Veröffentlicht am: 02.04.2024 um 19:49 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Konzert „Leading Women in Jazz“
» „I wish I knew how
It would feel to be free
I wish I could break
All the chains holding me
I wish I could say
All the things that I should say
Say ‘em loud, say ‘em clear
For the whole round world to hear
I wish you could know
What it means to be me
Then you’d see and agree
That every man should be free“
Der eine oder andere wird es erkannt haben. Dieses wunderbare Klavierintro von Nina Simone, einer wunderbaren Sängerin und Pianistin, die dieses Stück 1967 weltberühmt gemacht hat. „I wish I knew how it would feel to be free“ – dieser Song wurde zum Soundtrack der Bürgerrechtsbewegung in den USA, zur Hymne der schwarzen Amerikanerinnen und Amerikaner: Der Amerikaner, die für Freiheit und Gleichberechtigung eintraten, für eine offene Gesellschaft, in der jeder Mensch seine Stimme zu Gehör bringen kann.
Heute erinnert uns dieser Song daran, dass der Jazz immer auch eine musikalische Freiheitsbewegung gewesen ist – in den USA, wo er als Musik der ausgegrenzten und entrechteten Schwarzen entstand, aber auch in Deutschland. Jazz war in der Weimarer Republik der „Goldenen Zwanziger“ der Sound des Fortschritts und der Moderne, er wurde im Nationalsozialismus zur Gegenkultur der Unbeugsamen und Widerständigen, er stand in der DDR für Unangepasstheit und Freiheitswillen, in der frühen Bundesrepublik für Orientierung zum Westen und Demokratie – und er steht heute vielleicht in der jungen Szene für ein respektvolles Miteinander der Unterschiedlichen.
Von Anfang an haben Frauen eine bedeutende Rolle in der Geschichte des Jazz gespielt. Das ist besonders bemerkenswert, weil sie es doppelt schwer hatten, sich als Jazzmusikerinnen zu behaupten. Sie mussten sich einerseits, wie viele männliche Kollegen, gegen Rassismus, Klassendünkel oder politische Unterdrückung zur Wehr setzen, zugleich aber immer auch gegen sexistische Vorurteile und Frauenfeindlichkeit ankämpfen – und das nicht zuletzt in der Jazzszene selbst.
Denn diese Szene war jahrzehntelang das, was man eine Männerdomäne nennt. Viele frühe Jazzbands verfolgten eine „all-male policy“ und nahmen ganz grundsätzlich keine Frauen auf. Wenn überhaupt, traten Frauen lange zumeist als Sängerinnen, allenfalls als Pianistinnen in Erscheinung; andere Instrumente galten als „unweiblich“ und blieben ihnen oft verwehrt. Vor allem hielten Männer in der Jazzwelt sehr lange an dem alten Vorurteil fest, dass Frauen von Natur aus unkreativ seien und weder komponieren noch improvisieren könnten. Noch 1967 fasste ein amerikanischer Jazzkritiker diese Haltung in einem einzigen Satz zusammen: „Only God can make a tree“, schrieb er, „and only men can play good jazz.“
Es war dieser dröhnende, selbstgefällige Sound der Männerwelt, gegen den Jazfzrauen lange Zeit ansingen, anspielen und ankomponieren mussten. Viele Jazzmusikerinnen wurden von männlichen Kollegen belächelt, künstlerisch ausgenutzt, ökonomisch ausgebeutet; sie wurden aus dem Rampenlicht gedrängt, von großen Bühnen und einflussreichen Positionen ferngehalten, häufig auf ihr Aussehen reduziert, manchmal in Selbstzweifel gestürzt; nicht wenige haben sexuelle Belästigung oder Gewalt erlitten.
Und trotzdem ist es Frauen immer wieder gelungen, sich in der Welt des Jazz durchzusetzen – mit ihrem Talent und ihrem Können, mit ihrem Mut, ihren Fähigkeiten und ihrer Begeisterung für diese Musik. Sie haben den modernen Jazz weiterentwickelt und zugleich für Gleichberechtigung gestritten, in der Szene und in der ganzen Gesellschaft.
Viele dieser Musikerinnen haben bis heute nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen – auch weil es lange Zeit eben vor allem Männer waren, die über Plattenverträge entschieden, das Bühnenprogramm bestimmten oder über Jazz schrieben und urteilten. Deshalb wundert es nicht: Noch heute findet man Artikel zur Jazzgeschichte, in denen Frauen komplett ausgeblendet bleiben.
Höchste Zeit also, die Leading Women der Szene auch hier im Jazzschloss Bellevue noch mehr ins Licht zu setzen! Ich freue mich, dass heute Abend gleich drei fantastische Bandleaderinnen mit ihren Ensembles für uns spielen werden – natürlich ihre eigene Musik, aber auch jeweils ein Stück von einem weiblichen Vorbild: Luise Volkmann trifft auf Lil Hardin Armstrong, Anke Helfrich auf Mary Lou Williams, Lisa-Rebecca Wulff auf Carla Bley. Schön, dass Sie bei uns sind. Meine Frau und ich freuen uns, wir alle freuen uns hier auf Sie und Ihre Musik. Herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind!
