Veröffentlicht am: 04.07.2024 um 10:37 Uhr:
Bundesregierung: Rede der Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock, in der Vereinbarten Debatte zu 75 Jahren Europarat
» Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne!
„Die letzte Chance“ zur Rettung Europas: So beschrieb der damalige französische Außenminister Robert Schuman vor 75 Jahren die Gründung des Europarats. „Die letzte Chance“!
Als zehn Staaten den Traum von Versöhnung träumten, taten sie das auf den Trümmern, die Faschismus und Nationalismus in Europa hinterlassen hatten. Trümmer, für die unser Land verantwortlich war. Deswegen ist für mich als deutsche Außenministerin heute ein Tag tiefempfundener Dankbarkeit. Denn Deutschland, unser Land, ist in Europa und durch Europa als Demokratie erwachsen geworden. 19 Tage nach Gründung des Europarats trat unser Grundgesetz in Kraft, „von dem Willen beseelt“, wie es bekanntermaßen in der Präambel heißt, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.
Aber diese Verantwortung in Europa wahrnehmen zu können, hat Zeit gebraucht; denn eine Demokratie lässt sich nicht einfach durch Institutionen und durch eine Verfassung verordnen. Sie muss wachsen. Sie muss leben. Es sind mehr als 80 Millionen Menschen, die unsere Verfassung mit diesem Leben, mit Herz, mit Leidenschaft füllen. Freiheit und in Frieden, untereinander und vor allen Dingen mit unseren Nachbarn, die mittlerweile unsere Freunde sind. Sie tun das auf einem starken Fundament gemeinsamer Werte und Regeln, mit Institutionen wie eben dem Europarat, die uns dazu bringen, uns selbst als Demokratien immer wieder zu überprüfen, zu reflektieren; weil Demokratie eben nichts Statisches ist, sondern wie das Leben selbst immer weiterwächst.
Sie wächst durch Institutionen wie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, ein Gericht, vor dem fast 700 Millionen Menschen gegen ihre eigenen Staaten ihre Rechte einklagen können – ihre Menschenrechte, ihre Freiheitsrechte. Als dieser Gerichtshof 1959 errichtet wurde, war das eine Revolution; auch das dürfen wir nie vergessen. Denn darin spiegelte sich ein neues Verständnis im Verhältnis zwischen Staat und Individuum wider, die Überzeugung, dass jeder Mensch unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Religion die gleichen Rechte hat, dass ein Staat zur Rechenschaft gezogen werden kann – nicht nur, wenn er diese Rechte nicht achtet, sondern auch, wenn er für diese Rechte nicht aktiv eintritt.
Das ist die Kraft, die in den Instrumenten des Europarats – mittlerweile unseres Europarats – liegt und die im Übrigen – und auch das sollten wir, glaube ich, nicht vergessen, wenn wir über Werte und Rechte in diesen Zeiten sprechen – eine Kraft ist, die auch auf andere Länder ausstrahlt, die Institutionen wie den Europarat so attraktiv macht, wie zum Beispiel für Kosovo, die jüngste Demokratie Europas, die in unseren Europarat gehört.
Deshalb appellieren wir – und ich bin wirklich dankbar für die intensive Arbeit der demokratischen Parlamentarier und Fraktionen, die hier gemeinsam an einem Strang ziehen – an alle Beteiligten und an die Verantwortungsträger im Kosovo, alles dafür zu tun, dass wir die erforderliche Mehrheit für einen Beitritt bald erreichen.
Aber wir wissen auch – das gehört zur selbstkritischen Reflexion von Demokratien –: Unsere europäische Art, zu leben, die Werte unseres Europarats werden herausgefordert wie nie zuvor seit dem Ende des Kalten Krieges – von außen durch Autokraten wie Wladimir Putin, der den Eroberungskrieg zurück nach Europa gebracht hat, aber auch von innen mit Hass und einer Rückkehr von Vertretern des Völkischen, die Journalisten einsperren, Gerichte manipulieren wollen und gegen sogenannte „Fremde“ hetzen.
Wir sehen immer wieder, wie Hass in Gewalt umschlägt und wie sie jeden treffen kann. Auch wenn wir noch nicht alle Details des Anschlags auf den slowakischen Ministerpräsidenten kennen: Unsere Gedanken sind bei Robert Fico, bei seiner Familie und bei unseren slowakischen Freundinnen und Freunden. Wir werden als Demokratinnen und Demokraten Europas unsere europäische Demokratie verteidigen.
Die Autokraten von außen und die Demagogen im Inneren haben eines gemeinsam – Sie fühlen sich genau von diesen Sätzen offensichtlich immer angesprochen –: Sie halten unsere demokratischen Werte für eine Schwäche und schreien ständig dazwischen. Aber sie liegen falsch, liebe AfD, auch Sie mit diesen Zwischenrufen.
Was könnte stärker sein als das Versprechen, dass ein Mensch das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in Frieden und in Freiheit hat, egal woher er kommt? Dieses Versprechen ist stärker als Hass. Ja, auch liebe AfD, für dieses Versprechen steht unser Grundgesetz. Für dieses Versprechen steht unser Europarat seit 75 Jahren. Das ist ein Grund zur Freude, ein Grund zu tiefer Dankbarkeit und ein Grund, der uns verpflichtet.
Herzlichen Dank. «
Quelle: Bulletin 45-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 17. Mai 2024