Veröffentlicht am: 15.09.2022 um 13:04 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei einem Gesprächsforum zum Tag der Wohnungslosen

Bei einem Gesprächsforum zum Tag der Wohnungslosen hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier am 11. September 2022 nachfolgende Rede in Berlin gehalten...

» Wir sind heute hier, um auf Menschen aufmerksam zu machen, die mehr Aufmerksamkeit brauchen – jetzt, im kommenden krisenhaften Winter, aber auch in der Zeit danach. Es geht um die Ärmsten und Verwundbarsten in unserem Land – um Männer, Frauen und Kinder, die keine eigene Wohnung haben oder auf der Straße leben.

Wir wollen darüber sprechen, was wir in unserer Gesellschaft tun müssen, um die Not obdachloser Menschen so gut es geht zu lindern, gerade jetzt, vor dem Beginn der kalten Jahreszeit. Wir wollen fragen, wie wir verhindern können, dass Menschen ihre Wohnung verlieren – gerade jetzt, wo Lebensmittel, Strom und Heizung spürbar teurer werden. Und wir wollen diskutieren, wie wir es schaffen können, dass bis zum Jahr 2030 möglichst jede und jeder in Deutschland ein eigenes Dach über dem Kopf hat.

Nicht nur wir: Am heutigen Tag der Wohnungslosen informieren Initiativen, Vereine und Verbände an vielen Orten unseres Landes darüber, was Wohnungslosigkeit bedeutet. Auch wir wollen informieren, aber auch ein bisschen mehr tun und fragen gleich an den Tischen, wie können wir vor allen Dingen besser werden.

Die Botschaft ist klar: Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit sind zuallermeist kein selbst verschuldetes und unvermeidbares Schicksal. Sie zeigen einen unerträglichen gesellschaftlichen Missstand an, den wir in unserem Land beheben können und beheben müssen. Gerade in dieser Zeit des Krieges, der Krisen und Veränderungen darf das Thema auf der politischen Agenda nicht schnell wieder nach unten rutschen!

Ich freue mich sehr, dass Sie heute hier sind: Verantwortliche aus Politik, Verwaltung und Wohnungswirtschaft; Sozialwissenschaftler und Ärztinnen; Vertreter von Organisationen und Einrichtungen, die sich für Wohnungslose einsetzen, nicht zuletzt engagierte Menschen, die selbst eine Zeit ihres Lebens wohnungs- oder obdachlos waren. Seien Sie uns alle ganz herzlich willkommen heute Morgen hier in Bellevue.

Die Frage, wie wir Wohnungs- und Obdachlosigkeit überwinden können, beschäftigt hier im Raum nicht nur mich schon lange Zeit, schon Jahre. Das Problem ist nicht neu, es ist nicht unbekannt; für viele, auch in den Fußgängerzonen, ein eigentlich doch sichtbares und erlebbares Problem. Und wie viele andere frage ich mich auch immer wieder: Warum kriegen wir das eigentlich in einer reichen Gesellschaft nicht in den Griff? Eine Frage, die ich zuletzt beim Besuch in Mainz mit Gerhard Trabert auch öffentlich diskutiert habe, aber in den letzten Jahren, ehrlich gesagt, immer wieder an unterschiedlichen Orten in deutschen Großstädten anhand von guten Beispielen – eins habe ich heute Morgen gerade wieder frisch erlebt hier in Berlin, ein Projekt der Berliner Stadtmission. Aber natürlich habe ich das Thema auch diskutiert und diskutieren müssen an manchen Orten anhand katastrophaler Zustände, auf die ich auch gestoßen bin.

Es darf uns als Bürgerinnen und Bürger nicht gleichgültig sein, dass Menschen in Deutschland keine eigene Wohnung haben oder obdachlos sind. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Menschen im Abseits unserer Gesellschaft in Not und Elend leben, ohne Chance auf ein selbstbestimmtes Leben in Würde.

