Veröffentlicht am: 14.05.2025 um 20:06 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei einem Festakt zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes DAAD

Bei einem Festakt zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes DAAD hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier am 6. Mai 2025 folgende Rede als Videobotschaft gehalten

» Als Berlin oder vielmehr ganz Deutschland über den Wiederaufbau des Stadtschlosses heftig debattierte, da hatten die meisten das Schloss als einstige Residenz der Hohenzollern vor Augen, als ein Symbol für Militarismus und Kaiserreich. Weitaus weniger präsent war die Geschichte dieses Schlosses nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem Ende der Monarchie in Deutschland. Denn seit 1918 beherbergte es nicht länger gekrönte Häupter, sondern diente als Kultur- und Wissenschaftszentrum. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – heute Max-Planck-Gesellschaft – hatte hier ihren Sitz, ebenso die Deutsche Forschungsgemeinschaft und seit seinem Gründungsjahr 1925 auch der Akademische Austauschdienst (AAD), wie der Vorläufer des DAAD damals noch hieß.

Zum 100. Geburtstag sind Sie also an Ihren Ursprungsort zurückgekehrt, an einen Ort, der heute zudem den Namen der beiden großen Gelehrten Alexander und Wilhelm von Humboldt trägt – zwei Wissenschaftler, die wie kaum andere aus ihrer Zeit dafür stehen, dass exzellente Forschung nicht an Landesgrenzen Halt macht. Was könnte besser zum DAAD passen?

Seit 100 Jahren fördert der DAAD den internationalen Austausch von Studierenden und Lehrenden, stärkt die internationale Zusammenarbeit von Hochschulen und unterstützt Länder beim Aufbau eines Wissenschaftssystems, die das aus eigener Kraft so nicht leisten könnten. Es ist eine echte Erfolgsgeschichte. Ich gratuliere dem Präsidenten, Ihnen, lieber Herr Mukherjee, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Alumni und den Stipendiatinnen und Stipendiaten ganz herzlich zum 100. Geburtstag des DAAD! Herzlichen Glückwunsch Ihnen allen!

Die Gründung des DAAD verdanken wir nicht weitsichtigen Bildungspolitikern oder einem Mäzen. Nein, wir würden heute wohl eher von einem Bottom-up-Ansatz sprechen. Es waren US-amerikanische Studenten – das sollten wir in diesen Zeiten nicht vergessen – und ein weltoffener, neugieriger Student in Heidelberg, die den Grundstein legten. Carl Joachim Friedrich, der in Heidelberg Sozial- und Staatswissenschaften studierte, folgte einer Einladung eben dieser amerikanischen Studenten und machte 1922/23 eine Rundreise durch die USA. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland ließ ihn die Idee des akademischen Austauschs nicht mehr los, und er suchte sich Partner und Mentoren.

Die Zeit dafür war günstig: Nach Novemberrevolution, Kapp-Putsch und Straßenkämpfen hatte sich die politische Lage wieder etwas beruhigt. Die erste deutsche Demokratie schien sich zu festigen und suchte ihren Platz in der Nachkriegswelt. Politischer und akademischer Austausch waren Teil dieser Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Nach ersten Stipendien für Sozial- und Staatswissenschaftler wurde schließlich im Januar 1925 der Akademische Austauschdienst gegründet. Mit der Übersiedlung des AAD nach Berlin – hier an diesen Ort – wurde der akademische Austausch auf alle Fächer ausgeweitet. Studierende und Wissenschaftler aller Disziplinen können heute in den Genuss von Förderung durch den DAAD kommen. Das ist wichtig für die internationale Wissenschaftskooperation, aber auch jenseits davon, denn es ist in den internationalen Beziehungen häufig die Wissenschaft, die vorangeht, die die ersten Türen öffnet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Wiedergründung des DAAD wurde 1952 auch die DAAD-Außenstelle in London wiedereröffnet – drei Jahre vor der deutschen Botschaft in Großbritannien. Auch die deutsch-israelische Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung seit Ende der 1950er Jahre gilt als Wegbereiter der diplomatischen Beziehungen unserer beiden Länder, die vor ziemlich genau 60 Jahren aufgenommen wurden. Ich freue mich sehr, dass wir das in wenigen Tagen gemeinsam würdigen werden, erst hier in Berlin und dann in Israel.

