Veröffentlicht am: 09.09.2022 um 07:03 Uhr:

Bundesregierung: Rede der Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas, zum Gedenken an Michail Sergejewitsch Gorbatschow vor dem Deutschen Bundestag

Zum Gedenken an Michail Sergejewitsch Gorbatschow hat die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas, nachfolgende Rede vor dem Deutschen Bundestag am 7. September 2022 in Berlin gehalten...

» Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir trauern um Herrn Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der am 30. August verstorben ist.

Präsident Gorbatschow war ein Mann des Friedens. Er veränderte die Welt. Zum Besseren. Er machte möglich, was über Jahrzehnte undenkbar schien: den Kalten Krieg friedlich zu beenden und die Teilung unseres Landes und unseres Kontinents zu überwinden.

Wir Deutschen haben Michail Gorbatschow viel zu verdanken. Er hat die Geschichte unseres Landes und das Leben von Millionen Menschen verändert. Sein Mut und seine Haltung waren entscheidend für die Wiedererlangung unserer staatlichen Einheit – diesen einzigartigen und großen Moment unserer Geschichte. Das werden wir nicht vergessen.

Er war Wegbereiter der Wiedervereinigung. Mit seinem unverhofften Aufbruch in eine neue Politik hat er den Menschen in der DDR Mut gemacht, sich selbst zu ermächtigen. Glasnost und Perestroika – warum sollte das nicht auch in der DDR möglich sein? Auch sein Besuch in Ostberlin im Oktober 1989 zum 40. Staatsjubiläum der DDR trug dazu bei, dass die Deutschen in der DDR gegen die SED-Diktatur aufbegehrten.

Als Frauen und Männer 1989 in immer größerer Zahl in Plauen, in Leipzig, in Ostberlin, in Dresden, in Schwerin, in Magdeburg und an vielen anderen Orten in der DDR auf die Straße gingen, fragten sich viele: Werden wieder Panzer rollen? Doch die sowjetischen Soldaten blieben in ihren Kasernen. Das Ende der DDR und die deutsche Wiedervereinigung erfolgten friedlich. Die US-amerikanische Publizistin Anne Applebaum schrieb: „Gorbatschows radikalste Handlung war der Verzicht auf Gewalt.“

Gorbatschow versuchte letztlich nicht, das Sowjetimperium mit militärischer Gewalt oder nuklearen Drohungen zusammenzuhalten. Oder sich selbst mit Gewalt an die Macht zu klammern. Seine Politik des erklärten Gewaltverzichts und seine Aufgabe des Moskauer Herrschaftsanspruchs gegenüber den Satellitenstaaten stärkten die Bürgerrechtsbewegungen in Mittel- und auch Osteuropa. Seine Entscheidungen führten zur Freiheit für viele Millionen Menschen. Michail Gorbatschow selbst sagte dazu 1999, zehn Jahre nach dem Mauerfall, hier an diesem Rednerpult: „[...] die Tatsache, dass die Wiedervereinigung gerade damals und gerade auf diese Art und Weise stattgefunden hat, ist ein Verdienst der Völker selbst.“

Die Warschauer-Pakt-Staaten sollten selbst über ihren Weg entscheiden können. 1989 und 1990 respektierte Gorbatschow ausdrücklich das Selbstbestimmungsrecht der Völker. „Der Kalte Krieg ist zu Ende“, verkündete er im Dezember 1989 bei seinem Treffen mit US-Präsident George Bush vor Malta. Bei seinem Gipfeltreffen mit Helmut Kohl im Nordkaukasus im Sommer 1990 stimmte er auch der Nato-Mitgliedschaft des künftigen wiedervereinigten Deutschlands zu.

Am Ende eines von zwei Weltkriegen, der Blockkonfrontation und der nuklearen Abschreckung geprägten Jahrhunderts erlebten wir einen friedlichen Wandel, der für mich im historischen Rückblick ehrlicherweise ein ganz großes Glück war. Insbesondere für unser Land. Ein Glück, für das wir Michail Gorbatschow dankbar bleiben werden.

Mit seiner Versöhnungsbereitschaft leistete er Unschätzbares für die historische Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen. Die Frage nach den künftigen deutsch-sowjetischen Beziehungen bewegte ihn, wie er auch 1990 immer wieder an Helmut Kohl schrieb. Auch wir in Deutschland haben uns eine vertrauensvolle Partnerschaft mit Russland gewünscht. Ich sage mit großem Bedauern, dass eine Partnerschaft mit Russland derzeit nicht möglich ist.

Gorbatschow bezeichnete Vertrauen als den „wichtigsten Faktor in der Weltpolitik“. Mit Vertrauen veränderte er die Welt. Sein Vertrauen zu Bundeskanzler Kohl und auch zu Deutschland öffnete den Weg zur Einheit unseres Landes. Für mich war er einer der großen Vertrauensstifter des vergangenen Jahrhunderts.

