Veröffentlicht am: 11.06.2024 um 18:18 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkveranstaltung zum 20. Jahrestag des NSU-Anschlags in der Kölner Keupstraße
» Guten Tag, meine sehr verehrten Damen und Herren! Merhaba! Und dieser Gruß gilt ganz besonders Ihnen, verehrte Opfer und Angehörige der Opfer, die unter dem Nagelbombenanschlag vor 20 Jahren bis heute leiden.
Wer könnte es vergessen! Jeder meiner Generation, das darf ich Ihnen versichern, jeder meiner Generation hat sie in Erinnerung, die furchtbare Nachricht aus der Keupstraße vor 20 Jahren. Und jeder hat auch in Erinnerung das leichtfertige Gerede jener Zeit von Milieudelikten oder Dönermorden. Und wir werden an jedem Jahrestag von neuem daran erinnert.
Für die Betroffenen sind es nicht die Jahrestage, nicht die runden und nicht die halbrunden, nein, jeder Tag seit dem 9. Juni 2004 ist gefüllt mit Erinnerung, ist gefüllt mit Schmerz. Das Gespräch, das wir eben hatten – mit Opfern und Angehörigen von Opfern – war eine Bestätigung dafür. Erinnerung und Schmerz haben das Leben aller hier in der Keupstraße für Jahre geprägt; bis heute geprägt.
Dennoch, auch das will ich Ihnen sagen: Ich bin wirklich froh, jetzt in diesem Moment hier mit Ihnen in der Keupstraße zu sein! Denn von hier aus kann man sehen, was mir bei all dem Schmerz, an den wir heute denken, auch sehr viel Mut macht. Ich schaue in die Gesichter von so vielen Menschen, die hier zusammengekommen sind. Ich sehe Junge und Ältere, ich sehe Väter und Mütter, Schwestern, Brüder, Töchter und Söhne, ich sehe Freunde und Kollegen, Schauspieler und Künstler, Geschäftsleute und Nachbarn. Ich sehe Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und Menschen mit kölschen Wurzeln, und viele vor allen Dingen, die beides in sich tragen.
Sie alle – wir alle – sind hierhergekommen, um gemeinsam der Opfer des furchtbaren Anschlags vom 9. Juni 2004 an diesem Ort zu gedenken. Wir alle sind hier, weil es wichtig und auch dringlich ist, dass wir die Geschichten und den Schmerz derjenigen sehen, hören und würdigen, die heute vor 20 Jahren hier schwer an Leib und Seele verletzt und dazu auch noch zu Unrecht verdächtigt worden sind. Wir haben es gerade von den Brüdern Yildirim gehört.
Und: Wir alle sind auch deshalb hier, weil wir angesichts dieser Erinnerung ein Zeichen fürs Heute setzen wollen. „Birlikte“ heißt das Motto für dieses Fest, das heute wieder gefeiert wird. Wir setzen ein Zeichen gegen Rechtsextremismus, gegen Rassismus und Rassenhass, gegen Menschenfeindlichkeit – und wir setzen es gemeinsam für unser Land; ein Zeichen gegen politisch motivierte Gewalt – ganz gleich, von wem sie ausgeht!
Und dieses Zeichen ist wichtig, gerade in diesen Tagen: Diejenigen, die hier vor zwanzig Jahren ihren zynischen, rassistischen Mordplan weiterführen wollten, sie haben es nicht geschafft, uns auseinanderzutreiben. Und auch diejenigen, die deren menschenverachtende Ideologie heute teilen, und alle jene, die sich in ihrem Fanatismus anderen überlegen fühlen, auch die alle werden dies nicht schaffen! Im Gegenteil: Wir sind hier, wir sind zusammen – und das, liebe Gäste, feiern wir auch! Ihnen allen einen ganz herzlichen Dank dafür, dass Sie mich eingeladen haben!
