Veröffentlicht am: 08.03.2025 um 20:02 Uhr:
Bundesregierung: Rede der Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock, bei den zivilgesellschaftlichen Konsultationen zu Afghanistans Verpflichtungen nach dem CEDAW-Übereinkommen
» Im Dezember haben die Taliban ein Dekret erlassen, das den Bau von Gebäuden regelt. Heute dürfen in Afghanistan Wände zu Innenhöfen keine Fenster haben, Küchenwände keine Fenster haben, Wände an Brunnen keine Fenster haben. Warum? Weil diese Bereiche, ich zitiere, „gewöhnlich von Frauen benutzt werden“. Und, wie ein Sprecher der Taliban es ausdrückte: „Wenn man Frauen sieht, die in Küchen oder Höfen arbeiten oder Wasser vom Brunnen holen, kann dies zu obszönen Handlungen führen.“
So sieht es derzeit in Afghanistan aus. Die Taliban bauen praktisch einen sozialen Kerker für 50 Prozent der afghanischen Bevölkerung, nur weil es Frauen sind – einen Kerker, in dem Dunkelheit und Stille herrschen, Einsamkeit und Missbrauch, einen Kerker, in den die Außenwelt keinen Einblick haben soll. Es gibt keine Worte, die das ausreichend beschreiben können.
Wir können es als soziales Verschwindenlassen bezeichnen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Verfolgung aus Gründen des Geschlechts. Und ich weiß, dass viele von Ihnen es Geschlechter-Apartheid nennen. Aber die schlichte Wahrheit ist: Kein einzelner Begriff kann diese Verbrechen völlig erfassen.
Und deshalb ist es so wichtig, dass wir die Berichte von Frauen anhören, die diesen Albtraum erleiden, dass wir den Stimmen zuhören, die die Taliban zum Schweigen bringen wollen. Die sogenannten Laster- und Tugendvorschriften, die im Juli letzten Jahres eingeführt wurden, schreiben vor, dass Frauenstimmen in der Öffentlichkeit nicht zu hören sein sollen. In diesem Monat hat das De-facto-Regime bei einem der letzten von Frauen geführten Medienunternehmen – „Radio Begum“ – eine Razzia durchgeführt und seine Tätigkeit ausgesetzt.
Die Taliban löschen Frauen aus dem öffentlichen Leben, eine nach der anderen. Eine Journalistin sagte gegenüber dem britischen Guardian: „Ich wollte den Stimmen der Frauen mehr Gehör verschaffen. Was ich mir nicht vorstellen konnte: Dass eines Tages meine eigene Stimme unterdrückt werden würde.“
Man kann Menschen verschwinden lassen, indem man ihnen das Leben nimmt. Man kann aber Menschen auch verschwinden lassen, indem man ihr Bild auslöscht. Man kann Menschen verschwinden lassen, indem man ihre Stimme stummschaltet.
Heute werden wir Stimmen von Frauen hören, die die Taliban zum Schweigen bringen wollen – Menschenrechtsanwältinnen und -aktivistinnen, Ärztinnen und Lehrerinnen, Mütter, Töchter, Schwestern, ganz normale Mitmenschen. Ich bin dankbar dafür, dass wir heute hier so viele Stimmen aus der afghanischen Diaspora hören können. Und ich kann nicht beschreiben, wie sehr ich mich freue, dass einige dieser Frauen uns auch direkt aus Afghanistan zugeschaltet sind. Sie werden ihre Geschichten später mit uns über eine sichere Verbindung teilen, in geschlossenen Sitzungen. Und sie riskieren dafür ihr Leben.
Meine Botschaft an Sie alle, an alle Frauen und Mädchen in Afghanistan, ist folgende: Wir vergessen Euch nicht. Bei dieser Konferenz geht es um Euch. Bei unserer Arbeit geht es um Euch. Wir hören Euch. Und wir stehen an Eurer Seite. Denn wie Sie, Richard Bennett, es kürzlich ausgedrückt haben: „Eine wichtige Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft ist das Zuhören. Aber wir müssen auch handeln.“
Gemeinsam werden wir den Taliban heute eine deutliche Botschaft übermitteln: Ihre Handlungen werden nicht folgenlos bleiben. Das ist das Ziel der Initiative, die wir im September gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus Australien, Kanada und den Niederlanden – mit der Unterstützung von Ländern aus allen Teilen der Welt und aller Glaubensrichtungen, auch mehrheitlich muslimischer Länder – auf den Weg gebracht haben: Afghanistan und das De-facto-Regime im Rahmen des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau – kurz CEDAW – zur Verantwortung zu ziehen.
