorgänger, Gustav Heinemann.
Damals, zu Beginn der 1970er Jahre, waren es vor allem die Jungen, die darauf drängten, dass sich unser Land der kritischen Auseinandersetzung mit seiner dunkelsten Vergangenheit öffnet. Lange, viel zu lange hatten sich die meisten Deutschen der Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch der Shoah verweigert. Die Erinnerung daran, die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, an die ungeheuren Verbrechen, die Deutsche begangen haben, diese Erinnerung ist heute Teil unserer Identität.
Wer heute lautstark ein Ende des angeblichen Schuldkults fordert, der bekämpft nicht nur unsere Erinnerungskultur. Der leugnet einen zentralen Teil unserer Identität. Ich sage sehr deutlich: Die Relativierung, mancherorts sogar Verhöhnung des Holocaust und dessen Aufarbeitung ist alles andere als eine Marginalie. Denn was steckt eigentlich hinter den geschmacklosen Witzen und Provokationen? Nichts anderes als der Wille, die Geschichte zu entsorgen und zu zertrümmern, was Aufarbeitung der Geschichte bedeutet.
Unter diese Erinnerung kann es keinen Schlussstrich geben! Das sind wir den Opfern und uns selbst schuldig!
Und deshalb ist es mir wichtig, als Bundespräsident der Opfer der NS-Herrschaft auch an Orten zu gedenken, die in unserem kollektiven Gedächtnis bisher kaum verankert sind. Orte in unseren Nachbarländern wie Malyj Trostenez, Fivizzano, Babyn Jar, Paneriai, Korjukiwka und Chaidari. Aber auch in Deutschland wie etwa in Gardelegen, wo noch in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges ungeheure Verbrechen verübt wurden.
Und deshalb ist es mir wichtig, auch die Rolle der Bundespräsidenten und ihres Amtes kritisch aufzuarbeiten. Welche Kontinuitäten gab es vor und nach 1945? Wie sehr waren die Staatsoberhäupter Motoren, Bremser oder eher Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung? Auf all das soll ein Forschungsprojekt Antworten gegeben, das Ihr Kollege Norbert Frei durchgeführt hat und dessen Ergebnis wir in vier Wochen im Schloss Bellevue vorstellen werden, weil ich finde: Historische Verantwortung darf vor der eigenen Tür nicht enden!
Und gerade weil die deutsche Demokratie der Gegenwart auf die Abgründe der Shoah gefolgt ist; weil wir Deutsche wissen, dass die Demokratie nie auf ewig gesichert ist, weil auch unsere Demokratie stärker unter Druck steht, gerade deshalb halte ich es auch für wichtig, die Wurzeln unserer Demokratie noch stärker sichtbar zu machen.
Nicht nur ex negativo, nicht nur aus dem „Nie wieder!“ lässt sich unsere Identität aus der Geschichte begründen, sondern auch aus den Traditionen von Freiheit und Demokratie, die es in Deutschland gegeben hat und an die wir etwas selbstbewusster erinnern sollten. Mir geht es dabei um Brüche, aber auch um feine und manchmal auch kräftigere Linien, die einzelne Ereignisse auf unserem langen Weg zur Demokratie miteinander verbinden. Von der Mainzer Republik über den Vormärz bis zum Jahr 1848; von der Novemberrevolution 1918 über die Weimarer Republik bis hin zur Entstehung des Grundgesetzes.
Ich freue mich, dass in Weimar inzwischen prominent an die Nationalversammlung und den Aufbruch zur Demokratie erinnert wird; dass die Stadt Leipzig einen Robert-Blum-Demokratiepreis gestiftet hat; dass eine neue Bundesstiftung zur Förderung der vielen kleinen „Orte der Demokratiegeschichte“ ihre Arbeit aufgenommen hat. Ich freue mich, dass die Frankfurter Paulskirche als Ort des ersten gewählten Parlaments wiederentdeckt worden ist und hoffentlich attraktiver werden kann, wenn die Beteiligten nicht der Mut verlässt; dass der Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der DDR deutlich mehr Aufmerksamkeit erfährt. Und ich würde mir sehr wünschen, dass Opposition und Widerstand in der DDR einen zentralen und herausgehobenen Erinnerungsort bekommen, an dem zusammengetragen wird, was an so vielen Orten in der damaligen DDR im Kampf gegen die SED-Diktatur geleistet worden und geschehen ist.