Und ja, allen Versuchen, unsere Gesellschaft zu spalten und Angst und Schrecken zu verbreiten, setzen wir das Bild dieses Tages hier in der Keupstraße entgegen: Wir sind mehr. Wir sind hier. „Birlikte“ – Zusammen!
Es schmerzt, sich die Erinnerung an den 9. Juni 2004 ins Gedächtnis zu rufen. An diesem Tag zündeten die Rechtsterroristen des selbsternannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ hier vor dem Friseursalon eine ferngesteuerte Nagelbombe.
702 Zimmermannsnägel wurden später gefunden, jeder einzelne zehn Zentimeter lang. Die Wucht des Sprengstoffs schleuderte die glühenden Nägel hunderte von Metern weit. Und diese Wucht warf Menschen um, die langen Nägel bohrten sich in ihre Körper, die Detonation zerriss Trommelfelle, die Druckwelle verwüstete die halbe Straße. „Wie auf einem Schlachtfeld“ habe es ausgesehen, sagte ein Augenzeuge dann zehn Jahre später vor Gericht in München.
Das Resultat: 22 Menschen wurden verletzt, viele davon schwer und viel mehr Menschen waren – und sind immer noch – betroffen: weil ihre Angehörigen verletzt wurden; weil sie an diesem Tag in der Keupstraße waren; weil sie seitdem Angst haben; aber vor allen Dingen, weil sie wussten, dass sie gemeint waren mit dieser Bombe. Dass sie das Ziel waren. Vielen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte war sofort klar: Diese Gewalt hier in der Keupstraße, die richtet sich gegen uns alle.
Und dann kamen die Tage danach, die Wochen und Monate, die Jahre danach. Für die Opfer des Anschlags kam das, was manche von ihnen heute „die zweite Bombe“ nennen. Es war die Erfahrung, zunächst nicht als Opfer wahrgenommen zu werden, sondern stattdessen als Verdächtige zu gelten.
Ausgerechnet die Menschen, die vom Terror getroffen waren, wurden zum Ziel polizeilicher Ermittlungen. Sie wurden verhört, durchsucht, und manche – wie wir eben gehört haben – auch über Jahre hinweg unter Druck gesetzt. Diese Ungerechtigkeit, nicht als Opfer gesehen zu werden, sondern stigmatisiert oder mit quälenden Gerüchten konfrontiert zu werden, das mussten Sie hier in Köln erleben. Und ähnlich ging es leider auch anderen Angehörigen der Opfer des NSU in Nürnberg, Kassel und Hamburg, in München und Rostock, in Dortmund und Heilbronn.
Die bittere Wahrheit ist: Wir – Politik, der Staat und seine Sicherheitsbehörden – haben die ganze Dimension des rechten Terrors, dessen blutige Spur sich über mehr als zehn Jahre durchs Land zog, wir haben die ganze Dimension dieses rechten Terrors lange nicht wahrhaben wollen. Wir waren lange, zu lange blind für ein Netzwerk, das aus Rassenhass und menschenfeindlicher Nazi-Ideologie mordete, verletzte, raubte; obwohl dieses Netzwerk durchaus Spuren hinterließ. Wir haben zu lange gebraucht, um Zusammenhänge in diesem Netzwerk zu erkennen.
Und als dann die Zeit der Aufklärung kam, da ruhte der Blick natürlich auf den Tätern, und dann geriet erneut die Notwendigkeit in den Hintergrund, auch die Geschichten der Opfer und ihrer Angehörigen zu hören, ihre Erinnerungen wahrzunehmen.
Die Betroffenen leben mit dieser Erinnerung, sie müssen mit ihr leben. Sie haben gar nicht die Wahl, ob sie sich erinnern möchten. Und mit den Erinnerungen kommt immer wieder die Angst, kommen immer wieder die Fragen zurück: Wie kamen die Terroristen auf die Tatorte? Wie suchten sie ihre Opfer aus? Wer unterstützte sie womöglich dabei und blieb unerkannt? Vor allem aber: Warum kam man dem Netzwerk des NSU über so viele Jahre nicht auf die Spur?