Der weltweite Austausch von Ideen und Forschungsdaten, Debatten mit Fachkollegen aus anderen Ländern, internationale Forschungsprojekte – all das gehört zum Wesenskern von Wissenschaft. Wissenschaft ist nicht unpolitisch, hat aber Freiheiten, die Menschen in politischen Ämtern nicht immer haben. Jenseits eines offiziellen Protokolls und unterhalb diplomatischer Beziehungen sind es oft Wissenschaftler verschiedener Länder, die eng zusammenarbeiten. Damit mutiert der wissenschaftliche und akademische Austausch noch nicht zur Außenpolitik – und soll es auch nicht. Aber es ist von Bedeutung gerade dann, wenn die politischen Beziehungen zwischen Staaten an Verlässlichkeit einbüßen. Diese internationalen Kontakte, die oft auch halten, wenn andere Fäden gerissen sind – sei es durch Kriege oder Staatskrisen –, diese Außenwissenschaftspolitik ist auch die DNA des DAAD. „Die Welt zu Gast bei Freunden“, das Motto der Fußball-WM 2006, könnte auch Ihr Motto sein – und umgekehrt sind durch Sie Deutsche in vielen Teilen der Welt zu Gast. Mit Ihrer Arbeit dienen Sie der Völkerverständigung. Das kann und wird Deutschland weiterhin stärken.

Diesen Mehrwert für unser Land kann ich aus eigener Erfahrung meines politischen Lebens bezeugen. Unzählige Male bin ich in den letzten 20 Jahren mit Ihren Präsidenten, zunächst Herrn Hormuth, dann Frau Wintermantel und seit geraumer Zeit mit Ihnen, Herr Mukherjee, in der Welt unterwegs gewesen. Ich habe erlebt und erlebe weiterhin, wie akademischer Austausch Menschen aus allen Kontinenten zu Freunden, ja Botschaftern unseres Landes macht, von denen uns viele lebenslang verbunden bleiben. Beispiele dafür gibt es zahllos. Wenn ich etwa an meinen Staatsbesuch 2020 in Kenia zurückdenke, auf dem Sie, lieber Herr Mukherjee, mich begleitet haben: Wir trafen dort den damaligen Vizepräsidenten Kenias, William Ruto. Auch er ist ehemaliger DAAD-Stipendiat und war in den 1990er Jahren zu Gast in Deutschland – ein Beispiel, das für viele andere steht. Mittlerweile ist William Ruto Staatspräsident und war zu unserer großen Freude im vergangenen Jahr auf dem Bürgerfest im Schloss Bellevue unser Ehrengast.

Wenn eine Institution in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feiert, ist das in Deutschland notwendigerweise mit der Frage verbunden, welche Rolle sie im Nationalsozialismus zu übernehmen hatte. Was blieb von der Gründungsidee des DAAD? Konnte akademischer Austausch in der Ideologie des „Herrenvolkes“ überleben? Wenn ja, wie? Der DAAD hat sich seiner Geschichte gestellt und offengelegt, dass die Arbeit des DAAD zwar nicht eingestellt wurde, aber in der NS-Zeit ganz anderen Zielen zu dienen hatte. Bald nach der Machtübernahme ging es nicht mehr um Zusammenarbeit, sondern um deutsche Hegemonialinteressen. Die Organisation, die 1930 noch den späteren Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer mit einem USA-Stipendium gefördert hatte, wurde nach 1933 Teil des Räderwerks der Diktatur. Stipendien wurden nach brauner Gesinnung und rassistischen Kriterien vergeben. Zu den Ländern, die fortan als Feinde galten, brach der Kontakt ab.

Dass Sie sich kritisch mit diesem Teil der Vergangenheit des DAAD auseinandergesetzt haben, war wichtig. Die Anfälligkeit auch von Wissenschaftlern für eine menschenverachtende Ideologie, ihre Bereitschaft zur Anpassung und zur Unterwerfung, all dies darf nicht vergessen werden. Denn der Blick zurück schärft unser Gespür für aktuelle Bedrohungen und zeigt uns: Gerade weil Wissenschaft frei sein soll, darf sie gegenüber Diktatur und Menschenverachtung niemals unpolitisch sein!

