Veröffentlicht am: 25.03.2025 um 18:11 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Festakt „500 Jahre Zwölf Artikel“
» Ich freue mich sehr hier zu sein, an diesem besonderen Ort, in dieser wunderschönen Pfarrkirche St. Martin. Und vor allen Dingen freue ich mich, dabei zu sein, wenn wir heute in Memmingen ein wirklich besonderes Jubiläum feiern – ein Jubiläum, das weit über Ihre Stadt, weit über die Region Oberschwaben hinausstrahlt. Die Zwölf Artikel, die vor 500 Jahren hier entstanden, waren keine Randglosse der deutschen Geschichte, sie waren der Auslöser einer Freiheitsbewegung, die sich im Frühjahr und Frühsommer 1525 wie ein Lauffeuer über ganz Süd- und Mitteldeutschland verbreitete, vom Bodensee bis in den südlichen Harz.
Memmingen war damals, im Zeitalter der Reformation, der Ausgangspunkt eines Massenaufstands für Freiheit und Recht, wie es ihn dann in West- und Mitteleuropa bis zur Französischen Revolution nicht mehr geben sollte. Dass dieses epochale Ereignis nach seiner blutigen Niederschlagung als „Bauernkrieg“ in die Geschichte eingegangen ist, wird seiner eigentlichen Bedeutung nicht gerecht.
Deshalb ist es gut, dass wir in diesem Jahr an vielen Orten unseres Landes an dieses frühe Kapitel unserer Freiheitsgeschichte erinnern. Und deshalb ist es wichtig, dass wir heute hier in Memmingen deutlich machen: Die Zwölf Artikel sind nicht nur ein herausragendes, sondern vor allen Dingen bleibendes Zeugnis unserer Freiheitsgeschichte, ein Dokument von gesamtdeutscher Bedeutung, das uns bis heute viel zu sagen hat.
Ich bin überzeugt: Die Erinnerung an Orte, Akteure, Ideen und Ereignisse unserer Freiheitsgeschichte ist in dieser unruhigen Zeit wichtiger denn je. Denn wir erleben ja gerade, dass die freiheitliche Demokratie bedroht und angegriffen wird – im Innern wie von außen und mit einer Wucht, die viele von uns doch nicht für möglich gehalten hätten. Und wir erleben zugleich, dass sich ausgerechnet diejenigen auf historische Freiheitsbewegungen berufen, die gegen demokratische Institutionen hetzen und Freiheit nur für sich selbst und ihresgleichen gelten lassen wollen.
Gerade jetzt brauchen wir deshalb eine historisch aufgeklärte Erinnerung an die vielen mutigen Frauen und Männer, die in der wechselvollen Geschichte unseres Landes immer wieder gegen Unterdrückung, Bevormundung und Privilegien gekämpft haben. An all jene, die unter großen Opfern für das aufgestanden sind, was heute bei uns Wirklichkeit geworden ist: demokratische Selbstbestimmung mit gleicher Freiheit und gleichen Rechten für alle. Die Erinnerung an sie lässt uns klarer erkennen, was unsere freiheitliche Demokratie heute ausmacht, was für einen Wert sie hat.
Und deshalb ist es so wichtig, dass wir heute gemeinsam an das faszinierende "Projekt Freiheit“ erinnern, das vor 500 Jahren in Ihrer Stadt begann. Haben Sie ganz herzlichen Dank für die Einladung!
Hier an diesem Ort, in der Martinskirche von Memmingen, predigte vor 500 Jahren der Prädikant Christoph Schappeler die neue reformatorische Lehre. Nur ein paar Straßen weiter, im Haus der Kramerzunft am Weinmarkt, versammelten sich im März 1525 die Abgeordneten der Bauern vom Bodensee, aus Baltringen und dem Allgäu, schlossen sich zu einer „christlichen Vereinigung“ zusammen und verabschiedeten eine Bundesordnung. Und zur gleichen Zeit arbeitete der Kürschner, Laienprediger und Autor Sebastian Lotzer die Forderungen der Bauern aus den umliegenden Dörfern zu jenen Zwölf Artikeln um, die dann zur wichtigsten Programmschrift der Aufständischen und zur Initialzündung des Bauernkrieges werden sollten.
Salopp gesagt: Im Anfang war das Wort, und das Wort kam aus Memmingen.
Gutenbergs Erfindung machte es möglich, dass im Frühjahr und Frühsommer bis zu 25.000 Exemplare der Zwölf Artikel gedruckt wurden, zuerst in Augsburg, dann in vielen anderen Städten zwischen Straßburg und Breslau. Schnell wie der Wind breitete sich die anonyme Flugschrift über weite Teile des Heiligen Römischen Reiches aus. Sie wurde auf Märkten verkauft, von Reisenden weitergetragen, in Gasthöfen diskutiert, bei Versammlungen unter freiem Himmel vorgelesen.