Wie viele Menschen in unserem Land kein eigenes Dach über dem Kopf haben, man staunt: Wir wissen es nicht genau. Es ist gut, dass der Bund und auch einzelne Länder jetzt neue Daten erheben und dass sie das in Zukunft regelmäßig tun wollen. Wir müssen das große Dunkelfeld so gut wie möglich ausleuchten, um bedürftigen Menschen besser helfen zu können, als wir es bisher tun.

Schätzungen zufolge leben in Deutschland jedenfalls mehr als 300.000 Menschen ohne eigenes Zuhause, das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl einer Großstadt wie Münster oder Karlsruhe. Knapp 180.000 Frauen und Männer übernachten in Unterkünften für Wohnungslose, etwa 45.000 Obdachlose schlafen dauerhaft auf der Straße. Hinzu kommen anerkannte Geflüchtete, die weiterhin in Wohnheimen leben, und Menschen, die ohne eigenen Mietvertrag bei Verwandten oder Bekannten unterkommen und oft von einem Sofa zum nächsten wandern.

Mehr als 300.000, das ist eine viel zu große Zahl! Und wir müssen ganz klar sagen: In den kommenden Monaten droht diese Zahl sogar noch zu wachsen. Krieg und Krisen könnten dazu führen, dass im Herbst und im Winter weitere Menschen in unserem Land in Wohnungsnot geraten. Arme Menschen, gerade auch Familien, die wegen der steigenden Preise ihre Miete oder ihre Nebenkosten nicht mehr bezahlen können, gerade die drohen ihre Wohnung zu verlieren. Und Menschen, die eine Wohnung suchen, könnten es unter Umständen noch schwerer haben, ein bezahlbares Zuhause zu finden.

Wir müssen jetzt, kurz gesagt, mit unseren Möglichkeiten dafür sorgen, dass niemand, der wegen steigender Wohnkosten in Zahlungsschwierigkeiten gerät, dass niemand sein Zuhause verliert oder gar auf der Straße landet. Wir müssen diejenigen, die nicht weiträumig, weitsichtig handeln und sparen können, rechtzeitig beraten und unterstützen, damit sie gut durch die nächsten Monate kommen. Wir dürfen niemanden in unserem Land im Stich lassen, der nicht mehr weiß, wie er seine Miete und seine Nebenkosten bezahlen soll.

Es sind ganz unterschiedliche Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten, die in unserem Land kein eigenes Zuhause haben. Die meisten haben wegen finanzieller Notlagen und Mietschulden ihre Wohnung verloren – andere sind aus Kliniken und Gefängnissen in die Wohnungslosigkeit entlassen worden oder haben keine Wohnung, weil sie geflüchtet oder aus einem anderen Land der Europäischen Union eingewandert sind. Manche sind suchtkrank, traumatisiert oder körperlich beeinträchtigt. Andere sind zu Beginn ihrer Wohnungslosigkeit noch gesund und werden erst durch das Leben auf der Straße krank. Manche stammen aus belasteten oder sozial benachteiligten Familien, sind schon in Armut aufgewachsen oder Opfer von Gewalt und Missbrauch geworden. Andere kommen aus sogenannten geordneten Verhältnissen.

Es gibt Menschen, die besonders gefährdet sind, wohnungslos oder obdachlos zu werden. Aber es kann auch Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft treffen: plötzlicher Tod der Eltern oder des Kindes, Trennung oder Scheidung, Verlust der Arbeit, Schulden, eine seelische Krise, ergänzend ein Sucht- oder Alkoholproblem. Oft sind es mehrere Schicksalsschläge, Unglücke, Ungerechtigkeiten und Fehler, auch eigene, die zusammenkommen und dazu führen, dass jemand den Halt verliert und immer tiefer abrutscht.

Wenn wir verstehen wollen, was es bedeutet, keine eigene Wohnung zu haben oder obdachlos zu sein, dann müssen wir denen zuhören, die es selbst erlebt haben. Es sind Menschen, die kein Zuhause haben, keinen Ort, an dem sie sich sicher, geborgen und beheimatet fühlen. Menschen ohne eigene Adresse, nicht selten auch ohne Krankenversicherung – die Einrichtung heute Morgen mit 80 Bewohnern, 20 Prozent ungefähr krankenversichert, 80 Prozent nicht.

