Veröffentlicht am: 28.11.2023 um 13:08 Uhr:

Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei der Ordensverleihung zum Tag der Deutschen Einheit

Bei der Ordensverleihung zum Tag der Deutschen Einheit hat Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier am 9. Oktober 2023 in Berlin folgende Rede gehalten...

» Das sollte heute eigentlich ein ganz schöner und unbeschwerter Tag für Sie werden! Und mein Wunsch ist das auch weiterhin. Aber Sie haben Verständnis, wenn ich mit Blick auf die Lage im Nahen Osten diese Veranstaltung mit einigen nachdenklichen Worten eröffne. Denn während wir hier sitzen, weinen in Israel Familien um ihre ermordeten Angehörigen und Freunde, ringen Hunderte Schwerverletzte in Krankenhäusern um ihr Leben, bangen verzweifelte Familien um das Schicksal der verschleppten Geiseln.

Der bestialische Terrorangriff erschüttert uns alle. Die Hamas ist mordend und brandschatzend in Israel eingedrungen, sie tötet und entführt unschuldige Zivilisten – Junge, Alte, Männer und Frauen. Es ist kaum in Worte zu fassen, was die Menschen in Israel derzeit erleiden. Ausgerechnet an Simchat Tora, dem hohen jüdischen Feiertag, hat die Hamas diesen perfiden Terror nach Israel getragen. Hunderte fröhliche junge Leute, die ausgelassen und friedlich im Süden des Landes bei einem Musikfestival zusammengekommen waren, wurden grausam überfallen und mindestens 260 von ihnen regelrecht abgeschlachtet. Junge Menschen, die ihr Leben noch vor sich hatten. Wir alle haben Bilder gesehen. Bilder, die nicht zu ertragen sind.

Unsere volle Solidarität gilt unseren angegriffenen israelischen Freunden; wir nehmen Anteil an den vielen Toten und Verletzten; wir sind in Gedanken bei denen, die noch immer um Leib und Leben fürchten, die nicht wissen, wo ihre Töchter, Brüder oder Großmütter sind. Am Samstag, wenige Stunden nach dem Angriff, konnte ich mit dem israelischen Präsidenten Herzog telefonieren. Wir kennen uns beide lange, sind uns nahe und waren bei den nicht wenigen Krisen im Nahen Osten immer im Kontakt. Aber so erschüttert habe ich den Freund und Kollegen noch nie erlebt.

Israels Sicherheit war nie selbstverständlich, musste immer verteidigt werden. Das galt seit der Gründung vor 75 Jahren, das gilt gerade jetzt und auch in den kommenden Wochen. Israel hat den Kriegszustand verhängt und muss sich mit aller Kraft gegen Terror verteidigen. Und Israel hat ein Recht darauf, sich selbst und sein Volk zu verteidigen. Dies hat gestern der amerikanische Präsident Biden noch einmal öffentlich bekräftigt.

Aber auch wir hier in Deutschland müssen nun besonders wachsam sein. Wir müssen das jüdische Leben in unserem Land schützen und uns stark und entschlossen gegen jede Form von Antisemitismus und Israelhass stellen. Wir können es nicht dulden, wenn auf offener Straße versucht wird, die brutalen Attacken auf Israel auch noch zu feiern. Wer diesen Terror bejubelt, der entwürdigt nicht nur die Opfer, der tritt auch die Menschenwürde und unsere deutsche Verfassung mit Füßen. Solches Verhalten entsetzt mich, es widert mich an.

In dieser schweren Zeit steht Deutschland fest an der Seite Israels. Darauf kann sich das israelische Volk, und darauf können sich auch Jüdinnen und Juden in Deutschland verlassen.

Meine Damen und Herren, liebe Gäste, in Gedenken an die Opfer, möchte ich Sie bitten, sich für eine Schweigeminute vom Platz zu erheben.

Es ist nicht leicht, nun zu dem überzugehen, was uns heute hier zusammengeführt hat – eine Ordensverleihung zum Tag der Deutschen Einheit.

Heute ist der 9. Oktober, manch einer könnte sagen, wir sind, was den Einheitsfeiertag angeht, auch ein bisschen spät dran. Aber dennoch ist der 9. Oktober ein guter Tag, um an das Wunder der Friedlichen Revolution und der Deutschen Einheit zu erinnern. Der 9. Oktober 1989 war so etwas wie ein Schlüsselmoment der Friedlichen Revolution, und dass wir seit 33 Jahren die Deutsche Einheit feiern können, das verdanken wir nicht zuletzt jenen mutigen Bürgerinnen und Bürgern, die am 9. Oktober 1989 in Leipzig auf die Straßen gingen und friedlich protestierten. Einen Monat später war die Grenze offen und die Geschichte auch.

Die Einheit nach außen, sie war zügig hergestellt – Grenzen und Schlagbäume fielen, dafür gab es bald eine gemeinsame Währung, gemeinsame Wahlen, gemeinsame Wirtschaft.

Damit die Einheit auch nach innen gelingt, damit dieses Land zusammenkommt, dafür braucht es damals wie heute Empathie, Offenheit, ehrliches Interesse am Anderen – und zwar längst nicht mehr nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Stadt und Land, Älteren und Jüngeren, zwischen jenen, die schon lange hier leben und denen, die neu hinzukommen.

Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft bleibt eine Aufgabe – erst recht angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen wir stehen: Digitalisierung, Dekarbonisierung und demografischer Wandel werden unser Leben deutlich verändern. Vor uns liegen intensive Jahre, in denen wir unsere Emissionen reduzieren, die Wirtschaft und den Verkehr modernisieren, unsere Verwaltung und Behörden digitalisieren müssen. Alte Jobs werden weniger, neue entstehen. Was wir erleben, sind auch Brüche mit dem Gewohnten, eine Zeit der Veränderungen und Möglichkeiten, aber eben auch eine Zeit der Verunsicherung und Sorge.

Um in dieser Zeit zu bestehen und als Gesellschaft zusammenzubleiben, müssen wir alles dafür tun, dass jeder Mensch eine Perspektive hat. Dass sich Chancen eröffnen und Neues entsteht. Es darf keine Rolle spielen, woher man kommt, wo man wohnt, an was man glaubt, es darf keine Rolle spielen, welches Einkommen die Eltern haben: Wir brauchen die besten Talente, die besten Ideen, die unser Land zu bieten hat. Und dafür brauchen wir vor allem Eines: gute Bildung. Gute Bildung ist zentral für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes, weil sie Chancen ermöglicht und Teilhabe schafft. Wir sind eine Wissensgesellschaft, und unsere Ressourcen heißen: Bildung, Forschung und Entwicklung, unser Standortvorteil ist die Demokratie.

Umso mehr freue ich mich, heute Menschen auszeichnen zu dürfen, die oftmals unter schwierigen Rahmenbedingungen das Beste für ihre Schülerinnen und Schüler erreichen. Die nicht nur über Missstände klagen oder darauf warten, dass andere etwas tun, sondern die selbst Dinge ganz praktisch verbessern: sei es im Bereich Inklusion, bei der Integration, der Elternarbeit, der Talentförderung, als Schülervertretung oder – passend zum heutigen Tag – bei der Vermittlung von Regionalgeschichte im ehemaligen innerdeutschen Grenzgebiet. Sie alle, liebe künftige Ordensträgerinnen und Ordensträger, zeigen: Schule ist eben auch die Schule der Demokratie!

Ich freue mich auch, heute Engagierte auszuzeichnen, die junge Menschen jenseits der Klassenzimmer unterstützen und Kindern und Jugendlichen zum Beispiel mit ihrer Arbeit als Künstlerinnen und Künstler Zugang zum Lesen, zur Sprache und zur Musik ermöglichen. Bildung findet auf vielen Ebenen statt: bei Hausaufgabenhilfe und Sprachförderung für Kinder aus Zuwandererfamilien; in Präventionsprogrammen zur psychischen Gesundheit oder als Angebot für junge Menschen, die auf der Straße leben. Gute Bildung ist nicht alleine die Aufgabe engagierter Lehrerinnen und Lehrer. Sie bleibt eine gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe.

Sie alle wissen, dass gute Bildung so viel mehr ist, als die bloße Vermittlung von Wissen. An Informationen zu kommen, war ja nie einfacher als heute: Suchmaschinen bewältigen täglich mehrere Milliarden Anfragen. Das Internet ist voller Informationen, aber natürlich auch voller Desinformation. Die Freiheit des Wissens ist eben keine Versicherung gegen Ignoranz, Intoleranz, Rassismus und gesellschaftliche Spaltung, sie schützt nicht vor Enge in den Köpfen. Gute Bildung heißt daher auch: Haltung und demokratische Werte vermitteln.

Ob bei der Unterstützung benachteiligter Jugendlicher, der Integration Geflüchteter, ob als Gründer einer Hilfsorganisation oder Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes: Sie, meine Damen und Herren, Sie halten durch Ihr gesellschaftspolitisches Engagement, Ihr humanitäres Wirken, unsere gemeinsamen Werte hoch. Sie alle füllen unsere Demokratie mit Leben, und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar.

So wichtig Ihr Engagement ist, liebe künftige Ordensträgerinnen und Ordensträger, so wenig dürfen wir uns als Gesellschaft darauf ausruhen. Wir müssen jenen den Rücken stärken, die uns den Rücken stärken! Und es braucht eine gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern, damit gute Bildung nicht nur vom Engagement Einzelner abhängt. Die kürzlich erfolgte Einigung von Bund und Ländern über die Eckpunkte des Startchancenprogramms ist ein Schritt in die richtige Richtung für mehr Bildungsgerechtigkeit und ein gutes Zeichen für die dringend notwendige Zusammenarbeit aller Ebenen.

Sie alle leisten einen wichtigen Beitrag zu zentralen Herausforderungen unserer Zeit, ob forschend zu Bildungsgerechtigkeit oder mahnend beim Kampf gegen den Klimawandel. Sie führen uns vor Augen, welche Konsequenzen es für den Zusammenhalt und die innere Einheit des Landes hat, wenn wir bei den drängenden Zukunftsfragen nicht gemeinsam handeln. Sie alle sind leuchtende Beispiele dafür, dass Engagement, gerade im Bereich der Bildung, den Zusammenhalt stärkt.

Für die innere Einheit unseres Landes braucht es heute wie vor 33 Jahren Empathie, Offenheit und ehrliches Interesse am Leben und den Erfahrungen der anderen. Es braucht Menschen wie Sie! Sie geben unterschiedlichsten Menschen eine Chance! Sie lassen niemanden zurück! Sie alle sind Vorbilder. Und dafür danke ich Ihnen von Herzen!

Und weil das so ist, freue ich mich jetzt darauf, Ihnen Ihre Auszeichnungen überreichen zu dürfen, und danke Susanne Daubner, dass sie heute hier ist und erneut durch die Verleihung führt. «


Quelle: Bulletin 109-2 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 10. Oktober 2023

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