Veröffentlicht am: 02.05.2025 um 19:46 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim „Demokratieforum Kommunalpolitik: Stadt- und Gemeinderäte – Engagiert vor Ort“

Beim „Demokratieforum Kommunalpolitik: Stadt- und Gemeinderäte – Engagiert vor Ort“ hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier am 8. April 2025 in Berlin folgende Rede gehalten

» Ich freue mich sehr, Sie heute Vormittag hier im Schloss Bellevue begrüßen zu dürfen! Auch wenn es in diesem Saal vielleicht etwas anders aussieht als im Ratssaal Ihrer Stadt oder Ihrer Gemeinde: Sie haben alle miteinander allen Grund dazu, sich hier in Bellevue wie zu Hause zu fühlen, denn als Amtssitz des Bundespräsidenten repräsentiert dieses Schloss unser Land und unsere Demokratie. Und Sie, liebe Stadt- und Gemeinderäte, Stadtverordnete und Gemeindevertreter, Ratsherren und Ratsfrauen, Bezirksverordnete und Beiratsmitglieder, Sie alle verkörpern und leben diese Demokratie in Ihrer Kommune. Sie alle beweisen es täglich: Demokratie spielt sich nicht nur hier in Berlin und in den Hauptstädten der Bundesländer ab, sondern sie beginnt in den Städten und Gemeinden und wächst von unten auf.

Dieses Schloss ist deshalb in ganz besonderer Weise auch Ihr Schloss. Es war und ist ein zentrales Anliegen meiner Amtszeit, der Kommunalpolitik hier in der Hauptstadt immer wieder eine Bühne zu bieten und umgekehrt regelmäßig zu Ortszeiten aufzubrechen und meinen Amtssitz für einige Tage – drei Tage in der Regel – in eine kleinere oder mittelgroße Stadt zu verlegen. Was in Altenburg und Quedlinburg als Ortszeit begonnen hat, hat gerade zum 14. Mal stattgefunden – im hessischen Stadtallendorf. Ich setze das fort, weil ich überzeugt bin: Wer die Demokratie verteidigen will, der muss die kommunale Perspektive kennen und verstehen! Es ist großartig, was Sie tun, und es ist toll, dass Sie heute bei uns sein können, mit uns diskutieren, trotz Ihrer Verpflichtungen in Beruf, Familie und Ehrenamt. Seien Sie uns alle ganz herzlich willkommen!

Sie haben sich gestern schon kennengelernt, haben Kontakte geknüpft und diskutiert – begleitet von der Körber-Stiftung, mit der wir das „Demokratieforum Kommunalpolitik“ veranstalten. Liebe Eva Nemela, lieber Sven Tetzlaff, ich finde es beeindruckend, mit welcher Überzeugung und welcher Beharrlichkeit Sie und Ihre Stiftung sich für starke Kommunen einsetzen! Ohne Ihre Unterstützung wäre dieses Forum nicht möglich, haben Sie, auch Klaus Wehmeier, vielen Dank für die Zusammenarbeit!

Vor einem Jahr hatten wir hier – nicht zum ersten Mal – ehrenamtliche Bürgermeister und Bürgermeisterinnen aus der ganzen Republik zu Gast; Frauen und Männer, die als Repräsentanten ihrer Gemeinde besonders im Blick der lokalen Öffentlichkeit stehen. Diesmal haben wir rund hundert Mitglieder von Kommunalparlamenten aus allen Teilen unserer Republik eingeladen, die das demokratische Herz der kommunalen Selbstverwaltung bilden.

Die meisten hier im Saal sind Fraktionsvorsitzende oder stellvertretende Fraktionsvorsitzende ihrer jeweiligen Partei oder Wählergruppe, übernehmen im Rat viel Verantwortung. Und dass wir gerade Sie für dieses Forum ausgewählt haben, hat einen besonderen Grund, den, glaube ich, viele in unserem Land unterschätzen: Zustimmung zur Demokratie verdankt sich zu einem wichtigen Teil Ihrem Einsatz, Ihrem Engagement. Für die Mitbürgerinnen und Mitbürger ist die Bundeshauptstadt, sind selbst die Hauptstädte der Länder meistens weit entfernt. Politik begegnet den Bürgerinnen und Bürgern am meisten und am häufigsten in Gestalt der Kommunalpolitik vor Ort.