Mut zur Veränderung und die Überzeugung, dass wir es selbst in der Hand haben, die Zukunft zu gestalten – das ist es, was uns die Wegbereiterinnen und Wegbereiter der Demokratie mitgegeben haben, und deshalb ist mir die Erinnerung daran so wichtig. Ich bin überzeugt: Wenn wir uns an diesen Teil unserer Demokratiegeschichte erinnern, stärken wir auch die Verantwortung für die Demokratie. Denn Geschichte erinnert uns daran: Demokratie und Freiheit sind nicht vom Himmel gefallen. Sie wurden unter Opfern erkämpft und im 20. Jahrhundert verzweifelt verteidigt. Das ins Bewusstsein zu rücken, ist aller Anstrengungen wert.
Ja, die Auseinandersetzung mit der Geschichte gehört zur Selbstverständigung in einer Demokratie. Das bedeutet auch, dass wir uns immer wieder aufs Neue kritisch selbst befragen müssen. Auch neue Fragen stellen müssen. Wir sind heute eine Gesellschaft der Vielen mit vielen, ganz unterschiedlichen Herkünften. Und entsprechend vielfältig und vielschichtig ist auch unsere Geschichte. Und weil Geschichte immer auch aus Geschichten besteht, weiß ich, dass viele Geschichten in unserem Land noch nicht oder nicht ausreichend erzählt sind.
Damit meine ich die Geschichten der Menschen aus dem Osten unseres Landes. Sie haben Umbrüche gemeistert in einem Ausmaß, das meine Generation im Westen nicht kannte.
Ich meine auch die Geschichten der sogenannten Gastarbeiter und ihrer Kinder und Enkel aus der Türkei, aus Spanien, Italien, Griechenland, dem damaligen Jugoslawien und Portugal, denen wir viel zu verdanken haben.
Ich meine die Geschichten von Menschen aus ganz Europa und der ganzen Welt, die heute hier leben: Menschen aus Polen, Bulgarien und Rumänien, aus Frankreich und Nordamerika; Menschen aus dem Iran, Irak, Afghanistan und Syrien, neuerdings aus der Ukraine, die zu uns geflüchtet sind vor Verfolgung und Krieg.
Viele von ihnen sind eben nicht nur zu Gast. Sie sind, wenn sie lange hier sind, ein Teil von uns. Wir sind längst zu einem Einwanderungsland geworden, einem Land mit Migrationshintergrund. Und all diese Geschichten müssen viel stärker Teil unserer gemeinsamen Geschichte werden – auch das meine ich mit kritischer Selbstbefragung.
Und noch etwas gehört dazu: Wir müssen uns auch fragen, auf wessen Schultern große Teile der westlichen Moderne errichtet wurde und zu welchem Preis. Natürlich richtet sich diese Frage nicht nur an uns. Aber bei meinen Reisen in afrikanische Länder, aber auch in andere Länder des globalen Südens habe ich immer wieder erlebt, wie wichtig es dort ist, dass wir Europäer bei diesem Thema bereit sind zu einem selbstkritischen Umgang mit unserer Geschichte und auch offen dafür sind, uns mit unserer Verantwortung für den Kolonialismus auseinanderzusetzen. Und ich bin ganz sicher: In wenigen Wochen fliege ich nach Tansania, und auch dort wird mich das Thema wieder erreichen. Ausweichen können wir diesen Fragen nicht, weil – ich habe das oft genug erlebt: bei der Documenta, bei der Eröffnung des Humboldt Forums und früher in anderer Zuständigkeit bei den vielen Fragen der Kulturgüterrückgabe – all diese Fragen auch längst unsere Debatten hier prägen. Wenn wir, gerade im globalen Süden, glaubwürdig unsere Werte vertreten und für sie werben wollen, dann können wir uns beim selbstkritischen Umgang mit unserer Geschichte keine weißen Flecken leisten.