„El Ha-Or – Towards the Light“, so heißt ein Song der israelischen Sängerin Efrat Alony, die seit vielen Jahren zur internationalen Jazzszene hier in Berlin gehört. Zum Licht – ich finde, das ist ein schönes Motto für unser Konzert an diesem Weltfrauentag. Sie dürfen gleich gern mitswingen und mitgrooven, fühlen Sie sich einfach wie im Jazzclub um die Ecke. Sie sind alle ganz herzlich willkommen hier im Schloss Bellevue!
Unsere Musikerinnen und Musiker schlagen heute Abend einen Bogen vom Jazz Age der Zwanzigerjahre in den USA bis in die Gegenwart des Jazz in Deutschland. Sie lassen, wenn Sie so wollen, ein ganzes Jahrhundert anklingen, in dem sich immer mehr Jazzfrauen Erfolg und Anerkennung erkämpften oder sich zumindest nicht unterkriegen ließen.
In den USA wurden Pianistinnen und Komponistinnen wie Lil Hardin und Mary Lou Williams zu Wegbereiterinnen des modernen Jazz; Musikerinnen wie die Trompeterin Valaida Snow machten früh klar, dass Virtuosität keine Männersache ist; Sängerinnen wie Billie Holiday oder Ella Fitzgerald eroberten mit ihren Stimmen die Welt.
In der Weimarer Republik brachten Künstlerinnen wie Josephine Baker oder Rosa Goldstein alias Peggy Stone nicht nur Berlin zum Tanzen; im Nationalsozialismus begehrten die Swing Girls mutig gegen den verordneten Gleichschritt auf; nach dem Zweiten Weltkrieg begannen spätere Stars wie die Pianistin Jutta Hipp in den Jazzclubs der amerikanischen Soldaten ihre Karriere; und in der DDR ließen sich Jazzgrößen wie Ruth Hohmann auch von Auftrittsverboten und den Aufpassern der Stasi nicht von ihrem Weg abbringen.
Immer mehr Jazzfrauen lebten nun das, was Bessie Smith bereits 1925 gesungen hatte: „I ain’t gonna play no second fiddle / I’m used to playing lead.“ Sie alle haben als Vorkämpferinnen und Vorbilder dazu beigetragen, dass auch die deutsche Jazzwelt heute weiblicher ist als sie je war.
Der Anteil von Frauen unter den professionellen Jazzmusikern ist in den vergangenen Jahren auf mehr als ein Viertel gestiegen. Im Bundesjazzorchester ist jedes dritte Mitglied heute eine Frau. Und wir haben nicht nur herausragende Sängerinnen, sondern längst auch großartige und preisgekrönte Saxophonistinnen, Pianistinnen, Bassistinnen oder Schlagzeugerinnen. Jazzfrauen lehren als Professorinnen an deutschen Musikhochschulen, leiten Jazzfestivals, bekleiden Führungspositionen in Vereinen und Verbänden.
Und trotzdem ist es in der Jazzwelt so wie in fast allen Teilen unserer Gesellschaft: Wir sind ein gutes Stück vorangekommen auf dem Weg zu Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit, aber bis zum Ziel ist noch ein gutes Stück zu gehen.
Noch immer lassen sich die weiblichen Mitglieder in den Bigbands des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks an einer Hand abzählen; noch immer sind Jazzmusikerinnen in Jurys und Kommissionen unterrepräsentiert; noch immer verdienen sie im Schnitt weniger als ihre männlichen Kollegen; noch immer erleben sie im Proberaum oder auf der Bühne anzügliche Witze oder Kommentare – und noch immer gibt es männliche Kollegen, die beim Thema Sexismus und Frauenfeindlichkeit nicht das erforderliche Problembewusstsein zeigen.
Deshalb ist und bleibt es wichtig, dass Frauen auf Machtmissbrauch, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten aufmerksam machen und für ihre Rechte eintreten – und das nicht nur in der Jazzszene und nicht nur am Weltfrauentag! Und deshalb brauchen wir nicht nur im Jazz mehr sichtbare und hörbare Leading Women, sondern überall in Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik! Frauen wie viele hier im Saal, die auf ihrem Gebiet Takt und Ton angeben – und anderen Frauen Mut machen, ihren Weg zu gehen.
Unsere drei Bandleaderinnen und ihre Ensembles stehen für eine neue, eine vielfältige und weltoffene Jazzrepublik Deutschland. Zuhören, aufeinander einlassen, einander vertrauen, das macht ein gutes Ensemble aus. Und ich finde, diese Haltung – zuhören, aufeinander einlassen, einander vertrauen –, diese Haltung bräuchten wir nicht nur auf der Jazzbühne, sondern in der ganzen Gesellschaft.
Das Wichtigste, sagen Jazzmusikerinnen wie Carla Bley, ist das Zuhören. Und genau das wollen wir jetzt tun! Roland Spiegel wird uns die Musikerinnen und Musiker vor ihrem Auftritt jeweils kurz vorstellen; er ist Jazzredakteur beim Bayerischen Rundfunk und hat einige unserer Gäste bereits in seiner Sendung interviewt. Ich freue mich gemeinsam mit Ihnen auf unsere Leading Women und ihre Bands, und ich wünsche Ihnen und uns allen einen wundervollen Jazzabend! «
Quelle: Bulletin 20-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 14. März 2024