Sie, die Sie heute hier sind, treten im Rat für respektvolle Diskussionen auf der Grundlage von Fakten ein. Sie bringen Unterschiede in Ihrer Stadt oder Gemeinde zusammen, gleichen Interessen aus und finden Kompromisse. Sie engagieren sich nicht zuletzt für ein gleichberechtigtes Miteinander in Freiheit und Vielfalt – für Kommunen, in denen die Würde eines jeden Einzelnen geachtet und geschützt wird und man gemeinsam anpackt, um eine bessere Zukunft zu gestalten.

Mit Ihrem Engagement vor Ort sind Sie das Wurzelwerk unserer Demokratie. Gerade heute, in dieser Zeit, in der die freiheitliche Demokratie im Innern wie von außen angegriffen wird, ist Ihr Einsatz wichtiger denn je! Und ich danke den vielen anderen kommunalen Mandatsträgern überall im Land, die heute nicht hier sein können, dafür, dass sie die Werte unseres Grundgesetzes Tag für Tag leben. Ihnen für Ihre Arbeit im Weinberg der Demokratie meinen ganz herzlichen Dank!

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren überzeugt, dass die Kommunen die Keimzellen der Demokratie sind – und dass ein demokratischer Staat deshalb auch demokratisch organisierte Kommunen braucht. In Artikel 28 ist festgelegt, dass das Volk in den Gemeinden eine gewählte Vertretung haben muss, die in eigener Verantwortung über alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft entscheidet – natürlich im Rahmen der Gesetze und immer in Zusammenarbeit mit der Oberbürgermeisterin oder dem Bürgermeister und der Verwaltung.

Stadt- und Gemeinderäte sind also kein demokratisches Placebo, sondern das wichtigste Entscheidungsgremium in der Kommune. Ihre Mitglieder – Sie alle miteinander – übernehmen freiwillig Verantwortung für die Zukunft Ihres Heimatortes. Und Sie geben Woche für Woche viel Zeit und viel Kraft für Ihr Ehrenamt, oft zusätzlich zu Ihren Aufgaben in Beruf und Familie.

Die Entscheidungen, die Sie im Rat treffen, wirken sich ganz unmittelbar auf das Leben der Menschen vor Ort aus – ob es um Schulen oder Kitas geht; um Straßen, Radwege, Busse und Bahnen; um Energieversorgung und innere Sicherheit; um Wohnraum, Kultur oder Sport. Und Sie sind es auch, die den Weg zu einer anderen Energielandschaft oder eine menschenwürdige Unterbringung von Geflüchteten vor der eigenen Haustür mitgestalten.

Sie alle haben den Mut, nicht nur Entscheidungen zu treffen für sich persönlich, sondern die Hand zu heben und Farbe zu bekennen. Und in Zeiten knapper Kassen müssen Sie dabei oft abwägen und schmerzhafte Entscheidungen treffen: Die Brücke sanieren, den Spielplatz bauen oder das Museum modernisieren? Das Schwimmbad schließen oder den Zuschuss für die Sportvereine zusammenstreichen? Sie tragen alle große Verantwortung, die in Krisenzeiten zu einer geradezu übermenschlichen Last werden kann, aber Sie tragen sie, diese Verantwortung, und müssen manches sinnvolle Begehren ablehnen, schwierige Kompromisse schmieden, harte Entscheidungen treffen und dafür geradestehen. Und wenn ich sage „geradestehen“, dann weiß ich auch: Rechtfertigen müssen Sie sich für das, was Sie entscheiden, nicht nur im Gemeinderat, sondern möglicherweise schon am nächsten Morgen beim Gang zum Bäcker oder beim Anstehen an der Supermarktkasse.

Gerade weil die Kommunen und ihre Räte so wichtig für Zusammenhalt und Demokratie sind, müssen Politik und Gesellschaft jedes Interesse, ich betone: jedes Interesse daran haben, sie handlungsfähig zu halten. Wenn Kommunen Spielräume für die Bewahrung eines lebenswerten Wohnumfeldes fehlen, wenn die Mittel fehlen für Sport- und Kulturangebote, dann richtet sich die Enttäuschung der Bürgerinnen und Bürger eben nicht nur an den örtlichen Bürgermeister oder Oberbürgermeister, sondern die Enttäuschung weckt immer auch Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Demokratie überhaupt. Ich habe gerade erst gestern von einer britischen Studie gelesen, die diesen Zusammenhang an einem Beispiel aus England eindrucksvoll zeigt: In englischen Kommunen, in deren Fußgängerzonen besonders viele Geschäfte leer standen, wählten auch besonders viele Bürgerinnen und Bürger die rechtspopulistische Partei UKIP. Das kann man übersetzen ins Deutsche.

