Veröffentlicht am: 30.11.2023 um 14:29 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur Vorstellung der Studie zum Umgang mit der NS-Zeit
» Als vor fast vierzig Jahren in der alten Bundesrepublik der sogenannte Historikerstreit geführt wurde, ging es nicht nur darum, wie singulär der Holocaust in der Weltgeschichte gewesen war. Es ging auch um dessen Bedeutung für das Selbstverständnis der Deutschen in der Nachkriegsdemokratie. Sollten die Deutschen ihre Geschichte nur als Quelle von nationalem Stolz und Selbstbewusstsein verstehen? Oder sollte der Zivilisationsbruch des Holocaust zentraler Anknüpfungspunkt für ein neues, demokratisches Selbstverständnis sein?
Sie alle kennen die klare Antwort auf diese Fragen: Der Holocaust ist untrennbar mit uns verbunden. Unsere Demokratie lebt vom Wissen um ihre Vorgeschichte, ja sie braucht dieses Wissen geradezu. Denn das Vergangene ist niemals vorbei, es gibt keinen Schlusspunkt zwischen dem was war und dem, was heute ist. Die Vergangenheit prägt die Gegenwart. Und sie bildet das Fundament, auf dem unsere demokratische Gesellschaft ihre Zukunft baut.
Es war Jürgen Habermas, der im damaligen Historikerstreit einen Patriotismus der Werte einforderte – jener Werte, die unsere Verfassung, das Grundgesetz, bis heute prägen: das Bekenntnis zur Menschenwürde; die Offenheit für die europäische Integration; die Etablierung einer liberalen, aber wehrhaften Demokratie. Wer sich heute des Historikerstreits erinnert, der kann ermessen, wie lang der Weg und wie groß die Widerstände gewesen sind, bis die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und mit deutscher Schuld zu einem festen Bestandteil unseres nationalen Selbstverständnisses geworden ist.
Warum erzähle ich Ihnen das heute, fast vier Jahrzehnte später? Weil im Augenblick auch in unserer Demokratie wieder politische Kräfte erstarken, die Geschichte verkürzen und verdrehen, in ihrem Sinne „begradigen“. Weil schon wieder ein Ende des angeblichen „Schuldkults“ gefordert wird. Weil auch in unserem Land der Holocaust relativiert wird. Weil Hass und Hetze die von Verantwortung geprägte öffentliche Debatte zuweilen verdrängen. Und weil die Grenzen des Sagbaren von einigen ganz bewusst in Richtung des Unsäglichen verschoben werden.
Demokratie ist kein Zustand. Sie ist nie fertig, immer im Werden und nie auf Ewigkeit garantiert. Unsere Demokratie lebt nicht aus den Artikeln des Grundgesetzes, sondern weil sie von den Bürgerinnen und Bürgern gewollt und gelebt wird. Dazu gehört, sie gegenüber denjenigen zu verteidigen, die Demokratie bedrohen oder sogar verachten – und sich immer im Klaren darüber zu sein, welcher Chiffren sich die Demokratieverachtung bedient.
Oder wie es in einem klugen Essay aus dem Jahr 2019 heißt: „Wer die jüngsten Erfolge der Rechtspopulisten verstehen will, tut gut daran, sich zu vergegenwärtigen, unter welchen Bedingungen nach 1945 rechte Denkmuster verfangen und Anhänger finden konnten […] Schaut man genauer hin, haben sich die alten Sprüche über die Jahrzehnte kaum verändert. Neu aber ist, dass und in welchem Ausmaß die unermüdlich recycelten Forderungen nach ‚Schlussstrich‘ […], nach einer heilen Geschichte, einer ‚reinen‘ Nation […] auf Resonanz stoßen.“ Geschrieben hat diese Zeilen damals: Professor Norbert Frei.
Ich freue mich, Sie heute hier in Schloss Bellevue begrüßen zu dürfen. Das Buch, das Sie, lieber Professor Frei, uns heute vorstellen – „Im Namen der Deutschen. Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit“ –, ist der Abschluss und das Ergebnis einer dreijährigen Forschungsarbeit. Einer Arbeit, die sich mit der Vergangenheit beschäftigt und gerade deswegen so bedeutsam für unsere Gegenwart ist. Sie, lieber Professor Frei, sind mit Ihrem Team in die Archive gestiegen, Sie haben Akten, Briefwechsel, Redeentwürfe, Vermerke und Vorlagen durchforstet. Ich bin Ihnen dafür sehr dankbar.
Viele Ministerien und Behörden haben in den vergangenen Jahren ihren Umgang mit dem Nationalsozialismus in der jungen Bundesrepublik wissenschaftlich untersuchen lassen, und für mich war klar, dass gerade das Amt des Staatsoberhauptes sich hier nicht der Aufgabe entziehen darf. Wie blickten die ersten Bundespräsidenten unseres Landes auf die Zeit des Nationalsozialismus – und auch auf ihre eigene biographische Vergangenheit? Wie äußerten sie sich zu Tätern und Taten, wie haben sie darüber gesprochen in Reden, bei Staatsbesuchen oder an Gedenktagen? Wie erinnerten sie der Opfer deutscher Verbrechen? Wie gingen sie bei Ordensverleihungen mit der NS-Vergangenheit von Auszuzeichnenden um? Welche Kontinuitäten gab es vor und nach 1945? Und wie sehr waren die Staatsoberhäupter Antreiber oder Getriebene der gesellschaftlichen Entwicklung? Auf all diese Fragen geben Ihre Forschungen, lieber Professor Frei, eine wissenschaftliche Antwort.
