Veröffentlicht am: 16.11.2024 um 03:45 Uhr:
Bundesregierung: Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier bei einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 80. Jahrestags des NS-Massakers von Marzabotto
» Die Worte werden klein an diesem Ort. Sie reichen nicht aus, um zu beschreiben, was hier am Monte Sole vor 80 Jahren geschehen ist – so viel Grausamkeit, so viel Qual, so viel Trauer, so viele Menschen, deren Leben hier ausgelöscht wurde. Es war bestialisch, wie die deutschen Truppen, Mitglieder der 16. SS-Panzergrenadierdivision „Reichsführer-SS“, hier wüteten. Unterstützt von der Wehrmacht wollten sie Rache nehmen für den Widerstand der Partisanen der „Stella Rossa“.
Aber es ging ihnen um viel mehr als Rache. Es trieb sie der Wille zur Vernichtung. Die SS-Männer mordeten in jenen Tagen im Herbst 1944 wie in einem Blutrausch. Sie sperrten die Menschen in Häusern ein und warfen Handgranaten hinein, brannten Ställe, Wohnhäuser, Kirchen, Kapellen nieder. Sie kannten kein Erbarmen, keine Menschlichkeit, nicht einmal für Frauen, Priester, betagte Männer – und auch nicht für Kinder, so viele Kinder.
Fünf Tage sollte das Morden dauern. Es waren fünf Tage in der Hölle. 771 Menschen waren tot, als die Deutschen abzogen, darunter mehr als 300 Frauen und mehr als 200 Kinder, sogar Säuglinge. Das Massaker von Marzabotto war das grausamste aller Verbrechen, die deutsche Truppen in Italien während des Zweiten Weltkrieges begangen haben.
Es ist ein schwerer Weg, als deutscher Bundespräsident an diesen Ort des Grauens zu kommen und zu Ihnen zu sprechen. Aber ich bin zutiefst dankbar für Ihre Einladung, verehrte Bürgerinnen und Bürger von Marzabotto und den umliegenden Gemeinden. Und ich danke Ihnen, lieber Präsident Sergio Mattarella, dass wir auch heute gemeinsam diesen Weg gehen, dass wir nach Ihrem Staatsbesuch bei uns in Deutschland gemeinsam hierhergereist sind. Heute stehen wir hier vereint in Trauer, vereint aber auch in tiefer Freundschaft.
Fivizzano, Marzabotto, die Fosse Ardeatine, Sant’Anna di Stazzema, Civitella – an all diesen Orten haben die NS-Truppen in Italien in ihrem Hass und ihrer Verblendung unmenschliche Verbrechen verübt. Sie stehen für viele andere Orte, die weniger bekannt sind, die vor allem in Deutschland kaum bekannt sind. Auch deshalb bin ich heute hier. Als deutscher Bundespräsident stehe ich heute vor Ihnen und empfinde nur Trauer und Scham. Ich verneige mich vor den Toten. Ich bitte Sie im Namen meines Landes heute um Vergebung. Die Opfer und Sie, die Nachfahren und Angehörigen, Sie haben ein Recht auf Erinnerung. In Ihren Familien lebt die Erinnerung, lebt der Schmerz, das Grauen fort – ich habe das gerade im Gespräch mit einigen von Ihnen gehört. Was Sie mir erzählt haben, hat mich sehr bewegt. Die ganze Gegend hier am Monte Sole trägt bis heute tiefe, sichtbare Narben. Und ich weiß: Der Schmerz ist noch größer, weil die meisten Verbrechen nie gesühnt wurden. Das ist die zweite Schuld, die wir Deutschen auf uns geladen haben.