Deshalb: Kommunale Armut, die dauerhafte Überlastung der kommunalen Haushalte ist nicht allein ein kommunales Problem. Wo steigende Personalkosten, wachsende Sozialausgaben, bürokratische Vorgaben oder zusätzlich übertragene Aufgaben, wo all das die Gestaltungsfreiheit und die Gestaltungsfähigkeit der Kommunen immer weiter schrumpfen lassen, da ist eben der Kern der kommunalen Selbstverwaltung und auch die Zustimmung zur Demokratie berührt. Und ich weiß natürlich, aus Gesprächen hier und Besuchen, die ich selbst mache weithin im Land: In vielen Räten geht es längst vor allem darum, Mangel zu verwalten, Schadensbegrenzung zu betreiben. Ich habe das bei vielen Ortszeiten und Terminen mit der Kommunalpolitik immer wieder gehört und vor Ort erlebt. Deshalb, liebe Gäste: Aus meiner Sicht kommt es jetzt nicht nur, aber jedenfalls auf die folgenden drei Dinge an.

Erstens: Ein Anteil des beschlossenen Milliardenpakets des Bundes muss auch zur Entlastung der Kommunen bereitstehen.

Zweitens: Die Kommunen müssen von überflüssigem bürokratischem Aufwand befreit werden; Digitalisierung kann dabei helfen. Wenn etwa unterschiedliche Sozialleistungen über eine bundesweite Plattform beantragt und bearbeitet werden könnten, dann wäre das nicht nur bürgerfreundlich, sondern es müsste auch nicht mehr jede Kommune das Rad von Neuem erfinden. Und umgekehrt ist es wichtig, dass Bund und Länder mehr als in der Vergangenheit darauf vertrauen, dass Kommunen manche Dinge besser in Eigenregie regeln können, weil sie sich mit den Gegebenheiten vor Ort naturgemäß besser auskennen als diejenigen auf den weiter entfernten Ebenen der Politik. Dieses Vertrauen ist die Voraussetzung dafür, dass auch nicht alles bis ins letzte Detail geregelt werden muss und wir den Städten und Gemeinden mehr Freiheit nicht über die Ziele, aber über das „Wie“ der Zielerreichung zur Verfügung stellen. Einer der Gründe dafür, weshalb ich mich engagiert habe bei einer „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“, wo ich die Schirmherrschaft trage. Die Initiative hat ihre Vorschläge gerade vor zwei, zweieinhalb Wochen vorgestellt, gerade auch, um Kommunen von Bürokratie zu entlasten. Ich hoffe sehr, dass die Politik, dass die zukünftige Bundesregierung diese Vorschläge nicht nur ernst nimmt, sondern die Angelegenheit zu einer eigenen Priorität erklärt.

Dritter und letzter Punkt: Bund und Länder dürfen die Kommunen finanziell nicht überfordern. Städten und Gemeinden dürfen keine Aufgaben übertragen werden, ohne dass deren Finanzierung gesichert ist. Ein alter Hut! Wer ein bisschen zurückschaut, weiß: Das war schon ein Thema in der Debatte um das Grundgesetz 1949. Es kommt jetzt darauf an, den Grundsatz, den es lange gibt, endlich zu beherzigen!

In der kommunalen Werkstatt der Demokratie müssen alle zusammen am Gemeinwohl hämmern und feilen, sich gegenseitig zur Hand gehen, tragfähige Lösungen finden. Für den kommunalen Zusammenhalt ist es dabei wichtig, dass die Räte die Stadt- oder Dorfgesellschaft wenn irgendwie möglich in ihrer ganzen Vielfalt widerspiegeln. Aber Sie wissen: Genau das tun sie – wie auch Landesparlamente und Bundesparlamente – heute nur sehr unzureichend. Wir werden das, Eva Nemela, gleich noch hören von Ihnen. Viele Ratsmitglieder befürchten sogar, dass ihrem Stadt- oder Gemeinderat bald der Nachwuchs fehlen könnte.

Wir müssen also mehr tun, alle miteinander, um vor allem auch jüngere Menschen für das Engagement in Stadt- und Gemeinderäten zu begeistern. Dazu gehört, die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Ehrenamt, wo immer das möglich ist, zu verbessern – vor allem für Väter und Mütter mit kleinen Kindern oder für Menschen, die sich um pflegebedürftige Angehörige kümmern, die Möglichkeiten zu verbessern, auch kommunale Politik zu betreiben, sich dafür zu engagieren. Und da sind natürlich nicht nur Landes- und Bundespolitik gefordert, sondern auch die Räte selbst. Jedenfalls da, wo sie entscheiden können, wie viele Ausschüsse und Sitzungen wirklich nötig sind, und – ich höre, das ist jetzt inzwischen vermehrt nach dem Ende von Corona der Fall – wo man möglicherweise das eine oder andere persönliche Zusammentreffen auch durch Videokonferenzen ersetzen kann. Obwohl ich das, das sage ich ausdrücklich, nicht für der Weisheit letzten Schluss halte.

