Veröffentlicht am: 30.11.2023 um 21:14 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier vor einem Treffen mit Familienangehörigen von nach Gaza verschleppten deutsch-israelischen Bürgern

Vor einem Treffen mit Familienangehörigen von nach Gaza verschleppten deutsch-israelischen Bürgern hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier folgende Rede am 20. Oktober 2023 in Berlin gehalten...

» Seit dem 7. Oktober ist für Israel, für Jüdinnen und Juden und insbesondere für Sie, liebe Gäste, nichts mehr wie zuvor. Israel ist an diesem Tag von der Terrororganisation der Hamas brutal angegriffen worden, wehrlose Opfer wurden grausam massakriert, ermordet, mehr als zweihundert Menschen hat die Hamas verschleppt. An diesem Tag ist das Grauen, das Unvorstellbare in das Leben der Menschen in Israel, in Ihr aller Leben eingebrochen. Die Angstschreie der Kinder, die Verzweiflung, das Gefühl der Hilflosigkeit, all das ist ein unerträglicher Schmerz. Es ist ein Schmerz über die Toten, Verletzten, Verschleppten.

Die Geschehnisse in Israel, die Bilder, die uns erreichen, – das will ich Ihnen versichern – schmerzen auch uns hier in Deutschland zutiefst. Aber ich kann den Schmerz kaum ermessen, der Sie, liebe Angehörige, quält und peinigt. Jede einzelne Minute bangen Sie um das Leben Ihrer Liebsten.

Verehrte Angehörige, ich begrüße Sie ganz herzlich. Ich bin dankbar für Ihren Besuch hier in Berlin. Ich bin zutiefst bewegt vom Schicksal Ihrer Angehörigen, die jetzt in qualvoller Geiselhaft sind – wir leiden, wir beten und wir flehen mit Ihnen. Und zugleich bin ich voller Bewunderung für Ihren Mut – für Ihren Mut als Familien, Ihren unbeugsamen Willen, alles, aber auch alles für die Befreiung Ihrer Angehörigen zu tun.

Ihre Angehörigen sind Deutsche – und deshalb sind Sie in dieser quälenden Lage auch hierher, nach Deutschland gekommen. Mir ist es wichtig, Sie als deutscher Präsident heute hier zu haben und Ihnen zu sagen: Ihr gehört zu uns! Wir stehen in dieser furchtbaren Stunde an Eurer Seite. Und wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Euch zu helfen. Ich kann Ihnen versichern – und Sie haben es auch vom Bundeskanzler gehört: Die deutsche Regierung setzt sich mit aller Kraft für die Freilassung Ihrer Angehörigen ein, und wir stehen dazu in engem Austausch mit allen zentralen Akteuren in der Region und darüber hinaus.

Ganz besonders bedrückt mich, dass unter den Geiseln Menschen sind, deren Familien in besonderem Maße für die deutsch-israelische Geschichte stehen. Familien, die einst von den Nationalsozialisten verfolgt und aus ihrer damaligen deutschen Heimat vertrieben worden sind. Sie konnten sich vor dem Naziterror retten, flohen nach Israel und halfen, den israelischen Staat zu gründen und aufzubauen. Sie waren es, die uns die Hand zur Versöhnung gereicht und dazu beigetragen haben, dass Deutschland und Israel engste Partner und Freunde geworden sind.

Viele israelische Nachkommen dieser Familien sind wieder deutsche Staatsangehörige geworden. Das steht für unendlich großes Vertrauen, mehr noch: für ein Wunder. Für mich ist es als deutsches Staatsoberhaupt unerträglich, dass Menschen, die für dieses Wunder stehen, nun von Terroristen entführt, als Schutzschild missbraucht und als Geiseln in Todesangst gehalten werden.

Den Geiselnehmern rufe ich von dieser Stelle noch einmal zu: Die ganze Welt schaut auf dieses Verbrechen! Beenden Sie die Barbarei, und lassen Sie die unschuldigen Menschen frei!

Der Terror der Hamas richtet sich gegen Israel und seine Bevölkerung. Aber er trifft auch die Menschen im Gazastreifen, deren Interessen die Hamas vorgibt zu vertreten. Das brutale Vorgehen der Terroristen hat die Bevölkerung in Gaza in eine zerstörerische, militärische Auseinandersetzung geführt. Israel hat das Recht und gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern auch die Pflicht, sich gegen diesen Terror zu verteidigen. Deutschland steht in dieser schweren Zeit fest an Israels Seite. Das ist unsere Verpflichtung.

Und unser Land ist darüber hinaus in vielfacher Weise gefordert: Wir unterstützen Israel dabei, sich gegen den Terror zu schützen. Und wir tun alles dafür, damit dieser Konflikt sich nicht zu einem regionalen Großkonflikt gegen Israel ausweitet. Zugleich setzen wir uns für den Schutz von Zivilisten ein, für humanitäre Hilfe und humanitäre Korridore für die Menschen in Gaza.

Unser Land ist aber noch in anderer Weise gefordert – und das gilt für den Staat und für die Gesellschaft als Ganze: Wir dürfen keinen Antisemitismus und keinen Israel-Hass auf deutschen Straßen dulden! Von niemandem!

Deswegen habe ich mich heute Vormittag auch mit Vertretern des American Jewish Committee getroffen – die erste internationale jüdische Organisation, die nach dem Holocaust wieder den Kontakt zu unserem Land gesucht hat. Deutschland ist unendlich froh – und nicht nur froh, auch dankbar –, dass nach dem Menschheitsverbrechen der Schoah jüdisches Leben in unserem Land neu gewachsen und erblüht ist!

Umso weniger dürfen wir hinnehmen, dass Jüdinnen und Juden heute wieder Angst haben, in Deutschland und weltweit. Ich verurteile jeden Angriff auf jüdische Einrichtungen, wie wir sie jüngst in Berlin erlebt haben. Sie sind eine Schande für Deutschland.

Jetzt ist unsere Entschlossenheit gefragt. Wir schützen jüdisches Leben und wir lassen uns nicht einschüchtern! Wir verstärken die Sicherheit für jüdische Einrichtungen in Deutschland. Der Schutz jüdischen Lebens ist eine Verantwortung aus unserer Geschichte und er ist das Fundament unserer Demokratie!

Und unsere Demokratie unterscheidet nicht nach Herkunft, Erfahrungen und Religion. Jeder, der hier lebt, muss Auschwitz kennen und die Verantwortung begreifen, die daraus für unser Land erwächst. Der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland ist Staatsaufgabe und er ist Bürgerpflicht.

Ich bitte alle Menschen in unserem Land, diese Bürgerpflicht wahrzunehmen. Wir leben in einer Demokratie, die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Gewalt aber setzt unseren Freiheiten Grenzen. Antisemitische Volksverhetzung, Attacken auf jüdische Synagogen, Angriffe auf Polizisten sind keine Wahrnehmung von Freiheit, es sind Straftaten. Ich erwarte von allen, dass sie diese Regeln für ein friedliches Zusammenleben respektieren. Die Einhaltung dieser Regeln ist Voraussetzung für das Zusammenleben in der Demokratie! «


Quelle: Bulletin 118-4 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 23. Oktober 2023

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