Es geht bei all diesen Fragen aber nicht nur um unsere Geschichte. Es geht um unsere Zukunft.
Im kommenden Jahr wird unser Grundgesetz 75 Jahre alt; seit fast 35 Jahren gilt es für unser ganzes Land, und ich finde, es gibt guten Grund, diesen Tag zu feiern. Wir können stolz darauf sein, was uns mit dieser zweiten Demokratie in Deutschland geglückt ist!
Die Jahre nach dem Mauerfall und dem Geschenk der Wiedervereinigung waren für uns Deutsche eine Zeit mit Rückenwind. Es waren – trotz aller Krisen – Jahre, in denen uns vieles gelungen ist. Aber es sieht so aus, dass wir jetzt Jahre mit Gegenwind vor uns haben. Wir müssen uns jetzt fragen: Wo stehen wir als Land, als Gesellschaft in einer Zeit, in der wir herausgefordert und gefordert sind wie seit Langem nicht? In der so riesige Aufgaben auf uns warten? Die Folgen der Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die Bekämpfung des Klimawandels, der Umbau unserer Industrie hin zur Klimaneutralität, der Druck auf unsere Demokratien: All diese Herausforderungen zu meistern, das wird uns viel abverlangen in den kommenden Jahren. Ich meine, es geht dabei auch um die Frage, welches Land wir in Zukunft sein wollen.
Der 24. Februar 2022 hat manche Gewissheiten der letzten Jahrzehnte hinweggefegt. „Die Epoche des Totalitarismus hat Europa Unglück gebracht. In Europa kann kein zivilisiertes Land mehr mit Gewalt Probleme lösen“, so hat es der frühere polnische Außenminister Władysław Bartoszewski im Jahr 2005 gesagt. Es war die Hoffnung eines großen Politikers, der Auschwitz überlebt hatte. Es war die Hoffnung von vielen, auch meine Hoffnung, all derer, die darauf hingearbeitet haben, dass genau das nicht noch einmal geschieht: dass Europa zurückfällt in eine Zeit des Hasses, der Gewalt. Aber genau das ist geschehen. Putin hat sich mit diesem Angriff auf ein friedliches, demokratisches Nachbarland außerhalb der Gemeinschaft der zivilisierten Staaten gestellt.
Gerade uns Deutschen hat dieser 24. Februar sehr deutlich vor Augen geführt, dass wir sehr viel mehr tun müssen als in den vergangenen Jahrzehnten, um unsere Demokratie zu schützen und zu verteidigen. Und damit meine ich nicht nur Wehrhaftigkeit nach außen. Die auch. Aber mir geht es auch um den innersten Kern unserer Demokratie.
Unser Grundgesetz gründet auf der Erfahrung, dass die erste deutsche Demokratie von ihren Feinden gezielt zerstört wurde und letztendlich nicht stark genug war, um sich dieser Feinde zu erwehren. Niemals wieder sollten demokratische Freiheitsrechte missbraucht werden dürfen, um Freiheit und Demokratie abzuschaffen, das hat die Mütter und Väter des Grundgesetzes geleitet. Und sie haben starke Instrumente festgeschrieben, damit unsere Demokratie wehrhaft sein kann.
Aber sind wir uns noch so sicher, dass nicht genau das trotzdem geschehen kann, dass Freiheit und Demokratie aus der Demokratie heraus nicht nur angegriffen, sondern sogar in Gefahr gebracht werden können?
Wenn ich heute hier spreche, dann muss ich auch davon sprechen, dass mir diese Gefahr Sorge bereitet. Ich sehe mit Sorge, dass der Ton in vielen Debatten immer schärfer und unversöhnlicher wird, dass Hass und Hetze zunehmen und die Bereitschaft zum Gespräch abnimmt. Dass sich die Grenzen des Sagbaren in Richtung des Unsäglichen weiter verschieben.
Ist das wirklich das Land, das wir sein wollen?
Ich wünsche mir ein Land, das – bei allen Schwierigkeiten und Herausforderungen, vor denen wir stehen – auf seine Kraft und Stärke vertraut.