Und es sind Menschen, für die das „Bleib zu Hause“, die Aufforderung in der Coronakrise, gelegentlich wie Hohn geklungen hat. Es sind Menschen, die morgens nicht wissen, wo sie am Abend schlafen sollen. Die oft nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen und ihren Alltag zu bewältigen, weil sie Schmerzen haben, kein Deutsch sprechen. Die manchmal auch deshalb keine Hilfe suchen, weil sie eine Scheu vor Ämtern haben oder tiefe Scham empfinden. Es sind Menschen, die im Sommer der Hitze und im Winter der Kälte ausgesetzt sind, die oft krank oder Opfer von Gewalt werden – besonders wohnungslose Frauen sind immer wieder Opfer von sexuellen Übergriffen, von sexualisierter Gewalt, auch deshalb, weil es für sie zu wenig Wohn- und Schutzmöglichkeiten gibt. Es sind Menschen, die im Alltag Ausgrenzung und Stigmatisierung erfahren, die immer wieder respektlos behandelt oder einfach übersehen werden. Es sind Menschen, die „kein Dach über dem Leben“ haben, wie es Richard Brox in seiner Biografie eines Obdachlosen beschrieben hat.

Dass es in unserem reichen Land dieses Leid und diese Not gibt, das ist erschütternd! Denn Wohnungslosigkeit ist – das sagen auch viele von Ihnen, wie ich weiß –, Wohnungslosigkeit ist ein lösbares Problem. Aber gerade deshalb ist unsere Verantwortung, es zu lösen, auch umso größer! Trotz aller Krisen, die wir gerade erleben: Wir haben in Deutschland eigentlich gute Voraussetzungen, um bedürftigen Menschen zu helfen und dafür zu sorgen, dass jeder, der eine eigene Wohnung braucht, auch eine bekommen kann.

Wir haben einen leistungsfähigen und unterstützenden Staat, wir haben sozialwissenschaftliche und medizinische Expertise, wir haben Hilfestrukturen der Kommunen, der Kirchen, der Wohlfahrtsverbände, Vereine und Initiativen. Und nicht zuletzt haben wir viele Menschen, die sich in Politik und Gesellschaft im Kampf gegen Wohnungslosigkeit engagieren und ihre Ideen einbringen.

Mein Dank gilt heute all jenen, die sich Tag für Tag einsetzen, um die schlimmste Not zu lindern – in ihrem Beruf, viele, Zehntausende im Ehrenamt, in Behörden, Anlaufstellen und Unterkünften, Arztmobilen, Kältebussen, Suppenküchen und Teestuben. Mein Dank gilt auch denen, die nicht wegschauen, sondern fragen, ob jemand Hilfe braucht, die spontan etwas zu essen, einen heißen Tee, eine wärmende Decke oder ein Paar Winterstiefel spenden, die einfache Gesten des Respekts zeigen, indem sie grüßen oder ein kurzes Gespräch beginnen – und so Obdachlosen das Gefühl nehmen, gänzlich unsichtbar zu sein. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank!

Respektvoller Umgang miteinander, Verantwortung der Stärkeren für die Schwächeren, denen auf die Beine helfen, die am Boden liegen – überall sind Mitmenschlichkeit und Nothilfe im Alltag unverzichtbar. Deshalb müssen wir das Hilfesystem noch besser zugänglich machen und zu bedürftigen Menschen hingehen, damit wirklich alle, die Unterstützung brauchen, auch passende Angebote finden und nutzen können. Überall da, wo es sie noch nicht gibt, brauchen wir sichere und saubere Unterkünfte, möglichst nicht nur für ein paar Stunden in der Nacht geöffnet – und wir brauchen sie besonders für Frauen. Und wir brauchen noch mehr verlässliche Ansprechpartner, zu denen Wohnungslose Vertrauen aufbauen können.