Dialog und Vertrauen. Das war die Grundlage seines politischen Handelns. Er hatte den Mut, eingefahrene Wege zu verlassen, die sich als Sackgassen erwiesen. Er baute Vertrauen auf zu US-Präsident Reagan. Und er setzte Vertrauen an die Stelle von Abschreckung und Konfrontation. Das war eine radikale Kursänderung. Dieses Vertrauen wuchs auch, als Gorbatschow von Kompromissen sprach. Diese Vokabel hatte man vorher selten aus Moskau gehört. So brach er ausweglos erscheinende Konflikte auf.

Gorbatschow brachte ein neues Denken in den Kreml. Er suchte die Abkehr vom Gleichgewicht des nuklearen Schreckens. Mit dem INF-Vertrag über die Vernichtung der atomaren Mittelstreckenwaffen läuteten Gorbatschow und Reagan 1987 das Ende des nuklearen Wettrüstens zwischen den Großmächten ein. Mit der Abrüstung wurde der Weg zum friedlichen Ende des Kalten Krieges bereitet. Nach vier Jahrzehnten Ost-West-Konfrontation in Europa! Für seine Abrüstungspolitik und für seinen neuen Weg in der Außenpolitik erhielt Gorbatschow 1990 den Friedensnobelpreis.

Als Gorbatschow 1985 an die Spitze der Sowjetunion aufstieg, befand sich das Land bereits im Niedergang. Seine Bürgerinnen und Bürger lebten in Resignation. Gorbatschow wollte mit Reformen das Leben der Sowjetbürger verbessern, den Sozialismus weiterentwickeln, ihm ein menschliches Antlitz geben.

Er wollte die Angst in der Beziehung zwischen dem Volk und der Staatsführung ersetzen durch Dialog. Auf einmal mischte sich dieser junge Staatsmann bei seiner ersten Dienstreise in das damalige Leningrad unters Volk. Er fragte die Menschen nach ihren Sorgen und Problemen. Und er versprach Änderungen. Seine Offenheit und sein aktives Werben um die Bevölkerung waren geradezu unerhört. Hatte doch das Volk in Angst vor der Macht gelebt und die Macht in Angst vor dem Volk.

„Glasnost“ und „Perestroika“ gingen in den internationalen Sprachgebrauch ein. Die neuen Freiheiten weckten große Hoffnungen. Nun konnte man in der Sowjetunion frei sprechen – ohne Haft befürchten zu müssen. Sogar über die Verbrechen des Stalinismus und den Gulag wurde gesprochen. Archive wurden geöffnet. Neue Zeitungen, Bücher, Erinnerungen erschienen.

Doch den Niedergang des kolonialen Imperiums konnte Gorbatschow nicht mehr aufhalten. Die Sowjetunion war nicht mehr reformierbar. Gorbatschow, der Schritt für Schritt vorgehen wollte, entglitt die Kontrolle über sein eigenes Land. Im August 1991 wurde gegen ihn geputscht. Die Völker der Sowjetunion strebten nach Freiheit und Unabhängigkeit. Am 25. Dezember 1991 löste sich die Sowjetunion auf.

Es gibt wohl wenige Politiker, die in Deutschland so sehr verehrt wurden wie er. Und wir werden ihn als großen Freiheitsgeber in Erinnerung behalten. Die sehr unterschiedlichen Reaktionen in Russland, Mittel- und Osteuropa und auch in Deutschland nach seinem Tod zeigen nicht nur die Vielschichtigkeit seines Wirkens. Sie zeugen auch von grundlegenden Missverständnissen und der Tragik seines politischen Lebens. Er wurde einsam im eigenen Land.

In Russland werden ihm der Zerfall des Sowjetimperiums und die Not der 90er-Jahre angelastet. Er litt unter dieser Entfremdung von seinem eigenen Volk. Im Südkaukasus und im Baltikum erinnert man sich schmerzhaft an das brutale Vorgehen gegen friedliche Demonstranten 1989 in Tiflis, den Schwarzen Januar 1990 in Aserbaidschan und den Blutsonntag von Vilnius 1991 während seiner Amtszeit.

Es fand später – trotz aller Bewunderung und Dankbarkeit – auch eine gewisse Entfremdung mit dem Westen statt, etwa in der Bewertung der russischen Außenpolitik von Putin. Gorbatschow war vom Westen durchaus auch enttäuscht. Er machte es sich dabei aber nicht leicht; er zog sich nicht zurück, sondern engagierte sich weiter.

