Veröffentlicht am: 08.09.2023 um 12:36 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur Verleihung des Verdienstkreuzes an Bundesminister a. D. Gerhart Baum
» „Ist es krankhafte Zerknirschung, die Frage sich vorzulegen, wie überhaupt noch in Zukunft ‚Deutschland‘ in irgendeiner seiner Erscheinungen es sich soll herausnehmen dürfen, in menschlichen Angelegenheiten den Mund aufzumachen?“
Lieber Herr Baum, als Sie diese Frage bei Thomas Mann in dessen „Doktor Faustus“ lasen, waren Sie ein junger Mensch, gerade mal 20 Jahre alt. Aber Sie hatten schon so viel erlebt, so viel Schreckliches gesehen. Sie hatten im Krieg die Bombennacht von Dresden durchstanden, da waren Sie zwölf. Sie waren mit Ihrer Mutter und Ihren Geschwistern durchs zerstörte Deutschland geflohen, hinunter nach Bayern, an den Tegernsee. Dort, in der Schule und noch mehr in der Freizeit, befassten Sie sich intensiv mit den Verbrechen des Naziregimes. Aber Ihre Lehrer verboten Ihnen, an die Widerstandskämpfer des 20. Juli zu erinnern – mit der ungeheuerlichen Begründung, diese hätten den Eid auf den Führer gebrochen.
Wenn man als junger Mensch all diese Erfahrungen gemacht hat, stellt man sich natürlich Fragen wie die in Doktor Faustus: Wie sollte dieses Land jemals wieder an seine „andere“ Geschichte, an Kultur und Humanismus anknüpfen können? Wie sollte dieses Land jemals wieder ein Teil der Staatengemeinschaft sein? Und wie sollte es dieses Land schaffen, sich vom faschistischen und rechtsextremen Gedankengut zu befreien?
Aber es war schon damals nicht Ihre Art, einfach nur Fragen zu stellen. Nein, im Alter von gerade mal 20 Jahren fassten Sie am Neujahrstag 1953 den Mut, einen Brief an den Literaturnobelpreisträger Thomas Mann zu schreiben. Und Sie erhielten sogar eine Antwort! Thomas Mann schrieb Ihnen, wie sehr er sich darüber freue, junge, politisch denkende Menschen im Nachkriegsdeutschland mit seinen Gedanken zu erreichen.
Lieber Herr Baum, Sie haben sich mit Ihrer festen Überzeugung, ein anderes Deutschland aufzubauen und zu prägen, über lange Jahre für Bürgerrechte, für Menschenrechte, für den Kampf gegen Extremisten und für Ihr Herzensthema Kultur eingesetzt. Dafür darf ich Sie heute mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern auszeichnen. Und ich meine: Mit diesem mannigfaltigen Engagement haben Sie eine Antwort auf die Frage in „Doktor Faustus“ gegeben, ob Deutschland jemals wieder in menschlichen Angelegenheiten „den Mund aufmachen“ könne. Ja, ein modernes, liberales, demokratisches Deutschland kann das – und muss es sogar!
„Ich wusste mit meinen Erfahrungen als Deutscher, was ein Unrechtsstaat bedeutet. Ich wusste, was demokratische Freiheit bedeutet, und spürte eine Verpflichtung denen gegenüber, die sie nicht hatten.“ Dieses Zitat stammt nicht aus „Doktor Faustus“, sondern aus Ihrem Buch, das Sie vor zwei Jahren geschrieben haben. Und ich finde, man spürt in diesen Zeilen des 88-jährigen Mannes immer noch das Drängen und das Wollen des 20-Jährigen. Sie schrieben auch: „Wir Deutsche müssen Verbündete der Unterdrückten sein.“ Und genau das sind Sie, lieber Herr Baum. Sie sind ein Verbündeter der Unterdrückten.
Vor 30 Jahren, 1993, führten Sie die deutsche Delegation für die Weltmenschenrechtskonferenz in Wien an, bei der es um nichts weniger ging als darum, die Staaten weltweit auf den Schutz der Menschenrechte zu verpflichten. Geografisch damals nur unweit entfernt von Krieg und Gewalt auf dem Balkan setzte die Konferenz auch dank Ihrer Verhandlungskünste ein „Zeichen für die Menschlichkeit“, wie es Ihr französischer Counterpart, der damals bereits legendäre Stéphane Hessel nannte. Sie verhandelten aber nicht nur in Wien, sondern arbeiteten überall auf der Welt daran, die Menschenrechte auch wirklich umzusetzen – denn was nützt die beste Erklärung, wenn sie keine Wirkung entfaltet? Sie waren im Sudan und in Kolumbien unterwegs, immer im intensiven Kontakt mit Menschenrechtsanwälten, Journalisten, Fraueninitiativen und natürlich Politikern – und immer mit der Maxime, den Schutz der Freiheit und der Menschenrechte voranzubringen.
