Veröffentlicht am: 10.05.2023 um 19:12 Uhr:
Fotografie: Retro und zurück
» Man nehme einen nicht mehr geschützten, renommierten Objektiv-Markennamen, kombiniere ihn mit einem geschichtsträchtigen Fabrikationsort, finanziere die Neuauflage eines Uralt-Objektivs durch eine risikoarme Crowdfunding-Plattform, begleite sie mit einer ausgefeilten Marketing-Strategie — und fertig ist ein profitables Geschäftsmodell mit großen Versprechungen.
Die Retroflut bei neuen Objektiven, die obiges Prinzip verinnerlichen, scheint ungebrochen. Viele verschiedene Marken (Meyer-Optik Görlitz, Biotar, C.P. Goerz, Primagon, Oprema Jena) suggerieren eine Anbietervielfalt, die in Wirklichkeit fehlt. Die Haupt-Urheber dieser Retro-Aktivitäten sind zwei Firmen, die „net SE“ und die „Semi Verwaltungs GmbH“. Letztere ist an ersterer beteiligt, beide sitzen in Koblenz und sie arbeiten mit US-Firmen in Atlanta zusammen. Im Web wirken diese Firmen wie große Marketing-Abteilungen mit angegliederter Fremdobjektiv-Produktion.
Waren die Retro-Ideen anfangs von wirklichen Klassikern inspiriert (Meyer-Görlitz Trioplan 2,8/100 mm, Primoplan 1,9/75 mm, Biotar 1,5/75 mm), so schlachten die neueren Kampagnen eher gnadenlos jeden Namen aus, der irgendwie verwertbar ist. Mit dem wohlklingenden Namen C.P. Goerz Berlin Citograph 50 wird hochpreisig ein schlichter Vierlinser vermarktet. Bei der Schwarmfinanzierung - ab knapp 600 US-Dollar – wurde das Ziel erreicht. Werbeaussagen wie „Adlerauge“ (einst kreiert von Zeiss) zogen offenbar.
Die Ausschlachtungsidee scheint an ihre Grenzen zu stoßen: Eine analoge SLR „Ihagee Elbaflex“ verfehlte das angestrebte 50.000-Dollar-Ziel klar. Ähnlichkeiten mit einer 70er-Jahre-Kiev und angepeilte Listen-Mondpreise hemmten die Verwirklichung sicherlich. Auch der Versuch eines „Schacht Travegon 2,5/50 mm - Bad Kreuznach“ ist gescheitert; der einstige Objektivhersteller Schacht hat mit Bad Kreuznach nichts zu schaffen.
Klar, das Eintauchen in Tradition macht Spaß. Ein Jena Tessar 50 mm für 20 Euro vom Secondhand-Markt (plus 20 Euro für einen M42-Adapter) befriedigt den Spieltrieb vollauf. «
Quelle: Kolumne von Winfried Warnke im fotoMAGAZIN 5/2018