Veröffentlicht am: 30.11.2023 um 19:07 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Festakt zum 50. Jubiläum des Maximilian-Kolbe-Werks
» Vor etwas mehr als vier Jahren, im Juni 2019, habe ich hier im Schloss Bellevue zehn ältere Frauen und Männer aus Litauen kennengelernt. Sie alle hatten als Kinder miterleben müssen, wie Deutsche ihre Heimat überfielen, ihre Familien verfolgten, ihre Eltern und Geschwister ermordeten, weil sie Juden waren. Sie alle hatten in den Ghettos und Lagern der Nationalsozialisten selbst Höllenqualen durchlitten und nur dank heldenhafter Retter oder glücklicher Umstände überlebt.
Nun waren diese zehn Menschen auf Einladung des Maximilian-Kolbe-Werks nach Deutschland gereist, in das Land, aus dem die Täter stammten, diejenigen, die unfassbares, nicht wiedergutzumachendes Leid über sie und ihre Familien gebracht hatten. Nun saßen sie hier, mitten in Berlin, vor dem deutschen Staatsoberhaupt, manche gezeichnet von den Folgen der Naziverbrechen. Sie waren zurückhaltend, aber sie begegneten uns Deutschen nicht anklagend oder hasserfüllt, sondern offen und freundlich. Sie erzählten uns ihre Geschichten, die dunklen und die hellen Kapitel – klar, gefasst und ohne große Worte. Und es war ihnen wichtig, zu betonen, dass es auch in Zeiten der Gewalt und des Hasses immer gute Menschen gegeben hatte, die ihnen halfen und zur Seite standen.
Nichts an dieser Begegnung war erwartbar oder selbstverständlich. Es war ein bewegender, würdevoller Moment, den ich nie vergessen werde. Ein Moment, der mir noch einmal bewusst gemacht hat, wie viel unser Land dem Maximilian-Kolbe-Werk und anderen Organisationen der Erinnerungs- und Friedensarbeit verdankt.
Seit seiner Gründung im Jahr 1973 hat Ihr Verein dafür gesorgt, dass Überlebende der nationalsozialistischen Ghettos und Konzentrationslager in Polen und anderen Ländern Ost- und Mitteleuropas ein neues, ein anderes Deutschland kennenlernen konnten: ein demokratisches Deutschland mit verantwortungsbewussten Bürgerinnen und Bürgern. Mit Ihrer Arbeit haben Sie Wege geebnet, auf denen die ehemals Verfolgten sich unserem Land und uns Deutschen Schritt für Schritt wieder annähern konnten.
Für die meisten Überlebenden war das ein langer, ein schwerer, ein schmerzhafter Weg. Viele mussten sich überwinden, ihn zu gehen. Aber Sie haben den Boden bereitet, auf dem Vertrauen, Verständigung und oft sogar tiefe Freundschaft wachsen konnten. Wer hätte nach der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus gedacht, dass das je wieder möglich sein würde?
Verantwortungsgefühl und Mitmenschlichkeit, das ist es, was die Arbeit des Maximilian-Kolbe-Werks, was Ihre Arbeit seit 50 Jahren auszeichnet. Sie helfen überlebenden Opfern des Nationalsozialismus in Polen und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas, die oft nur eine kleine Rente bekommen oder nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in wirtschaftliche Not geraten sind. Sie unterstützen kranke oder bettlägerige Überlebende mit Medikamenten, Lebensmitteln, Pflegediensten und Kuren. Und Sie kümmern sich auch in diesen schwierigen Zeiten, so gut es geht, um Ukrainerinnen und Ukrainer, die während des Zweiten Weltkrieges unter den Nazis gelitten haben und nun im hohen Alter dem brutalen russischen Angriffskrieg ausgesetzt sind.
Es sind vor allem die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer Ihres Vereins, die immer wieder die direkte Begegnung suchen, den Austausch von Mensch zu Mensch. Sie laden Überlebende nach Deutschland ein oder besuchen sie zu Hause oder am Krankenbett; sie schreiben ihnen persönliche Briefe, bringen ihnen Essen, hören ihnen zu – und helfen so mit, dass Menschen, die in ihren jungen Jahren von den Nazis zur Nummer erniedrigt und gedemütigt worden waren, ihren Lebensabend in Würde verbringen können.
Mein großer Dank gilt heute allen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Maximilian-Kolbe-Werks. Sie alle stehen für tätige Nächstenliebe, oft inspiriert von Ihrem katholischen Glauben. Sie alle leben den ersten Artikel unseres Grundgesetzes, der es uns zur Aufgabe macht, die Würde jedes Einzelnen zu achten und zu schützen. Sie alle sind Vorbilder, gerade in dieser Zeit, in der manche in unserem Land wieder davon träumen, einen Schlussstrich unter die Erinnerung an den Nationalsozialismus zu ziehen – und in der eine kleine, aber lautstarke Minderheit die Verbrechen der Nazis verharmlost und kleinredet und ihre Opfer verhöhnt.
Aber wir werden in unserem Land nicht zulassen, dass in Vergessenheit gerät, was nicht vergessen werden darf. Wir dulden keinen Antisemitismus und keinen Rassismus. Wir dulden keine Menschenfeindlichkeit, in welcher Gestalt sie auch immer auftritt. Und wir werden gemeinsam dafür sorgen, dass das auch in Zukunft so bleibt.
Ich danke heute auch den vielen Spenderinnen und Spendern, die die Arbeit des Kolbe-Werks in den vergangenen fünfzig Jahren unterstützt haben und weiter unterstützen. Und ich danke nicht zuletzt den Überlebenden, die sich dafür einsetzen, die Erinnerung wach und lebendig zu halten. Viele von ihnen gehen auch im hohen Alter noch in Schulen, Universitäten und Gedenkstätten, um als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von ihren Erfahrungen zu berichten. Ihnen allen im Namen unseres Landes meinen ganz herzlichen Dank!
Das Maximilian-Kolbe-Werk hat sich immer wieder mit der Frage beschäftigt, wie wir die Erinnerung an den Nationalsozialismus in Deutschland und Europa auch dann wach und lebendig halten können, wenn einmal keine Zeitzeuginnen und Zeitzeuginnen mehr da sind. Ob es um Studienfahrten nach Auschwitz geht, um Seminare für Lehrerinnen und Journalisten oder den Austausch zwischen Deutschen und Polen: Wir brauchen Ihre Ideen und Ihre Tatkraft! Gerade jetzt, in dieser Zeit des Krieges, brauchen wir in Europa die gemeinsame Erinnerung und die Verständigung über Grenzen hinweg, um Seite an Seite in eine bessere, eine hoffentlich friedlichere Zukunft aufbrechen zu können.
Ich wünsche Ihnen und dem Maximilian-Kolbe-Werk alles erdenklich Gute. Herzlichen Glückwunsch zum Fünfzigsten – und vor allen Dingen herzlichen Dank! «
Quelle: Bulletin 118-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 23. Oktober 2023