In diesem Jahr feiern wir das 30-jährige Jubiläum der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien und das fünfundsiebzigjährige Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung war damals, 1948, ein Signal an die Welt: Ein Zeichen der Zuversicht und Hoffnung für die Menschen, deren Gegenwart nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern lag.
Und heute? 75 Jahre nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung werden die Menschenrechte mitten in Europa wieder mit Füßen getreten, durch einen Krieg, einen brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Russland will die unabhängige Ukraine vernichten, und seit inzwischen mehr als 500 Tagen kämpfen Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer für ihre Freiheit, für ihre Selbstbestimmung. Ihr Großvater, lieber Herr Baum, stammte aus der heutigen Ukraine. Und die Bilder dieses Krieges, so haben Sie es sehr eindringlich formuliert, diese Bilder wecken in Ihnen Erinnerungen an die grausame Bombennacht von Dresden.
Aus Ihren Erfahrungen der NS-Diktatur, aus dem eigenen Erleben von Unfreiheit und staatlicher Unterdrückung ist Ihr Lebensthema entstanden: die Leidenschaft für die Freiheit und für den Diskurs. „Diskurs ist das Lebenselixier der Demokratie“, schrieben Sie in Ihrem Buch „Freiheit“, das ich vorhin schon kurz zitiert habe. In einer freiheitlichen Demokratie kann es nie nur eine Meinung geben – sonst ist es eine Diktatur, sonst ist es Unfreiheit. Wir brauchen Meinungsvielfalt, und wir brauchen den politischen Streit um den besten Weg.
Und Sie haben für Ihre Sache gestritten, lieber Herr Baum: Als Sie 1979 als Innenminister die Regelanfrage beim Verfassungsschutz abschafften, waren Sie, so würde man es wahrscheinlich heute bezeichnen, einem regelrechten Shitstorm ausgesetzt. Ähnlich erging es Ihnen, als Sie ergründen wollten, woher der Terror der Roten Armee Fraktion rührte, und am Buch „Der Minister und der Terrorist“ mitwirkten. Da hatten Sie gleich die nächste – vermutlich von Ihnen einkalkulierte – Debatte der Entrüstung entfacht. Aber Sie waren immer der Überzeugung: Ohne Diskurs lässt sich eben ein Land nicht verändern.
Und dafür waren Sie in die Politik gegangen: das Land zu verändern mit einer neuen Deutschlandpolitik, einer neuen Ostpolitik, einer neuen Innenpolitik. Für Sie durfte es keinen Gegensatz geben zwischen den Anforderungen der Inneren Sicherheit in Zeiten des Terrorismus einerseits und den Freiheitschancen des Einzelnen, wie Sie es in Ihrer Antrittsrede als Bundesminister sagten. Eine demokratische Gesellschaft kann und muss mit Bedrohungen umgehen, ohne dabei in Unfreiheit zu verfallen. „Das Böse ist durch das Gute überwindbar“, so formulierten Sie Ihre Handlungsmaxime zuletzt.
Als Innenminister hatten Sie ein riesiges Ressort – Sie waren qua Amt auch für Kultur und Umwelt zuständig, und beide Themen haben Sie mit aus heutiger Sicht bemerkenswerter Weitsicht und großer Leidenschaft bearbeitet. Ihr Freiheitsbegriff war eben nie auf die Innenpolitik beschränkt. Es ging Ihnen immer um mehr als nur die „Freiheit von“ – von Unterdrückung, von Gewalt, von Diktatur. Es ging Ihnen auch um die „Freiheit zu“ – die Freiheit jedes Bürgers und jeder Bürgerin, sich zu entwickeln, eine soziale Absicherung zu haben, Zugang zu Kunst und Kultur zu haben.
Bis heute sind Sie ein Vorkämpfer geblieben: für Bürgerrechte, Menschenrechte, Kultur, Datenschutz, Grundrechte in der digitalen Welt. Mit Ihren Themen waren Sie zu jeder Zeit auf der Höhe der Zeit.
Für eine Sache bin ich Ihnen persönlich und ist Ihnen auch unser Land dankbar: Im vergangenen Jahr haben Sie mitgeholfen, dass wir 50 Jahre nach dem grausamen Attentat auf die israelische Olympiamannschaft in München gemeinsam der Opfer würdig gedenken konnten. Über viele Jahre hatten sich die Familien der Opfer von der deutschen Politik vergessen, verdrängt und verschwiegen gefühlt. Beinahe wäre kein gemeinsames Gedenken in Fürstenfeldbruck möglich gewesen, weil die Verhandlungen über die Entschädigung zwischen dem deutschen Staat und den Hinterbliebenen nach vielen Bemühungen immer wieder festgefahren waren. Als kurzfristig hinzugezogener Anwalt haben Sie, lieber Herr Baum, dann entscheidend zu einer Einigung beitragen. Dafür danke ich Ihnen wirklich von Herzen.
Er kann streiten, bis seine Gegner vom Stuhl fallen, schrieb Heribert Prantl im vergangenen Jahr über Sie, zu Ihrem 90. Geburtstag. Und so ist es auch: Sie schonen weder sich noch diejenigen, mit denen Sie diskutieren. In den Erinnerungen von Günter Verheugen habe ich gelesen, dass Sie beide einmal auf einer Heimfahrt von einem FDP-Parteitag so erschöpft vom vielen Diskutieren waren, dass Sie ein Nickerchen auf dem Standstreifen der Autobahn einlegen mussten, in Ihrem leicht ramponierten Ford.
Erst vor wenigen Wochen haben Sie unglaubliche fünfeinhalb Stunden mit den zwei Moderatoren eines Podcasts debattiert – und ganz ehrlich: Mein Eindruck war, dass Ihre Gegenüber, obwohl deutlich jünger als Sie, auch nicht viel länger durchgehalten hätten, im Gegensatz zu Ihnen.
Selbst Ihren langjährigen politischen Freund und Mitstreiter Burkhard Hirsch lernten Sie, wie ich gelernt habe, durch eine Auseinandersetzung kennen: Als dieser Ende der 50er Jahre ein Ausschlussverfahren gegen Sie bei den Jungdemokraten vertreten hat, war er auf der Gegenseite. Das Verfahren verlief dann allerdings im Sande – und ich glaube, darüber war Burkhard Hirsch genauso froh wie Sie, prägten Sie danach doch gemeinsam ganz entschieden das sozialliberale Profil der FDP.
Ihr politisches Leben, lieber Herr Baum, zeigt uns, dass politische Kontroversen in unserem Land schon immer hart geführt wurden: CDU und CSU forderten wiederholt Ihren Rücktritt als Bundesinnenminister, und in den gemeinsamen Regierungszeiten von Union und FDP bezeichnete Franz Josef Strauß Sie und Burkhard Hirsch als notorische Koalitionsstörer. Bei aller Härte war in diesen Auseinandersetzungen aber klar: Hier debattieren Demokraten untereinander, streiten um politische Positionen. Aber wir erleben derzeit eine Veränderung in der politischen Kultur. Zu viele streiten nicht mehr um den richtigen Weg innerhalb unserer Demokratie, sondern mobilisieren gegen „die Politik“, gegen demokratische Institutionen und ihre Repräsentanten.
Vor allem in den sozialen Medien beschränkt sich die Farbskala der Debatten mehr und mehr auf Schwarz und Weiß, alles wird zu einer Frage von Sieg oder Niederlage, von Verrat oder Treue. Wenn das in dieser Dynamik weitergeht, wird es nicht gutgehen. Das vernünftige Dazwischen, das braucht in einer demokratischen Debatte seinen Platz. Die Demokratie verträgt keinen finalen Knockdown. Sie ist sich immer der Vorläufigkeit ihrer Antworten bewusst und ist die einzige Regierungsform, in der Korrektur von Entscheidungen ohne fundamentale Verwerfungen in der Gesellschaft möglich ist. Abwägen und Aushandeln von Kompromissen sind nicht verwerflich oder systemfremd, sondern vorgesehen. Ausgleich und Balance gehören zur Demokratie! Eine Kontroverse dagegen, in der Zwischentöne keinen Platz mehr haben, in der Unversöhnlichkeit geschürt wird, eine solche Kontroverse schadet der Demokratie. Ohne Zwischentöne, ohne das Verbindende kann Gesellschaft nicht zusammenhalten. Denn Zusammenhalt entsteht, wenn wir uns miteinander verständigen – und uns nicht eigene Identitäten einander gegenüberhalten und eine Gesellschaft fragmentieren.
Wenn es in Debatten nur noch ums Gewinnen geht, dann verlieren wir alle. Wenn wir uns den politischen Diskurs von denen zerstören lassen, die am liebsten gar keinen Diskurs hätten, dann lassen wir zu, dass unsere Demokratie zerstört wird. Den zivilisierten politischen Streit in unserer Gesellschaft zu verteidigen, das ist die gemeinsame Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten!
Lieber Herr Baum, auf die Frage „Was wird im Alter besser?“ gaben Sie vor einiger Zeit eine typische Gerhart-Baum-Antwort. Sie sagten: „Das Leben wird intensiver. Die Zeit ist begrenzt, man sortiert aus. Was ist wichtig? Was musst du noch wissen? Viel Überflüssiges, die Zeiträuber, schmeiße ich raus.“ Und ich finde, da war er wieder zu hören, der drängende und, wie ihre Frau sagt, etwas ungeduldige, wissensdurstige 20-Jährige.
Sie warten nicht gerne, das wissen wir alle, und darum will ich Sie jetzt nicht noch länger warten lassen, sondern darf Sie nunmehr für Ihre vielfältigen Verdienste um unser Land mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern auszeichnen. Herzlichen Glückwunsch! «
Quelle: Bulletin 84-1 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 25. Juli 2023