Aber wir wissen auch: Hilfe im Alltag ist notwendig, reicht aber allein nicht aus, um wohnungslosen Menschen den Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben in der Mitte der Gesellschaft zu ebnen. Um Wohnungslosigkeit zu überwinden, brauchen wir mehr bezahlbaren Wohnraum. Gerade in den Städten brauchen wir mehr Wohnungen für Alleinstehende und Familien, und wir müssen den Zugang zu Wohnraum erleichtern, zum Beispiel auch dadurch, dass wir einen bestimmten Anteil von Wohnungen für Wohnungslose bevorraten.

Bund, Länder, Kommunen, Genossenschaften und private Bauträger müssen jetzt gemeinsam Wege finden, um die Wohnungsnot schneller zu beheben, trotz steigender Kosten und fehlender Fachkräfte auch in der Baubranche. Ich weiß, alle wissen hier: Es ist nicht einfacher geworden.

Ein Dach über dem Kopf, die eigenen vier Wände, das hat absolute Priorität. Wer erst einmal eine eigene Adresse, einen eigenen Briefkasten, einen eigenen Schlüssel hat, der kann ein bisschen zur Ruhe kommen, seine Dinge ordnen, gesund werden, häufig sogar einen Job finden, wenn er dabei begleitet und unterstützt wird.

Ich freue mich, dass heute Frauen und Männer unter uns sind, die selbst eine Zeit lang kein eigenes Zuhause hatten oder auf der Straße gelebt haben, die Schicksalsschläge, Sucht oder seelische Leiden, Angst und Scham überwinden mussten – und die heute zumeist wieder eine eigene Wohnung haben, eine Arbeit oder eine Aufgabe und damit einen Platz in der Gesellschaft.

Ich habe einen Riesenrespekt vor Ihrer Kraft und Ihrem Mut. Und ich finde es großartig, dass Sie, die selbst auf Hilfe angewiesen waren, nun anderen helfen oder sich engagieren und Ihre Erfahrungen einbringen, so wie heute hier! Menschen, die wohnungs- oder obdachlos sind oder waren, wissen, wo Hilfsangebote fehlen, wo sie am Bedarf vorbeigehen und deshalb die Hilfsbedürftigen nicht erreichen.

Und nicht selten zeigen die Lebensgeschichten von Wohnungslosen auch, dass sie nicht so tief hätten abstürzen müssen, wenn rechtzeitig jemand da gewesen wäre, um sie aufzufangen. Auch daraus müssen wir lernen. Wir müssen jetzt Vorsorge treffen, damit Menschen ihre Wohnung erst gar nicht verlieren oder obdachlos werden.

Dazu gehört, den Austausch zwischen Behörden, Jobcentern, Krankenkassen weiter zu verbessern, damit die zuständigen Stellen möglichst früh erfahren, wenn jemand in Wohnungsnot gerät oder zu geraten droht. Dazu gehört aber auch, dass wir hinschauen und notfalls Hilfe holen, wenn Nachbarn oder Bekannte sich verändern, wenn offenbar Schwierigkeiten bestehen, den Alltag zu bewältigen.

Es gibt einen Satz, den Sie schon als Kind oft gehört haben, etwa derart: „In unserem Land muss niemand auf der Straße leben.“ Meistens sollte das heißen: „Wer bei uns auf der Straße lebt, ist selbst schuld daran.“ Oder: „Wer bei uns auf der Straße lebt, der will sich nicht helfen lassen!“

Sie alle wissen: In solchen Sätzen stecken viel Selbsttäuschung und Ignoranz. Denn wenn so viele Menschen in diesem Land kein eigenes Dach über dem Kopf haben, dann spricht doch viel dafür, dass wir als demokratische Gesellschaft nicht genügend getan haben.

„In unserem Land muss niemand auf der Straße leben“ – das ist nicht Anlass für selbstzufriedene Feststellungen, sondern es ist Aufgabe von Politik und Gesellschaft, diesen Satz endlich wahr werden zu lassen. «


Quelle: Bulletin 111-3 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 13. September 2022

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