Ich erinnere mich, wie ich in New York mit dem Ständigen Vertreter Afghanistans bei den Vereinten Nationen (VN) über diese Initiative sprach. Er ist ein erfahrener Diplomat, der seinen Posten vor der Machtübernahme der Taliban angetreten hat und der jetzt nicht in seine Heimat zurückkehren kann. Er sagte: Hier geht es nicht um Unterschiede der Kultur oder Tradition, hier geht es um die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens.
Man muss sich nur vor Augen halten, worum es beim CEDAW geht: Gleiche Rechte im Bildungsbereich, im Sport und bei Stipendien – Artikel 10. Gleiches Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf soziale Sicherheit – Artikel 11. Gleichberechtigter Zugang zu Gesundheitsdiensten – Artikel 12. Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht zum Abschluss von Verträgen und auf Eigentum sowie freie Wahl des Aufenthaltsortes und des Wohnsitzes – Artikel 15.
Dies sind keine utopischen oder maximalistischen Forderungen von Feministinnen. Das sind Grundrechte, die jedem Menschen zustehen – unabhängig von der Hautfarbe, der Religion, der sexuellen Identität oder vom Geschlecht. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Und dies ist der Grund, warum 1979, als CEDAW von der VN-Vollversammlung angenommen wurde, 130 Länder für das Übereinkommen stimmten und kein einziges Land dagegen votierte.
Heute haben 189 Staaten das Übereinkommen ratifiziert, Staaten aus allen Teilen der Welt, unter ihnen auch Afghanistan. Aber wir alle wissen, dass wir diese Rechte trotz dieses breiten Konsenses nie für selbstverständlich nehmen sollten. Afghanistan mag der extremste Fall von Rücknahme von Frauenrechten sein. Es ist aber definitiv nicht der einzige.
Daher geht es in unserer CEDAW-Initiative auch darum, allen Regimen dort draußen klarzumachen: Ihr werdet nicht damit durchkommen, die Stimmen der Frauen zum Schweigen zu bringen, um eure Macht zu festigen. Wir passen genau auf, wo und wann immer die Rechte der Frauen verletzt werden, denn die Rechte der Frauen sind ein Maßstab für den Zustand einer Gesellschaft. Frauenrechte sind ein Frühwarnsignal, wie wir in Russland und anderen Teilen der Welt gesehen haben.
Aber heute, kurz bevor wir den Internationalen Frauentag begehen, müssen wir Folgendes zur Kenntnis nehmen: Kein Land hat vollständige Geschlechtergerechtigkeit erreicht. Kein Land ist immun dagegen, bei Frauenrechten und der Teilhabe von Frauen zurückzufallen. Mein eigenes Land ist ein Beispiel dafür. Im neuen, gerade gewählten Parlament ist der Prozentsatz der weiblichen Abgeordneten auf den Stand von 2002 – also den Stand von vor mehr als 20 Jahren – zurückgefallen.
Der Internationale Frauentag erinnert uns alle – Frauen und Männer – daran, dass wir für Rechte, Ressourcen und Repräsentanz von Frauen einstehen müssen – egal, wo –, denn Frauenrechte sind Menschenrechte. Und Menschenrechte sind Frauenrechte. Daher ist diese Initiative, an der wir mit Ihnen allen zusammenarbeiten, größer als Afghanistan.
Wenn wir uns aber um die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen nicht kümmern, laufen wir Gefahr, zu deren Normalisierung beizutragen. Und ich weiß, viele von Ihnen haben das Gefühl, dass die Welt das afghanische Volk vergessen hat, dass nach dem Schock vom August 2021 – nach den fürchterlichen Bildern vom Flughafen Kabul und der Machtübernahme der Taliban – die Lage in Afghanistan aus der öffentlichen Debatte verschwunden ist. Manche, auch in meinem Land, fordern sogar eine Normalisierung der Beziehungen zum Taliban-Regime. Es gibt eine Zeile in einem Ihrer Gedichte, das Sie, liebe Mariam Meetra, geschrieben haben und das wir gleich hören werden, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Dort heißt es übersetzt: „Selbst der Spiegel wird dein Bild vergessen.“ Aber lassen Sie mich Ihnen versichern: Wir haben die afghanischen Frauen und Mädchen nicht vergessen.
