Veröffentlicht am: 03.08.2024 um 07:38 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Warschauer Aufstands
» „Das sind die Menschen Warschaus. Ein Volk, in dem solche Tapferkeit lebt, ist unsterblich. Denn jene, die starben, haben gesiegt, und jene, die leben, werden weiterkämpfen, werden siegen und wiederum Zeugnis dafür ablegen, dass Polen lebt, solange Polen leben.“ Diese bewegenden Sätze stammen aus einem der letzten Funksprüche zur Zeit des Aufstandes in der „heroischen Stadt Warschau“, wie Churchill in seinen Memoiren schreibt.
Ich bin tief bewegt davon, dass ich heute hier bei Ihnen sein kann, und darüber, dass Sie mich gebeten haben, als Präsident der Bundesrepublik Deutschland zu Ihnen zu sprechen. Ich weiß, das ist alles andere als selbstverständlich. Und ich versichere Ihnen: Mir ist es eine große Ehre.
Der Warschauer Aufstand gehört zu den grausamsten Kapiteln in der langen Geschichte, die unsere beiden Völker, die Polen und Deutsche miteinander teilen. Und er gehört zu den heldenhaftesten Kapiteln der polnischen Geschichte. Die Erhebung der Polnischen Heimatarmee gegen die deutsche Besatzungsmacht ist ein zentrales, hoch symbolisches und bis heute wirkmächtiges Ereignis der Geschichte Polens. Es steht beispielhaft für den Willen, sich zu behaupten, sich die Freiheit nicht kampflos nehmen zu lassen, für den Stolz, dem Aggressor die Stirn geboten zu haben.
63 Tage kämpfte die Heimatarmee gegen die deutschen Besatzer – gegen Besatzer, die Massenmorde an der Zivilbevölkerung begingen und die Stadt nach dem Aufstand fast vollständig zerstörten. Aber hier stehe ich heute, in Warschau, der Hauptstadt unseres Freundes und Nachbarn Polen. Und ich sehe und wir alle sehen: Warschau lebt! Wie es in dem Funkspruch damals hieß: „Das sind die Menschen Warschaus.“
Die spätere Freiheitsbewegung der 1980er Jahre in Polen, die Vorbild war für viele andere und die letztlich zur Freiheit in Mittel- und Osteuropa, auch zur Freiheit in der östlichen Hälfte meines Landes geführt hat, auch diese Freiheitsbewegung war von diesem Geist der Unbeugsamkeit inspiriert.
Sich der Gewalt, sich der Barbarei nicht widerstandslos zu beugen, die Ungerechtigkeit und den täglichen Terror nicht widerstandslos zu ertragen, sich dem Besatzer entgegenzustellen, die Heimat, die Familie, die Freunde zu schützen, für all das steht der Warschauer Aufstand – als einmaliges geschichtliches Ereignis und gleichzeitig als bleibendes leuchtendes Zeichen.
Vor der Tapferkeit, vor der todesmutigen Einsatzbereitschaft der Kämpferinnen und Kämpfer, vor dem unbedingten Willen zur Freiheit, zur Bewahrung der eigenen Würde, davor verbeuge ich mich heute mit dem größten Respekt. Sie, die polnischen Bürgerinnen und Bürger, haben den Warschauer Aufstand nie vergessen. Und Sie werden ihn nie vergessen. Wir, die Deutschen, in deren Namen ich hier heute zu Ihnen sprechen darf, wir dürfen ihn nicht vergessen.
Wir dürfen und wir werden nicht vergessen, welch unermessliches Leid wir Deutschen über unser Nachbarland gebracht haben, mit welcher Brutalität, mit welchem Vernichtungswillen die deutschen Besatzer gegen die gesamte Bevölkerung vorgegangen sind, nachdem sie am 1. September 1939 Polen überfallen hatten und dieses Land, seine Städte und Dörfer danach so schrecklich verwüstet haben. Noch heute sind, wie ich weiß, in vielen Familien hier in Polen das Leid und die Trauer im Gedächtnis. Sie wirken bis heute fort. Und sie sind ganz gegenwärtig.
Ich möchte mich heute an alle Polinnen und Polen wenden und besonders an die Veteraninnen und Veteranen, die Heldinnen und Helden des Warschauer Aufstandes, die hier vor mir sitzen. Verehrte Veteraninnen, verehrte Veteranen: Jedes Wort scheint zu schwach für dieses Grauen. Darum möchte ich nur einen Satz sagen. Er kommt aber ganz und gar von Herzen und ist ganz und gar ernst gemeint: Ich bitte, gerade heute und gerade hier, um Vergebung.