Gorbatschows Verdienste um das Ende des Kalten Krieges und die Wiedervereinigung unseres Landes und unseres Kontinents bleiben einzigartig. Die unterschiedlichen Reaktionen zeigen aber - wie Reinhard Veser in der „FAZ“ vergangene Woche anmerkte -, welche Missverständnisse und Enttäuschungen seit Jahren zwischen Russland und dem Westen bestehen.

Gerade wir Deutschen haben zu lange Gorbatschows Streben nach Verständigung, Frieden und Partnerschaft als Grundlage unserer Beziehungen mit Russland vorausgesetzt. Dabei haben wir übersehen oder vielleicht auch nicht wahrhaben wollen, dass sich Russland unter Putin längst und radikal von Gorbatschows Zielen abgewandt hatte.

Die Entwicklung in seiner Heimat besorgte Gorbatschow. Er rief die Regierenden in Russland auf, keine Angst vor den Menschen zu haben und auch ihre Freiheit nicht zu unterdrücken. Gleichzeitig setzte er Vertrauen in die russische Zivilgesellschaft – besonders in die jungen Menschen. „Russlands Zukunft kann nur Demokratie bedeuten“, schrieb er 2019. Gorbatschow war trotz aller Rückschläge und Defizite zutiefst davon überzeugt, dass es letztlich kein Zurück zur totalitären Vergangenheit gebe. Er war sich sicher, dass nur eine demokratische Entwicklung seinem Land eine Zukunft bieten kann.

Vor wenigen Jahren sagte Michail Gorbatschow in einem Interview: „Wir wollten die Mauer des Misstrauens zwischen Ost und West beseitigen, überhaupt jede Mauer zwischen Staaten, zwischen Völkern, zwischen Menschen.“

Zwischen Russland und Europa klafft heute ein tiefer Graben, dort, wo nach Gorbatschows Vision ein gemeinsames europäisches Haus entstehen sollte. Mit Russland und mit einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur. Im Juni 1990 schrieb er an Helmut Kohl, dass die Überwindung des Blocksystems und die Gestaltung neuer Sicherheitsstrukturen im gesamteuropäischen Geiste zu suchen sei. Es ist Russland, das unter Putin mit diesem Geist gebrochen hat. Und das ist ein tragischer Fehler. Es ist Russland, das die Ukraine angreift und mit Waffengewalt die europäische Friedensordnung zerstört.

Gorbatschow war ein Mann des Friedens. Als Kind hatte er den Zweiten Weltkrieg erlebt. Und er wollte die Welt von ihrer größten Bedrohung befreien. Immer wieder mahnte er zur atomaren Abrüstung und warnte eindringlich vor der Gefahr eines neuen Krieges. Eine neuerliche Konfrontation Russlands mit dem Westen blieb bis zuletzt seine größte Sorge.

Michail Gorbatschow stand für Gewaltverzicht, für Freiheit und für die Selbstbestimmung der Völker. Er stand für eine Weltordnung, in der Staaten durch Dialog und auf Grundlage des Rechts Konflikte beilegen und gemeinsame Lösungen für globale Probleme suchen. Es schmerzt uns zutiefst, dass alles, wofür er stand, heute auf so eklatante Weise verletzt und zerstört wird.

Gorbatschows Mut kann uns aber auch in diesen dunklen Stunden Zuversicht vermitteln für die großen Herausforderungen, vor denen wir jetzt stehen. Er war Humanist. Er glaubte an die Menschen und ihre Möglichkeiten. „Man kann, wenn man will“, betonte er immer wieder. Selbst unter schwierigen Bedingungen lassen sich, so meinte er, neue Lösungen im Interesse der Weltgemeinschaft finden. Man darf nicht aufgeben. Und sein Handeln war das beste Beispiel dafür.

Die Welt muss nicht bleiben, wie sie ist. Auch nicht nach diesem brutalen Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt. Es kann ein besseres Morgen, ein besseres Übermorgen geben. Aber der Weg dahin wird sicherlich lang und auch steinig. Wir brauchen mutige Menschen, die für eine friedliche, gerechte und nachhaltige Welt bereit sind, Risiken einzugehen und eingetretene Pfade zu verlassen, die bereit sind, neu zu denken – und neu zu handeln, Politiker und Persönlichkeiten wie Michail Sergejewitsch Gorbatschow.

Mit ihm verliert das deutsche Volk einen treuen Freund. Ich verneige mich vor dem großen Weltveränderer und dem großartigen Menschen.

Ich möchte Sie jetzt bitten, sich als Zeichen des Respekts, unserer Dankbarkeit und unserer Trauer im Gedenken an Michail Gorbatschow für eine Schweigeminute von den Plätzen zu erheben. «


Quelle: Bulletin 107-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 8. September 2022

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