Die Botschaften aus Memmingen erreichten Bürger und Stadträte, Untertanen und Obrigkeiten, und überall, vom Breisgau bis in den Thüringer Wald, entfachten sie den Protest für mehr Freiheit. Zehntausende Bauern schworen sich auf die Zwölf Artikel ein, machten sie zu ihrem Programm oder passten sie den örtlichen Gegebenheiten an.
Das Geheimnis ihres Erfolges lag sicherlich darin, dass die Flugschrift nicht nur lokalen Bezug hatte und schon im Titel beanspruchte, für „alle Bauernschaft“ zu sprechen. Auf diese Weise schufen die Zwölf Artikel ein Wir, das es zur Zeit ihrer Abfassung noch gar nicht gab. „Wir, die Bauern“ – das hatte große Kraft, vielleicht so wie später das „We, the people“ in der Verfassung der Vereinigten Staaten.
Brisant war auch, dass gleich in der Einleitung behauptet wurde, die erhobenen Forderungen seien durch das Evangelium und das Wort Gottes gerechtfertigt – es sei denn, man weise den Bauern anhand der Bibel nach, dass sie sich in einem bestimmten Punkt geirrt hätten. Wie groß die Sprengkraft war, die in dieser christlichen Aufladung steckte, zeigt sich besonders im berühmten dritten Artikel: Die Forderung nach Abschaffung der Leibeigenschaft wird dort damit begründet, dass Christus die Menschen „mit dem Vergießen all seines kostbaren Bluts erlöst und freigekauft“ habe, „und zwar den Hirten gleichermaßen wie den Höchsten, niemand ausgenommen. Deshalb ergibt sich aus der Schrift, dass wir frei sind und sein wollen.“
Das konnte man schon damals so lesen, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Da klingt schon sehr früh die Idee der unveräußerlichen Menschenrechte an, die erst Jahrhunderte später Wirklichkeit geworden sind.
Und noch ein bisschen brisanter: Die Zwölf Artikel werfen auch die grundlegende Frage nach der Legitimität von Herrschaft auf – und beantworten sie anders, als Martin Luther es in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ getan hatte. Der Reformator aus Wittenberg wollte Freiheit vor allem als „geistliche Freiheit“ verstanden wissen und forderte den unbedingten Gehorsam gegenüber jeder weltlichen Obrigkeit. Die Bauern stellten in den Zwölf Artikeln zwar klar, dass sie keineswegs „ganz und gar frei“, also ohne Obrigkeit sein wollten. Sie fühlten sich aber nicht jeder Obrigkeit zum Gehorsam verpflichtet, sondern nur derjenigen, die ihr Handeln an Gottes Wort ausrichtet, also zum Beispiel „die Rechte der Nächsten“ achtet und „christlich teilt“.
Auch wenn Schappeler, Lotzer und die Bauern natürlich noch keine Vorstellung vom modernen Staat oder von moderner Demokratie hatten – hier ist in Ansätzen die Idee einer politischen Ordnung zu erkennen, in der auch die Herrschenden das für alle geltende Recht beachten müssen und an es gebunden sind. In einer monarchisch-feudalen Gesellschaft war das eine wahrhaft revolutionäre Idee.
Die Zwölf Artikel hatten auch darüber hinaus Zukunftsweisendes zu bieten, was uns bis heute berührt, vielleicht sogar prägt. Sie enthalten zum Beispiel schon die Idee der gemeindlichen Selbstbestimmung. Sie sprechen sich gegen willkürliche Strafen aus und verlangen schriftlich fixierte Gesetze. Sie wehren sich gegen Ausbeutung und Schinderei und fordern „würdigen“ Lohn. Und sie verlangen, nicht zuletzt, eine gerechte Verteilung von Wäldern, Wiesen und Äckern, von Holz, Fisch und Wild.
Die Zwölf Artikel waren auch deshalb ein so brisantes Dokument, weil sie ganz unterschiedliche Lesarten zuließen. Es ist ein bisschen wie ein Vexierbild, da changiert vieles zwischen Reform und Revolution, zwischen der Rückkehr zu altem Recht und der Vision einer neuen, in „brüderlicher Liebe“ geeinten Welt.