Ich wünsche mir ein Land, in dem die Menschen, die hier leben, sich bewusst sind, welch kostbares Gut unsere Demokratie und unsere Freiheit sind – und dass Demokratie und Freiheit eben nicht selbstverständlich und nie auf Ewigkeit garantiert sind.
Ich wünsche mir ein Land, in dem sich Parteien, Politikerinnen und Politiker mit aller Beharrlichkeit, aber auch mit Leidenschaft für unsere Demokratie und unsere Freiheit einsetzen und Lösungen für offenkundige Probleme vorschlagen.
Ich wünsche mir ein Land, in dem jede und jeder Einzelne Verantwortung für unsere Demokratie übernimmt. Ein Land, in dem sich auch jede Wählerin und jeder Wähler der Verantwortung bewusst ist, die sie oder er am Wahltag bei der Stimmabgabe hat. Niemand kann sich herausreden, wenn er mit seiner Stimme Verächter der Demokratie stärkt.
Und es gibt sie, diese Menschen, die sich engagieren in der und für die Demokratie. Ich hatte erst kürzlich die Freude, Tausende von Menschen beim Bürgerfest zu Gast zu haben, die genau das tun: die sich einsetzen für ihre Nachbarschaft, für ihr Dorf, ihre Stadt, für unser Land. Und ich weiß, es sind viele, Millionen, die das tun! Sie sind das große, starke Rückgrat unserer Demokratie. Und: Es ist die große Mehrheit. Die müssen wir stärken, die müssen wir unterstützen. Geben wir den vielen Leisen eine Stimme gegen die wenigen Lauten!
Führen wir Debatten, streiten wir auch, wenn es darum geht, Lösungen zu finden für die riesigen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Das ist in einer Demokratie nicht nur möglich. Es ist notwendig! Aber lassen Sie es uns mit Fairness, und ja, auch mit Anstand tun! Und vergessen wir dabei nicht, dass in einer Demokratie Entscheidungen von einer Mehrheit getragen werden müssen – und dass wir die Schwächeren nicht zurücklassen dürfen. Anders geht es nicht, so mühselig das manchmal auch ist.
Aber seien wir wachsam und entschieden, wenn Grenzen überschritten werden. Schauen wir nicht weg, wenn gewählte Gemeinderäte und Bürgermeister eingeschüchtert und bedroht werden, sich zurückziehen. Schauen wir nicht weg, wenn Lehrer gemobbt und eingeschüchtert werden, vertrieben werden aus ihrer Stadt, weil sie Hakenkreuz-Schmierereien oder rassistische Parolen an ihrer Schule öffentlich gemacht haben. Lassen wir nicht zu, dass Menschen Opfer von Rassismus, Antisemitismus, Menschenfeindlichkeit werden!
Wachsame Demokratinnen und Demokraten: Sie sind der beste Schutz unserer Demokratie! Das ist das Land, das ich mir wünsche, und ich werde alles dafür tun, um meinen Beitrag dafür zu leisten!
Eines ist dafür unabdingbar: Dass wir auf die Kraft der Vernunft, auf die Kraft von Fakten, auf die Kraft des Arguments vertrauen und vertrauen können. Kurzum: auf eine Vernunft, die auf den Werten der Menschenwürde, Gerechtigkeit und Wahrheit gründet. Auf Werten, die universell sind. Und dafür brauchen wir Sie, meine Damen und Herren, dafür brauchen wir eine kritische, aufklärerische, unabhängige Wissenschaft. Und nutzen wir Ihre Ergebnisse für kritisches und selbstkritisches Denken!
„Wer denkt, will nicht überredet, sondern überzeugt sein“, hat Victor Klemperer gesagt.
Geben wir also unsere Anstrengungen zu überzeugen, nicht auf. Nicht die Politik und nicht die historische Wissenschaft. Geschichtswissenschaft ist Aufklärung. Aufklärung ist das Lebenselixier der Demokratie. Seien Sie Aufklärer! Streiten Sie für das wertvolle Erbe der Aufklärung! Dann streiten Sie auch für die Demokratie! «
Quelle: Bulletin 96-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 21. September 2023