Und wir werden die Menschen in Afghanistan nicht aufgeben. Wo immer dies möglich ist, versorgt Deutschland die Menschen in Afghanistan weiterhin mit humanitärer Hilfe, mit Nahrungsmitteln und grundlegenden Gesundheitsdienstleistungen, allerdings – und das ist mir wichtig – ohne mit den Taliban zu kooperieren. Stattdessen arbeiten wir mit internationalen und nichtstaatlichen Organisationen zusammen. Und hierbei ist unsere Leitlinie: Frauen und Mädchen müssen von dieser Unterstützung profitieren.
Wir arbeiten nach wie vor mit Afghaninnen und Afghanen an Menschenrechtsprojekten. Und fast 36.000 von den Taliban verfolgte Menschen haben Schutz, Sicherheit und eine Zukunft in Deutschland gefunden. Sie kamen über Programme nach Deutschland, die nach 2021 aufgebaut wurden, um gefährdeten Afghaninnen und Afghanen zu helfen, insbesondere den verletzlichsten, aber auch den am stärksten verfolgten – Journalistinnen und Journalisten, Anwältinnen und Anwälten, Menschen, die für deutsche Einrichtungen gearbeitet hatten.
Und auch wenn einige politische Akteure in meinem Land versuchen, diese Bemühungen zu diskreditieren, möchte ich Sie daran erinnern, über wen wir hier sprechen: die Menschen, die ich gerade erwähnt habe, verletzliche Menschen, Menschen, die vom Regime verfolgt werden. Daher bin ich überzeugt, dass wir das Richtige tun, und zwar nicht nur in Bezug auf das Wohlergehen dieser Menschen, die von den Taliban verfolgt werden, sondern auch im Hinblick auf unsere eigenen Sicherheitsinteressen. Weil wir deutlich machen, dass wir es nicht akzeptieren werden, dass das Taliban-Regime seine eigene Bevölkerung terrorisiert und die Hälfte seiner Bevölkerung zum Schweigen bringt. Weil wir deutlich machen, dass dieses Regime auch für andere eine Bedrohung darstellt. Denn wir tragen Verantwortung für diese Menschen und für die Sicherheit in anderen Teilen der Welt. Denn Menschlichkeit ist unteilbar.
Gleichwohl ist uns bewusst, dass es ein langer und komplexer Prozess ist, die Taliban zur Rechenschaft zu ziehen. Aber in Syrien haben wir gesehen, dass es sich lohnt weiterzumachen, ganz besonders in den dunkelsten Zeiten, damit die Freiheit eines Tages siegt. Deswegen tun wir alles, um den Druck auf das Regime zu erhöhen.
2023 hat die EU entscheidende Akteure des Taliban-Regimes wegen geschlechtsspezifischer Gewalt mit Sanktionen belegt. Im Januar hat der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Haftbefehl gegen zwei hochrangige Taliban-Führer wegen Verfolgung aus Gründen des Geschlechts beantragt – ein Meilenstein im Kampf gegen Straflosigkeit. Und die Initiative, die wir im Rahmen des CEDAW auf den Weg gebracht haben, ist ein weiterer Schritt, um die Misshandlung von Frauen und Mädchen in Afghanistan vor Gericht zu bringen.
Noch haben wir unser Ziel nicht erreicht. Viele von Ihnen haben Familien und Freunde, die genau jetzt unter dem De-facto-Regime leiden. Vielleicht schaffen wir es nicht, den sozialen Kerker, den die Taliban gebaut haben, mit einem Schlag einzureißen. Aber wir werden Ihre Bemühungen unterstützen, die Wände dieses Kerkers aufzubrechen – bis sich eines Tages das Licht wieder Bahn bricht, bis Millionen von zum Schweigen gebrachter afghanischer Stimmen wieder laut und klar in den Straßen von Herat, Kandahar und Kabul erklingen, bis in Afghanistan Frauen und Mädchen endlich wieder frei sind.
(Diese Rede wurde auf Englisch gehalten und ins Deutsche übersetzt) «
Quelle: Bulletin 18-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 6. März 2025