Bei meinen Ortszeiten höre ich immer wieder, dass es oft schon hilft, wenn erfahrene Kommunalpolitiker auf jüngere Menschen zugehen und sie ganz direkt fragen, ob sie nicht Lust hätten, in der Kommunalpolitik, vielleicht sogar Rat auch mitzuwirken. Das ist gut, wenn das getan wird, aber ich glaube auch, das wird nur gelingen, wenn wir aufhören, Politik – auch kommunale Politik – bei jeder Gelegenheit – ob am Stammtisch oder in der digitalen Variante bei X – als schmutziges Geschäft zu erklären. Das ist nicht nur Aufgabe von Politik, sondern – ich finde, ganz herausragend – auch Aufgabe der Medien, gelegentlich zu erklären, dass es in unseren Gemeinden zwischen Flensburg und Berchtesgaden Hunderttausende gibt, die Zeit und Arbeitskraft für das gemeine Wohl und für die Zukunft ihres Ortes einsetzen. Und dass im Ehrenamt auch der Teil „Ehre“ steckt, das könnten wir ruhig häufiger einmal miteinander betonen.

Stattdessen – statt das Ehrenamt als Ehre zu empfinden und auch entsprechend zu behandeln – kommt es auch in den Kommunen immer häufiger vor, dass Mandatsträger oder ihre Familien beleidigt, bedroht oder angegriffen werden. Und was das für entsetzliche Ausmaße annehmen kann, das habe ich hier in mindestens drei Veranstaltungen immer wieder gehört. Da wird mitten in unserem Land – ein Beispiel aus dem Süddeutschen, Nähe Bodensee – einer Bürgermeisterin ein Galgen in den Garten gestellt, weil einem Mitbürger der örtliche Bebauungsplan nicht passte. Oder, in der Endphase der Corona-Zeit habe ich das in Altenburg erlebt, da marschieren sogenannte Querdenker vor das Wohnhaus eines Bürgermeisters und fordern in Sprechchören, er solle herauskommen, und die kleinen Kinder, die er hat, werden zu Tode erschreckt.

Das sind nur zwei Beispiele von vielen. Deshalb heute meine Bitte an alle Bürgerinnen und Bürger: Stellen wir uns an die Seite derjenigen, die Hass und Hetze ausgesetzt sind, ob im Ratssaal, auf Straßen oder Plätzen oder in den Sozialen Medien! Treten wir der Verrohung unserer Diskussionskultur entschieden entgegen! Und nicht zuletzt, liebe Mandatsträgerinnen und Mandatsträger, meine Bitte an alle: Stehen Sie über alle Parteigrenzen hinweg geschlossen zusammen, wenn Sie in ihrer Kommune Gewalt erleben – ganz gleich, von wem sie ausgeht und gegen wen sie sich richtet! Ein Angriff auf ein Ratsmitglied ist immer ein Angriff auf Sie alle!

Sie gehen in Ihrer Stadt oder Gemeinde mit gutem Beispiel voran, so wie viele andere, die sich in ihren Heimatorten für ein friedliches demokratisches Miteinander einsetzen. Aber Sie alle brauchen und verdienen Unterstützung, vielleicht mehr Unterstützung. Was sich in den Kommunen ändern muss, was sich schon geändert hat und zur Nachahmung einlädt, darüber wollen wir heute Vormittag miteinander sprechen. Ich freue mich darauf und sage noch einmal Danke dafür, dass Sie gekommen sind – danke insbesondere denjenigen, die uns ihre Gedanken gleich auf dem Podium mitteilen. Ich würde mich freuen, wenn der ganze Saal sich aufgerufen fühlt, kräftig mitzudiskutieren. In diesem Sinne nicht nur ein Dank, sondern ein nochmaliges herzliches Willkommen in Bellevue! «


Quelle: Bulletin 27-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 9. April 2025

Weitere Artikel zum Thema Bundesregierung, die Sie auch interessieren könnten...

Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz beim Global Disability Summit

Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz beim 14. Deutschen Seniorentag

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei einem Empfang zum 35. Gründungsjubiläum des „LSVD+ – Verband Queere Vielfalt“

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei der Preisverleihung an Margot Friedländer auf der Westfälischen Friedenskonferenz 2025

80. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora