Veröffentlicht am: 11.11.2024 um 19:24 Uhr:
Fotografie: Hat das Lästern jetzt ein Ende, Martin Parr?
» Mit Martin Parrs Bildern ist das wie mit dem Pantomimen in der Fußgängerzone, der unter dem Applaus seines Publikums die Gestik nichtsahnender Passanten imitiert. Man sieht ihm gerne zu, doch wehe, man wird selbst Opfer seines Spotts. Dieser blitzgescheite Fotograf ist in der Lage, jeden schlecht aussehen zu lassen. Martin Parrs Fotos zeigen uns die fiesen Momente im Leben: Wenn etwa der fette Bierbauch des Strandbesuchers ferkelrosa in der Mittagssonne glänzt. Wenn die faltige Visage der Millionärsgattin für einen Mikro-Augenblick verrutscht oder entspannte Freizeit-Relaxer nicht mehr erkennen, wie vulgär ihre Gewohnheiten sind, ist der Brite mit einem verschmitzten Lausbubenlächeln zur Stelle. Der Magnum-Star macht Aufnahmen zum Fremdschämen, Fotos für den Studienrat, der sich schon immer beim Bildungsurlaub über die doofen Pauschaltouristen aufregen konnte. Parrs Bild gewordener Zynismus offeriert schichtübergreifend eine bonbonbunte Gesellschaftskritik zum Konsumverhalten. Dabei lenkt ihn ein analytischer Geist, der die Menschen kühl analysiert und seziert. Letztlich macht Parr Bilder der Dekadenz unserer Konsumgesellschaft, zartbittere Misanthropen-Fotos mit unverkennbar schriller Ästhetik. Und gerade, als wir das Gefühl hatten, seine Lästerbilder zeigten gewisse Abnutzungserscheinungen, verordnete sich der Brite eine neue Identität und Kernkompetenz: als Fotobuchexperte, Autor und Sammler, der mit seinem Wissen um visuelle Erzählweisen weltweit nach den Perlen des derzeit explodierenden Büchermarktes fischt und seine Entdeckungen anderen Sammlern vorstellt. Gemeinsam mit dem Fotohistoriker Gary Badger gibt Parr die mittlerweile als Standardwerk anerkannte Buchreihe „The Photobook. A History“ im Phaidon Verlag heraus, die derart einflussreich ist, dass dortige Fotobuch-Erwähnungen die Marktpreise explodieren lassen. Mitte März erscheint der dritte und letzte Band dieses Fotobuchkanons, der sich zeitgenössischen Fotobildbänden widmet. Und Parr darf dieser Tage bei keinem besseren Fotobuchfestival als Gastreferent fehlen. Lästern ist längst kein wesentlicher Bestandteil seines Arbeitsalltags mehr. Der 61-jährige Bildermacher hat jetzt den Habitus eines „Grand Seigneur“ des Fotobildbandes. «
Quelle: Kolumne "Zollners Zeilen" im fotoMAGAZIN 4/2014