Angesichts der Vielfalt der Akteure dürfen Widersprüche in der Aufstandsbewegung nicht überraschen. Die Aufständischen – Bauern und Tagelöhner, Handwerker und Bürger, niedrige Geistliche und Adlige, fast ausnahmslos Männer – bildeten keine ganz geschlossene Bewegung. Die meisten von ihnen blieben der ständischen Ordnung verhaftet und stellten den Herrschaftsanspruch des Adels nicht in Frage. Manches an ihrem Protest war auch rückwärtsgewandt. Viele Bauernhaufen zelebrierten damals das Männerbündische, und es gab in ihren Reihen auch antiklerikalen und antisemitischen Hass.
Auch in der Frage, ob Gewalt angewendet werden sollte, gab es keine ganz einheitliche Meinung. Sie organisierten und bewaffneten sich – durchaus nicht nur mit Sensen und Dreschflegeln –, zogen trommelnd und pfeifend übers Land, bauten Drohkulissen auf. Sie belagerten, stürmten und plünderten Klöster, gelegentlich auch Adelssitze. Und sie nötigten und zwangen manchen, sich ihnen anzuschließen. Aber die meisten Bauernhaufen waren für Verhandlungen mit den Obrigkeiten und zeigten sich zur Verständigung, zu Kompromissen bereit – auch dafür stehen die Zwölf Artikel und die Memminger Bundesordnung.
Die Gegner der Bauern reagierten trotzdem unerbittlich. Die Zwölf Artikel lösten ein donnerndes publizistisches Echo aus, gerade auch von protestantischen Gelehrten, die ihr Projekt der Reformation gefährdet sahen. Luther, der in seiner „Ermahnung zum Frieden“ Ende April 1525 noch Verständnis für die Forderungen der Bauern erkennen ließ, forderte wenig später in seiner Schrift „Wider die mörderischen und räuberischen Rotten“ die Niederschlagung der Aufstände – und prägte für lange Zeit das öffentliche Bild von den gewalttätigen Bauern.
Dabei war es der Schwäbische Bund, der die militärische Austragung des Konflikts forcierte. Bei Leipheim richtete das Fürstenheer das erste schreckliche Blutbad an, dem viele weitere folgen sollten: Die Bauern und ihre Verbündeten wurden gnadenlos niedergemetzelt, öffentlich enthauptet, an Bäumen aufgeknüpft. Man brannte ihre Dörfer nieder, tötete auch Frauen und Kinder. Bis zu 100.000 Menschen bezahlten damals ihr Streben nach Freiheit mit dem Leben – eine ungeheuerliche Zahl.
500 Jahre danach ist es höchste Zeit, Sebastian Lotzer, Christoph Schappeler und die Bauern, die hier in Memmingen Freiheitsgeschichte schrieben, auf die Landkarte unserer nationalen Erinnerung zu setzen. 500 Jahre danach ist es höchste Zeit, all jene ins Licht zu rücken, die damals für Freiheit und Gerechtigkeit kämpften! Sie bereiteten den Boden, sie legten die ersten Körner jener Saat, aus der viel später unsere freiheitliche Demokratie wachsen konnte. Wir schulden ihnen Anerkennung und Respekt!
Und wir haben noch so viel mehr zu entdecken und wiederzuentdecken! Hier in Memmingen haben Sie gerade eine Flugschrift aus dem Jahr 1525 erstanden, in der ein unbekannter Stadtbürger in Anknüpfung an die Zwölf Artikel seine Vorstellungen von einer Republik formulierte. Und auch in späteren Jahrhunderten entstand vieles, was wir heute zu Unrecht aus dem Blick verloren haben: die frühen demokratische Manifeste, die deutsche Jakobiner im Zuge der Französischen Revolution entwickelten; die liberalen Verfassungsentwürfe aus der Zeit des Vormärz; nicht zuletzt die Forderungen, die vor und während der Revolution von 1848 kursierten.
Ich finde, der Freiheitsbrunnen, den Sie hier in Memmingen auf dem Weinmarkt errichtet haben, der gehört nicht nur in diese Stadt, sondern ich kann mir eigentlich kein stärkeres Symbol vorstellen, denn die frühen Quellen der Freiheit, sie sprudelten überall in unserem Land. Freiheitsideen flossen in vielen Rinnsalen weiter, manche versiegten, andere liefen zu großen Strömen zusammen, die schließlich in Frankfurt am Main, in Weimar, in Herrenchiemsee und Bonn mündeten – in den demokratischen Verfassungen unseres Landes. Und diese Ideen lebten in der DDR wieder auf, als sich die mutigen Frauen und Männer in Plauen, Leipzig, Ost-Berlin und vielen anderen Orten die Freiheit erkämpften – und die freiheitliche Demokratie im geeinten Deutschland möglich machten.