Liebe Angehörige, liebe Nachfahren, dass ich heute hier sprechen darf, das ist nur möglich, weil Sie alle uns Deutschen Versöhnung gewährt haben. Welch riesiges, kostbares Geschenk ist das! Diese Versöhnung, die leben Sie hier in Marzabotto und den umliegenden Dörfern ganz konkret: in Ihrer Friedensschule, im engen Austausch mit jungen Leuten aus Deutschland, in der Partnerschaft mit Bremen-Vegesack und der Internationalen Friedensschule dort. Lieber Ekkehard Bohne, lieber Gunnar Sgolik, verehrte Patrizia Zanasi, verehrter Professor Carlo Gentile und Sie, die Menschen hier am Monte Sole, Sie alle setzen sich dafür ein, dass wir die Erinnerung bewahren und – besonders wichtig –: Sie tragen sie weiter an junge Menschen. Und dafür danke ich Ihnen. Dass die Jungen um die Vergangenheit wissen, das ist umso wichtiger, als es nur noch wenige Zeitzeugen gibt. Auch deshalb ist mir wichtig, dass wir den Deutsch-Italienischen Zukunftsfonds haben, der die Erinnerung weitergibt an die junge Generation.
Denn wir müssen uns erinnern. Das schulden wir den Opfern und Ihnen, den Nachfahren und Angehörigen. Erzählen müssen wir. Das ist eine Pflicht gegenüber den Gefährten, die nicht heimgekehrt sind, und eine Aufgabe, die unserem Überleben Sinn verleiht. So sagte es der große Primo Levi, selbst ein Überlebender des NS-Terrors. Uns zu erinnern, damit nicht wieder geschieht, was einmal geschehen ist, das ist das Vermächtnis Primo Levis‘. Das ist die Verantwortung vor unserer Geschichte – gerade für uns Deutsche. Und diese Verantwortung kennt keinen Schlussstrich. Daran möchte ich ganz bewusst an diesem Tag des Gedenkens alle Deutschen erinnern.
Daran möchte ich auch deshalb ganz bewusst erinnern, weil wir in einer Zeit leben, in der auch in meinem Land nationalistische und rechtsextremistische Kräfte erstarken, Kräfte, die die Demokratie schwächen oder aushöhlen wollen – ausgerechnet in meinem Land. Mich sorgt das. Aber es macht mich auch entschlossen. Unsere Verantwortung ist heute wieder größer als in vielen Jahren zuvor: einzutreten und zu kämpfen für die Werte, auf denen unser geeintes Europa, unsere Demokratien gründen. Europa hat nur dann eine friedliche Zukunft, wenn wir Deutschen diese Verantwortung vor der Geschichte niemals vergessen und sie verteidigen – nie wieder! Das ist der moralische Imperativ, der uns jetzt und in alle Zukunft leiten muss. Er ist Mahnung und Auftrag zugleich.
Ich als deutscher Bundespräsident verspreche Ihnen: Ich werde alles dafür tun, dass wir Deutschen dieser Verantwortung und dem Geschenk der Versöhnung gerecht werden. Ich werde dafür jeden einzelnen Tag kämpfen. Dass ich Sie alle, dass ich Sie, lieber Präsident Mattarella, als überzeugten Europäer dabei an meiner Seite weiß, das gibt mir Hoffnung. Unsere beiden Länder wissen, dass die Demokratie, einmal errungen, nie selbstverständlich ist. Wir wissen, dass Freiheit und Demokratie geschützt und verteidigt werden müssen, dass überzogener Nationalismus zu Krieg führt. Gehen wir also unseren Weg der Versöhnung und der Freundschaft weiter in eine gute Zukunft für unsere Kinder und Enkel in einem starken, geeinten, demokratischen Europa.
Es sind die Kinder, die in der Lage waren, an eine bessere Welt zu glauben und jeden Tag dafür zu kämpfen, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Das schreibt Anna Rosa Nannetti, ebenfalls eine Überlebende des Massakers, über die Kinder von Marzabotto. Sie hat ihnen ein berührendes schriftliches Denkmal gesetzt, den Kindern, die überlebt hatten. Dieser Satz ist ein Auftrag an uns. Glauben wir an eine bessere Welt. Kämpfen wir jeden Tag gemeinsam dafür, sie Wirklichkeit werden zu lassen! «
Quelle: Bulletin 89-3 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 1. Oktober 2024