Es war deutscher Nationalismus, Imperialismus und Rassismus, der zu diesen grauenhaften Verbrechen geführt hat, gegen die sich Polen im Warschauer Aufstand gewehrt hat. So weit darf es nie wieder kommen! Deswegen kann der Blick in die Vergangenheit nicht folgenlos bleiben. Immer geht es darum, aus dem Vergangenen zu lernen für eine bessere Zukunft.
Ich bin sehr froh, dass wir, Deutsche und Polen, zu guten Nachbarn geworden sind. Es war ein langer Weg, der beiden Seiten nie leichtfiel. Wenn wir all das, was hinter uns liegt, betrachten, dann sind Annäherung und Aussöhnung, die stattgefunden haben, ja auch fast ein Wunder – ein Wunder, für das wir nur dankbar sein können.
Aber Aussöhnung und gute Nachbarschaft, das alles ist nicht vom Himmel gefallen und wird auch weiter nicht vom Himmel fallen. Nein, mir ist bewusst: Nicht nur der Kampf gegen die deutsche Besatzung verlangte Mut. Auch die Geschichte der Versöhnung mit den Deutschen verlangte Mut, auch hier in Polen. Ja, es brauchte und braucht dafür Menschen mit Mut, mit Weitsicht, mit Bereitschaft zur Verständigung. Und dazu braucht es auch Menschen, die die Kultur des Nachbarn kennen und wieder schätzen können, die wissen, welche besonderen Fähigkeiten, welche Träume, Hoffnungen und Erfahrungen den anderen prägen, aber auch welche Empfindungen, welche Ängste und welche Abneigungen.
Gerade hat die deutsche Regierung ein Konzept für ein Deutsch-Polnisches Haus in Berlin beschlossen – ein Ort des Gedenkens zur Erinnerung an polnisches Leid und an die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges, aber gleichzeitig auch ein Ort der Begegnung. Und neben dem Deutsch-Polnischen Haus ist vieles andere auf dem Weg, auch für die noch lebenden Opfer der deutschen Besatzung. Und Sie wissen, dazu stehen unsere beiden Regierungen im engen Austausch.
Im Herzen Europas haben Polen und Deutsche sich verpflichtet, miteinander und für unsere Freunde und Nachbarn solidarisch und friedensfördernd zu wirken. Und wir tun dies gemeinsam – bei der Sicherung unserer Grenzen und unseres Bündnisses und bei der Unterstützung der Ukraine. Ganz zentral ist dabei die Nato, der unsere beiden Länder angehören und die den Verbündeten Freiheit, Frieden und Wohlstand gesichert hat und weiter sichert. Gerade erst haben wir den 75. Gründungstag der Nato begangen.
Und die Europäische Union, sie ist das große Friedensprojekt, dem unsere ganze Energie und Leidenschaft gehören muss. Es stammt in seinen Ursprüngen noch aus der schrecklichen Erfahrung zweier Weltkriege, der deutschen Zerstörungswut, des Menschheitsverbrechens der Shoah, das die Deutschen vor allem auch hier in Polen begangen haben. Es geht aber in der Europäischen Union – 80 Jahre nach dem Krieg – nicht mehr nur um ein „Nie wieder“, denn der Krieg ist zurück in Europa, ein grausamer Angriffskrieg. Putin hat ihn zurückgebracht. Er will die Ukraine zerstören. Und er bedroht uns alle. Deshalb kommt es jetzt und in den kommenden Jahren auf eines an: Lasst uns geschlossen bleiben in Europa! Lasst uns stark sein! Lasst uns den Werten treu bleiben, die wir gemeinsam errungen haben: Freiheit, Demokratie und Recht!
Niemand in Europa kämpft in diesen Tagen so mutig und so heldenhaft wie das ukrainische Volk. Es kämpft um seine Freiheit und um seine Selbstbestimmung. Und es kämpft gegen einen brutalen und ruchlosen Aggressor. Wir, Polen und Deutsche, sind und bleiben solidarisch mit dem ukrainischen Volk. Wir unterstützen seinen heldenhaften Kampf. Und wir begleiten seinen Weg in die Europäische Union. Auch darauf verpflichtet uns der heutige Tag: Wir werden Unrecht und Unfreiheit, Angriff und Besatzung in Europa niemals wieder hinnehmen!
Liebe polnische Freunde, noch einmal verbeuge ich mich vor den Kämpferinnen und Kämpfern des Warschauer Aufstandes. Noch einmal bitte ich um Vergebung. Mögen unsere beiden Völker in einem friedlichen und geeinten Europa weiter an einer besseren Zukunft arbeiten. «
Quelle: Bulletin 72-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 2. August 2024