Die Erinnerung an unsere Freiheitsgeschichte macht uns bewusst, was uns als Bürgerinnen und Bürger in diesem Land verbindet und worauf wir wirklich stolz sein können und stolz sein sollten. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir heute die gesamtdeutsche Geschichte der Freiheit erzählen. Der Bauernkrieg mit seinen Schauplätzen in Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen-Anhalt eignet sich dafür ganz besonders gut.
Der Blick zurück lässt uns auch besser verstehen, was wir heute meinen, wenn wir von Freiheit und Demokratie reden. Deshalb brauchen wir historische Bildung, um denen entgegenzutreten, die sich heute zu Unrecht auf historische Freiheitsbewegungen beziehen, um gegen die Demokratie des Grundgesetzes Front zu machen!
Es bleibt doch richtig: Damals riskierten und verloren mutige Menschen ihr Leben im Kampf um die Freiheit. Heute können wir in unserer freiheitlichen Demokratie Protest äußern und friedlich um den richtigen Weg ringen. Das ist der entscheidende Unterschied!
Und wer heute behauptet, Freiheit bestehe darin, dass man sich nimmt, so viel man kann, auch auf Kosten von Dritten, dem müssen wir sagen: „Ich zuerst“ ohne Rücksicht auf andere – das ist nicht die Freiheit, die unser Grundgesetz meint! In unserer Gesellschaft ist die Freiheit des Einzelnen untrennbar mit der Verantwortung für andere und für das Gemeinwesen verknüpft. Und in unserer Demokratie ist die Freiheit der Mehrheit untrennbar mit der Verantwortung verbunden, die Rechte der Minderheit zu achten und zu schützen.
Die Beschäftigung mit den Zwölf Artikeln schärft unseren Blick für Fragen, auf die wir heute Antworten finden müssen. Wo endet die eigene Freiheit, wenn ihr Gebrauch zur Gefahr für andere wird? Wo endet unsere Freiheit, wenn ihr Gebrauch die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört? Dürfen wir unsere Freiheit auf Kosten zukünftiger Generationen ausleben? Und, nicht zuletzt: Wie schützen wir uns und unsere Freiheit – vor denen, die sie, auch ohne Einsatz von Militär, von außen bedrohen, wie schützen wir sie vor den Trollen ebenso wie vor der Kommunikationsmacht der Tech-Giganten?
Die Geschichte liefert uns auf diese Fragen keine fertigen Antworten. Aber sie lässt uns begreifen, dass alles, was wir hier und heute tun oder lassen, Folgen für das Leben von Menschen an anderen Orten und in der Zukunft hat. Sie macht uns bewusst: Wir alle sind aufeinander angewiesen, wir tragen Verantwortung füreinander, für die freiheitliche Demokratie und für eine lebenswerte Zukunft auf unserem Planeten!
Wenn wir auf unsere Freiheitsgeschichte zurückschauen, dann stellen wir – vielleicht sogar ein bisschen erstaunt – fest, was mutige Menschen vor langer Zeit erreicht und errungen haben, allen Enttäuschungen und Rückschlägen zum Trotz. Aus der Erinnerung an ihre Kraft und ihre Entschlossenheit sollten wir heute Mut und Zuversicht schöpfen. Stellen wir uns in ihre Tradition, verteidigen wir heute das, wofür sie damals kämpfen mussten!
Mein Dank gilt den vielen Menschen überall in unserem Land, die die Erinnerung lebendig halten und die vor allen Dingen immer wieder gute Ideen haben, um junge Leute für die Freiheitsgeschichte zu begeistern. Ob in Bund, Ländern oder Kommunen, in Stiftungen, Vereinen oder lokalen Initiativen: Sie alle pflegen die Wurzeln unserer Demokratie, und dafür sage ich Ihnen meinen herzlichen Dank!
Ich wünsche den Landesausstellungen zum Bauernkrieg viele Besucherinnen und Besucher – hier in Memmingen ebenso wie in Bad Schussenried, in Mühlhausen und Bad Frankenhausen, in Mansfeld, in Stolberg oder in Allstedt.
Im März 1525 schrieb der Verfasser der Zwölf Artikel hier in Memmingen: Aus der Heiligen Schrift ergibt sich, „dass wir frei sind und sein wollen“. Dass wir es bleiben, frei bleiben, das liegt heute in unser aller Hand! Begegnen wir den Bedrohungen von Freiheit nicht mit Gleichgültigkeit. Die Freiheitsgeschichte, die hier von Memmingen ausging, verpflichtet uns: Das Erbe der Aufständischen von 1525, das dürfen wir niemals wieder aus der Hand geben! «
Quelle: Bulletin 20-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 18. März 2025