Für den Bundespräsidenten ist es eine besondere Verpflichtung, sich der Geschichte dieses Amtes zu stellen. Ein Bundespräsident soll Orientierung geben, auch für die Zukunft unserer Gesellschaft. Und dafür ist die Beschäftigung mit der Vergangenheit – und, wie ich finde, auch mit der Vergangenheit des Bundespräsidialamtes – unabdingbar. Die historische Verantwortung endet ja nicht vor der eigenen Tür. Deshalb war es überfällig, 2019 dieses Forschungsprojekt zu initiieren: eine unabhängige Untersuchung, die über eine reine Behördengeschichte und die Erforschung möglicher personeller und ideeller Kontinuitäten oder Brüche mit der NS-Zeit hinausgehen sollte und die im Idealfall eine Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus erzählt.
Ich freue mich sehr, dass der Auftrag für dieses Projekt nach einem zweistufigen Auswahlverfahren an Sie gegangen ist. Denn wie sagte Jürgen Habermas einmal über Sie: In Ihrer Person vereinige sich „der um Versachlichung und Objektivität bemühte Zeithistoriker mit dem politisch engagierten Aufklärer“. Wie recht er damit hat!
Danken möchte ich auch den Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats, die uns bei diesem Projekt, angefangen mit der Auswahlentscheidung, unterstützt und beraten haben. Mein Dank gilt Frau Professorin Gabriele Metzler und Frau Professorin Sybille Steinbacher, Herrn Professor Anselm Doering-Manteuffel, Herrn Dr. Thomas Hertfelder und Herrn Professor Michael Hollmann.
Als Theodor Heuss am 12. September 1949 zum ersten Bundespräsidenten gewählt wurde, lagen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, der Zweite Weltkrieg und der Zivilisationsbruch der Shoah erst vier Jahre zurück. Doch bereits bei seiner Antrittsrede hatte Heuss es mit einer Öffentlichkeit zu tun, die mehr oder weniger lautstark einen „großen Schlussstrich“ forderte. In seiner Rede griff Heuss diesen Wunsch einerseits auf, indem er von der „Vergangenheit, die jetzt hinter uns liegt“, sprach. Andererseits beklagte er sehr deutlich, „dass manche Leute in Deutschland […] zu rasch vergessen wollen“.
Vieles von dem, was man damals „Vergangenheitsbewältigung“ nannte und was wir heute als Erinnerungskultur bezeichnen, geht auf die Reden und das Wirken von Theodor Heuss zurück. Er prägte das Wort von der „Kollektivscham“. Er nutzte den Volkstrauertag im November 1952 dafür, im Bundestag nicht nur der deutschen Kriegstoten, sondern ausdrücklich der ermordeten Juden und KZ-Opfer zu gedenken. Und als er im selben Jahr, nur wenige Wochen später, bei der Eröffnung der KZ-Gedenkstätte in Bergen-Belsen sagte: „Wir haben von den Dingen gewusst“, da war das für viele eine Provokation.
Die „glaubwürdige Verkörperung […], aus der Vergangenheit lernen zu wollen“, das sei, so schreibt Professor Frei in der nun vorliegenden Studie, „die unabschließbare Aufgabe präsidialen Handelns“. Alle sechs Bundespräsidenten der alten Bundesrepublik – Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel, Karl Carstens und Richard von Weizsäcker – haben sich, ungeachtet mancher Unterschiede im persönlichen Stil, dieser Aufgabe gestellt und stellen müssen. Wer dabei Tempomacher, wer bloßer Routinier oder sogar Bremser gewesen ist, das wird uns Professor Frei gleich näher auseinandersetzen.
Ich kann und will dem nicht vorgreifen, aber da ich das Privileg hatte, schon einen Blick in dieses Buch werfen zu können, möchte ich Ihnen doch einen für mich wesentlichen Eindruck schildern: Manches Bild wird beim genaueren Hinschauen auf einmal vielfältiger und auch kontrastreicher. Heinrich Lübke etwa war von den Nazis mehr als eineinhalb Jahre in Haft gehalten worden und traf als Bundespräsident manche Entscheidung, die man angesichts des Zeitgeistes der frühen 1960er Jahre so nicht vermutet hätte.
„Eine Geschichte von Schuld und Scham, von Vergessen und Vergegenwärtigung“ nennt Professor Frei sein nun vorliegendes Buch. Ein wichtiger Teil dieser Geschichte sind auch die damaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundespräsidialamtes. Ihre politische Herkunft, ihre Einstellungen und ihre Vergangenheit konnten und durften bei einer so grundlegenden Untersuchung nicht unberücksichtigt bleiben. Wie hatten sie die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft erlebt? Wie hat ihr persönlicher Werdegang ihre spätere Arbeit für die Bundespräsidenten geprägt? Auch die Antworten auf diese Fragen gehören zu einer Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus dazu.
Gerade in dieser Zeit, in der unsere Demokratie so sehr angefochten ist, müssen wir uns als Gesellschaft unserer Geschichte bewusst sein. Denn was sich nicht wiederholen soll, darf auch nicht vergessen werden. Das „Nie wieder!“ ist viel mehr als das moralische Fundament unserer liberalen demokratischen Gesellschaft. Es ist ein Auftrag an alle Generationen, an die heutige ebenso wie an alle künftigen.
Und nun darf ich Herrn Professor Frei bitten, uns die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit zu erläutern.
Vielen Dank. «
Quelle: Bulletin 113-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 16. Oktober 2023