Dies bleibt beschämend für unser Land, und der Ministerpräsident hat sich dazu bereits gestern öffentlich geäußert. Wir können das Geschehene nicht rückgängig machen. Aber wir müssen das Vertrauen in den Rechtsstaat erneuern, da wo es bei Ihnen gelitten hat. Den Opfern und ihren Angehörigen möchte ich gerne sagen, mit dem Wissen von heute ist uns klar: Schon in den neunziger Jahren hätte der Staat den Rechtsextremismus systematischer beobachten und vor allen Dingen entschlossener bekämpfen müssen. Und das sage ich nicht leichthin, weil ich weiß, diese Erkenntnis wiegt schwer. Wir können uns von der Verantwortung nicht freisprechen, die bleibt. Aber gerade deshalb zeigen wir hoffentlich jetzt und in den nächsten Jahren eine Stärke, die allein die Demokratie besitzt: Als einzige Staatsform ist sie in der Lage, Fehler aufzuarbeiten.
Über Jahre sind akribisch Spuren zusammengetragen und Fehler gesucht worden, wurde ermittelt und recherchiert, in Untersuchungsausschüssen und Gerichtssälen, in Redaktionen und in Universitäten. Und trotzdem, ich weiß das, sind Fragen offengeblieben. Quälende Fragen auf die wir hoffentlich noch Antworten finden, aber auch quälende Fragen, auf die es vielleicht nie eine Antwort geben wird. Aber das Ziel aller Aufarbeitung muss doch klar sein: Wir wollen und wir können es in Zukunft besser machen! Und davon bin ich überzeugt.
Es ist wichtig, dass der Staat sich wehrhaft gegen Extremisten stellt. Aber es ist genauso wichtig, dass das Engagement der Bürgerinnen und Bürger dazu kommt. Ich bin froh, dass die Menschen in unserem Lande aktiv geworden sind, dass sie zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, um für ein friedliches, demokratisches Deutschland zu streiten und zu demonstrieren. Ein Deutschland in dem jeder gleich an Rechten und Würde ist. Und deshalb freue ich mich so, heute hier zu sein. Denn hier in der Keupstraße, das weiß ich, hat das Engagement Tradition. Schon vor zehn Jahren haben Sie dieses Fest zum ersten Mal ins Leben gerufen, und Sie haben damit auch klargemacht, dass Sie zusammenstehen: für ein Miteinander, für Respekt, für Zusammenhalt. Und das ist gut!
Denn die Demokratie wird im Kleinen verteidigt, im Alltag, es kommt dabei auf jede und jeden Einzelnen an. Es kommt darauf an, beim Streiten untereinander, beim Streit, der nicht zu vermeiden ist, den Respekt voreinander nicht zu verlieren. Es kommt darauf an, dort mitzutun, wo man etwas einbringen kann. Es kommt darauf an, „Stop!“ zu sagen, wo ein anderer seine Mitmenschen erniedrigt.
Und es kommt darauf an, dass wir Gewalt im politischen Meinungskampf ächten – ganz gleich, aus welchen Motiven sie sich speist: ob links- oder rechtsextremistisch oder aus religiösem Fanatismus! Gewalt zerstört Demokratie, und das wollen wir nicht!
Und das ist der ganze Grund, weshalb Demokratie nicht danach fragt, aus welcher Richtung Extremismus kommt – Extremismus, der der Demokratie ans Leder will! Sondern die Demokratie fragt nach der Kraft und der Solidarität der Mehrheit, die sie verteidigt! Und dabei ist eins doch ganz klar: Zusammen geht das leichter. Und deshalb nehme ich gerne die Botschaft dieses Tages hier aus der Keupstraße mit. Denn sie gilt für unser ganzes Land, und sie ist ganz schlicht. Diese Botschaft heißt: Wir sind mehr! Wir gehören zusammen! Wir halten zusammen! Birlikte! «
Quelle: Bulletin 54-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 11. Juni 2024