Dass Briten und Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg und der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus die Initiative für eine Neugründung des DAAD ergriffen, das war wirklich ein großes Glück für unser Land. Angesichts der tiefen Schuld, die Deutschland durch die Verbrechen in der NS-Zeit auf sich geladen hatte, war dieser Schritt der westlichen Alliierten alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Seit der Neugründung des DAAD vor 75 Jahren ist eines immer wieder deutlich geworden: Selbstverständlich sind weder die Freiheit von Forschung und Lehre noch der freie internationale akademische Austausch. Das spiegelt sich schon allein in den vielen Sonderprogrammen des DAAD wider – ich denke an das Ungarn-Programm nach dem Aufstand von 1956, an das Hilde-Domin-Programm für Akademiker aus Krisenregionen und autoritären Staaten, an das Sonderprogramm für syrische Studierende, an Stipendien für afghanische Frauen oder Programme für Ukrainer nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs 2022. Immer wieder setzt sich der DAAD genau dort ein, wo Wissenschaftler nicht mehr unabhängig arbeiten können, wo ihnen Verfolgung droht, wo sie entrechtet und ihrer Freiheit beraubt werden. Und dafür danke ich Ihnen sehr!

Staatliche Eingriffe in die Freiheit von Forschung und Lehre, diese Bedrohung ist leider auch heute aktuell – und das nicht nur in autoritären Regimen wie Russland oder China, sondern mitunter auch in freiheitlichen Demokratien. Gerade der Blick in die USA ist zutiefst beunruhigend, wo die neue US-Administration in großem Stil Gelder für Wissenschaft und Forschung streicht und Universitäten massiv unter Druck setzt. Die Nachrichten Ihrer Kolleginnen und Kollegen von Harvard, Columbia, Yale und anderen Einrichtungen werden Sie täglich erreichen.

Umso wichtiger ist es, dass die Wissenschaft gerade jetzt ihre internationale Zusammenarbeit fortsetzt, dass sie Kolleginnen und Kollegen in bedrohten Disziplinen mit ihren Möglichkeiten unterstützt und Solidarität zeigt. Sie, der DAAD, sind dabei ein Vorbild! Nicht Brain Drain sollte das Ziel sein, sondern Brain Circulation: Wir halten so lange an der Idee von Kooperation und Austausch fest, wie das möglich und vertretbar ist. Wir bieten gefährdeten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Zuflucht, wenn es gar nicht mehr anders geht, aber stärken, soweit wie möglich, zugleich die unabhängige Wissenschaft in den jeweiligen Ländern – und halten umgekehrt für Studierende und Lehrende aus Deutschland den Weg in die Welt offen.

Der DAAD ist ein Think Tank für gelebte Wissenschaftsfreiheit. Gerade jetzt brauchen wir Institutionen wie die Ihre, die das freie und unabhängige Denken, Forschen und Lehren verteidigen und stärken. Gerade jetzt ist das Aufgabe und Verpflichtung für Deutschland und für Europa!

Die Arbeit des DAAD geht längst weit über die Vermittlung von Stipendien hinaus. Sie haben viele Länder des Globalen Südens beraten und tun es weiterhin, um dort eine Hochschullandschaft aufzubauen. Sie stärken damit regionale Strukturen. Und Sie sind auch ein hervorragender Repräsentant unseres Landes, denn die Menschen vor Ort erleben den DAAD als verlässlichen Partner mit hohem Know-how. Dieses positive Image kommt auch ganz Deutschland zugute. Und natürlich profitieren nicht nur die jeweiligen Länder, sondern auch wir davon, wenn in anderen Ländern auf hohem Niveau geforscht wird und junge Menschen gut ausgebildet werden, wenn dort Perspektiven für sie für eine berufliche Zukunft entstehen.

Seit 1925 sind rund drei Millionen Menschen vom DAAD gefördert worden. Was für eine Zahl! Sie sind damit die weltweit größte Förderorganisation für den internationalen Austausch von Studierenden und Wissenschaftlern. Darauf können wir, darauf können vor allem Sie stolz sein!

In einer Zeit, in der wir eine neue Faszination des Autoritären erleben, in der der Nationalismus auch in Europa wieder grassiert und sich neue Gefahren für die Freiheit der Wissenschaft auftun, ist unabhängiges Denken über alle Grenzen hinweg, sind der DAAD und seine Arbeit so wichtig wie nie zuvor! Gäbe es ihn nicht, man müsste ihn heute erfinden!

Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre wichtige Arbeit und wünsche dem DAAD weiterhin viel Erfolg und, lieber Herr Präsident, gerne auch weitere Entdeckungsreisen gemeinsam in der Welt. «


Quelle: Bulletin 30-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 8. Mai 2025

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